Wie wollen wir sitzen?
Zur Lektüre in der Deutschen Nationalbibliothek Leipzig (DNB) sind dem Nutzer gleich mehrere Möglichkeiten von Leseräumen geboten. Der älteste und größte ist dabei der Geisteswissenschaftliche Lesesaal – direkt gegenüber dem Haupteingang des Gebäudes. Doch lässt sich in ihm auch am besten sitzen und arbeiten?
In den 1950er Jahren noch als Lesesaal für „Professoren, Benutzer mit Schreibmaschinen od. Arbeitszirkel“ vorgesehen, ist sein Publikum heute denkbar gemischt. Hier werden fleißig Hausarbeiten geschrieben, hastig die neusten Zeitschriften durchblättert oder wahlweise inspiriert an Ludwig von Hofmanns Wandgemälde der Westseite oder resigniert an die weiße Wand der Ostseite gestarrt. Nur noch selten findet man hier Leser*innen, die sich einen gemeinsamen Tisch teilen.
Genug Platz ist heute an diesem sonnigen Donnerstagnachmittag vorhanden. Auffällig ist jedoch die starke Orientierung der Leserschaft an die Ränder der Tischreihen: Sich nur nicht durch die Reihen durchzwängen und wohlmöglich noch jemandem in seiner Konzentration stören. Beliebt sind auch besonders die letzten Reihen. So hat man einen guten Blick auf das Treiben des Saales, das ruhig zur seichten Ablenkung ein bisschen belebt sein darf. Aber bloß nicht zu sehr, damit es nicht von der eigentlichen Beschäftigung ablenkt.
Die Entwerfer des Saales hatten eingehende Studien in deutschen, britischen sowie französischen Bibliotheken vorgenommen, um für Leipzig die perfekte Synthese der unterschiedlichen Konzepte vorzunehmen. Die Bibliothèque Nationale in Paris? Ganz nett – müssen sie bei ihren Reisen gedacht haben. Nur furchtbar düster und stickig muss es ihnen vorgekommen sein. So wurde beim Entwurf des neuen Lesesaales in Leipzig großen Wert auf eine gute Beleuchtung und auf die Versorgung mit ausreichend frischer Luft gelegt, die durch die sechzehn rechteckigen hohen Fenster der Nordwand garantiert sind. Der 27m lange Balkon dieser Wandseite sollte ursprünglich zu Erholungszwecken zu einer idyllischen Gartenfläche ausgerichtet sein. Heute lässt sich hier die Straßenbahnlinie 2 alle zwanzig Minuten auf ihrer Fahrt nach Meusdorf oder auch Grünau-Süd beobachten: Die Großstadtidylle, von der alle Zugezogenen immer träumen.
Aber auch bei den Sitzmöbeln des Lesesaals sind aus der Perspektive von 1916 „mancherlei Neuheiten“ ausprobiert worden, um die Qualität des Arbeitens zu steigern. Die dunkelgebeizten Kiefern- bzw. Eichenholztische bieten jeweils einen Arbeitsplatz von genau 98cm Breite und 72cm Tiefe. Ausgestattet waren sie einst mit schwarzen Linoleumeinlagen, einem verschließbaren Tischkasten, dessen Schlüssel bei der Aufsicht zu entleihen war, einem eingelassenen Tintenfass sowie einer kleinen grünen Stehlampe.
Die beabsichtigte „einfache, zweckmäßige und haltbare Form“ dieser Möbel hat sich bewährt – schließlich haben sie bereits über 100 Jahre der intensiven Nutzung und einen Weltkrieg überdauert. Außerdem weisen ihre Sessel mit ihren niedrigen Rücken- und kurzen Armlehnen den Vorteil auf, bloß nicht zum sog. Fläzen zu verführen. Eine gerade, ehrwürdige Haltung bei der konzentrierte Lektüre sind so schon qua Sessel gesichert.
Darüber hinaus trägt die bloße Anordnung der Tische und Stühle schon zu einem gewissen disziplinären Geist bei, der manche Leser in seine Schulzeit zurückversetzen mag. So besagt das Konzeptpapiers des Lesesaals aus dem Jahr 1916:
„Die Tische sind symmetrisch zum mittleren Quergang gestellt, an dessen einer Seite dem Eingang gegenüber der erhöhte Platz des Aufsichtsbeamten angeordnet ist, sodass dieser allen Lesern ins Gesicht sehen kann und den Verzehr im Saal gut überwachen kann.“
Neben der erhöhten, elitären Positionierung des Aufsichtsbeamten, dessen kritischer Blick an die Strenge des einstigen Klassenlehrers erinnern mag, tut sich die Assoziation zu Schulbänken durch ihre egalitäre Anordnung sowie Ausstattung der Arbeitsplätze auf. In einem gemeinsamen (Wider-)Willen zur Lektüre bilden die anwesenden Schüler*innen bzw. Leser*innen eine Gemeinschaft, die sich nicht durch einen Klassenverband, sondern nur durch wechselseitige Blicke der Solidarität in der absoluten Stille des Raumes manifestiert.
Andere erinnert die innere Gestaltung des Geisteswissenschaftlichen Lesesaals stärker an die eines Kirchenraumes. Unterschiedliche Eindrücke dürften hierfür der Grund sein: Die betonte Eichenholzästhetik der Sitzmöbel, die meditative Stille, die hohen weißen Wände, die raumumfassende Galerie, die sakrale Dreieckskomposition des Wandgemälde Hofmanns … Welche Rolle in diesem Fall dem Aufsichtsbeamten zukommen würde, muss jede religiöse Person mit sich selber vereinbaren.
Wie wollen wir sitzen? Um sich auf seine aufgeschobene Arbeit bzw. Lektüre zu besinnen, hat der Geisteswissenschaftliche Lesesaal der Deutschen Nationalbibliothek Leipzig mit seiner konzentrierten Atmosphäre, seiner hellen luftigen Raumerscheinung, seinem schlichten aber zweckmäßigen Interieur und seiner latent aufdringlichen Aufforderung zur Disziplin freilich die besten Sitzplätze der Stadt zu bieten. Aber auch unbeteiligte Beobachter des Treibens, die keinem Arbeitszwang unterworfen sind, würden an diesem Donnerstagnachmittag ihre Freude am Besuch des Lesesaales haben. Nirgends sonst lässt sich beim Betreten eines Lesesaales so paradox feststellen: „Gott sei Dank, muss ich bei diesem schönen Wetter hier heute nicht sitzen. Aber wenn ich es müsste, täte ich es am liebsten hier.“
Gordon Prager studierte Kunstgeschichte und Germanistik in Göttingen mit einem Auslandssemester in Paris. Sein Interesse für die DNB entwickelte sich während seines Masterstudiums an den Universitäten Halle/S. und Leipzig.
Im Kontext seiner Kooperation mit der Wissenschaft hat das Deutsche Buch- und Schriftmuseum im Wintersemester 2022/23 einen Lehrauftrag an der Universität Leipzig durchgeführt, das sich unter dem Aspekt der Gestaltung, Funktionen und Ästhetiken des Speicherns mit der spannenden 111-jährigen Geschichte der DNB beschäftigt. Es ist eine in der Strategie der DNB fest verankerte Lehrkooperation, deren Ergebnisse zugleich Auskunft geben über 111 Jahre Bibliotheksgeschichte.