Asymmetrie und andere Spleens
Notizen aus meinem Jahr im Magazineingang
Was passiert, wenn man zwischen Archivkartons, Spleens und Zwillingszahlen anfängt, die Welt durch Bestandsschutzrichtlinien zu deuten? Genug, um die Vergangenheit heraufzubeschwören – oder genauer: den Schatten Freuds, der seitdem leise mitliest.

Der erste Tag meiner Reise im Magazineingang beginnt um 6 Uhr morgens. Mein Körper scheint sich noch in einer völlig anderen Zeitzone zu befinden und der Sonnenaufgang ist nur ein vages Versprechen am Horizont. Um die Zeit ist die Luft in der Bibliothek noch ganz still, die endlosen Gänge, wie eine andere Welt, ein Meer aus unaufgeregtem Wissen und Gedanken.
Ich ziehe die riesige Tür auf als würde ich gerade einen geheimen Garten betreten.
Mit meinem Notizbuch unter dem Arm und einem frisch gespitzten Bleistift schwinge ich in eine von mittlerweile fünf Magazineingangsstellen. Ich nicke mir wohlwollend zu.
Im Dickicht der Abkürzungen
Meine Kollegin erklärt mir routiniert die Arbeitsabläufe, ich schreibe penibel mit, sie erzählt mir alles über den Bestandsschutz, ich habe mich indes für Akronyme innerhalb meiner Notizen entschieden, mittlerweile fügt sie wichtige Informationen zu den Sonderfällen hinzu – ich habe aufgehört zu schreiben und rede mir gut zu.
Ich stolpere über Begriffe wie „Signatur“, „AKZ“, „IDN“, „CBS“, „LBS“ und „OPAC“ als wären es geheime Codewörter.
Im weiteren Verlauf zeigt sie mir die Verpackungsrichtlinien, hier ein kleiner Auszug: die geklebten Hefte müssen extra verpackt werden, hier müssen die Klemmschienen entfernt werden, die geklammerten Hefte werden extra verpackt, die Ringheftung auch, Medienwerke mit Folie benötigen Bestandschutzpapier, Medizinhefte werden separiert, Blindenschrift dorthin…
Die Zusammenarbeit mit der Bestandserhaltung ist für den Magazineingang unerlässlich. Vorgaben für eine sachgerechte und langzeitsichere Aufbewahrung und Verpackung werden in enger Symbiose konzipiert.
Meine Kollegin lächelt mich an, ich lächle souverän zurück und versuche meine Wörter zu abstrahieren, um meine völlige Ahnungslosigkeit zu überspielen und bestärke mich mit dem Gedanken, dass Politiker es mir gleichtun würden.
Und so beginnt mein erster Arbeitstag im Magazineingang mit einem Stapel unbestimmter Aufgaben.
Als die letzte Signatur für heute vergeben ist, schweift mein Blick noch einmal über die Regale, die ruhenden Wächter, die unsere Geschichte(n) bewahren. Es ist als wenn jedes dieser Werke seine eigene Seele hat, mit Geschichten, die weit über den Inhalt hinausgehen. Die Regale füllen sich, die Zeit vergeht, aber der wahre Dialog mit den Büchern bleibt aus. Wenn man genauer hinschaut, sieht man, dass jedes Buch auf seinen Moment wartet; einen Moment, aus dem es aus dem Vergessen gerissen und wieder lebendig wird.
Heimweg mit Wolkenbühne und literarischem Selbstgespräch
Mit diesen Gedanken mache ich meine ersten Pedalumdrehungen und bemerke, dass der Himmel in den dramatischen Monolog meines Lebens einsteigt. Wunderschöne Kumuluswolken, die sich nach und nach in gesichtslose Ungeheuer verwandeln. Wild entschlossen trete ich in die Pedale. Der Schlüssel ins Schloss, die Tür ins Zuhause, Übergang, Kaffee.
Jetzt nur noch ein Buch aus einem meiner sechs Bücherstapel ziehen und dann … Verdammt. Ein nervöses Augenzucken. War das schon immer so? Diese Stapel? Ich verlasse kurz den Raum. Tür zu. Langsam schleiche ich wieder Richtung Bücherstapel, als würde dieses subtile Manöver einen Unterschied machen. Sieht aus wie eine stille Rebellion gegen mein Leben. Meine Oberlippe zuckt. Eine Stimme flüstert „Das Chaos dieser Türme ist stark, mein Padawan. Doch du kannst es beherrschen“.
Kopfschüttelnd bringe ich alles in Form, sortiere nach Höhe und vor allem Tiefe, Hardcover zum Stabilisieren, entziehe ihnen die Funktion des Pflanzenständers und murmle dabei die Bestandsschutzrichtlinien vor mich her.
Es ist 17:17 Uhr; ich beende das an dieser Stelle.
Einige Monate vergehen und diese kleine „Angewohnheit“ fängt langsam an sich auszudehnen. Urlaub, Freunde, Bekanntschaften, Wohnungsbesichtigungen – egal, die Bücher werden sortiert. Bestandsschutzgerecht.
In diesem erweiterten Modus hatte ich schon einige Male den Gedanken, die Bücher auch nach Farbe, Thema, Autorenname, nach der Reihenfolge der Worte im Titel oder nach der Wahrscheinlichkeit, dass der Autor ein Haustier hat, zu sortieren. Bis zum nächsten Spleen bleibt aber alles vorerst in seiner geordneten, unaufgeregten Form. Bestandsschutzgerecht!
Zurück in die Bibliothek und Excel als Schicksalsdokument
Neben den rund 900.000 Signaturen, die wir in Leipzig jährlich vergeben und somit 900.000 Medienwerke bestandsschutzgerecht für die Ewigkeit aufstellen, um sie danach in die vertrauenswürdigen Hände der Kolleg*innen für das Magazin zu geben, gibt es noch weitere Aufgaben. Natürlich versteckt sich auch hier wieder echtes Spleen-Potential.
In unserem Sachgebiet werden enorme Mengen Archivmaterial verbraucht. Wir benötigen 14.000 Archivkartons um 3.000 Bestandsmeter auszufüllen.
Ein fünfköpfiges Team ist verantwortlich für das Material und auch ich bin jetzt Teil dieses Teams. Vor wenigen Wochen habe ich zum ersten Mal die Materialliste gesehen. Eine Excel-Liste bei der man sich zurecht fragt, wie viele Zeilen und Spalten Excel eigentlich maximal erstellen kann.
Kleine Randnotiz: Es sind 1.048.576 Zeilen und 16.384 Spalten.
Aber zurück zur Liste. Ausgedruckt wäre sie so groß wie drei aneinander geklebte A3 Blätter, also etwa in der Größe eines halben Türblattes.
Hier sind alle benötigten Archivmaterialien aufgelistet, der jährliche Verbrauch mit Rückblick auf die vergangenen vier Jahre, rückblickende Materialbestellungen, Grundbestände und aktuelle Bestände. Alles in der richtigen Reihenfolge, Zeilen, Spalten, Werte, Zellbezüge, einige „Wenn – Szenarien“ und zum Schluss unsere Lieblingsfunktion, die bedingte Formatierung. Diese wundervolle Funktion bringt die finale Ordnung in das Chaos und macht das Unverständliche verständlich.
Ich betrachte die heilige Excel-Arbeitsmappe, die Perfektion in Zellen gegossen, ein Meisterwerk der Effizienz. In diesem Moment spüre ich, dass hinter mir der nächste Spleen angeritten kommt und dachte an Sartre, als er sagte „Der Mensch ist verurteilt frei zu sein“. Ziemlich sicher meinte er damit nichts Anderes als „Du bist verurteilt jede Zelle und Spalte nach deinem Willen zu gestalten“.
Von Zwillingszahlen und stillen Zeugen
Nach dem Meeting für die Materialbestellung, vergebe ich für heute die letzten Signaturen.
Vorbereitet für die Ewigkeit verschwinden die Medienwerke erst jetzt im Magazin. Hier verstecken sie sich, die „stummen Zeugen“.
Die Regale füllen sich weiter, ein stiller Strom von Leben, der nie endet. Vielleicht ist das die wahre Bedeutung der Bibliothek. Nicht, um Wissen zu speichern, sondern um den Dialog mit der Vergangenheit und der Zukunft zu pflegen. Ein unaufhörlicher, immerwährender Austausch zwischen den Seiten und der Seele des Lesers.
Ohne die Worte, die nie aufhören zu existieren, wären wir nur eine Gesellschaft ohne Zeugnisse, ohne Erzählungen, ohne die Reflexion des Geistes und der vergangenen Generationen.
Als ich Feierabend mache, ist es 15:15 Uhr. Eine Zwillingszahl. Das passiert mir in letzter Zeit häufiger. Magisches Denken, etwa ein weiterer Spleen oder doch eine Engelsbotschaft? Ich hoffe auf letzteres und zwinkere indes der Person auf dem Werbeplakat zurück.
Ob es so oder anders war, kann ich nicht mehr genau sagen. Bei Erinnerungen muss man sowieso zwischen tatsächlichem und gefühltem Erlebten unterscheiden. Ach so, und Freud habe ich auch nicht getroffen, aber sein Schatten fiel auffällig oft auf meine Bücherstapel.
Er hätte sicher interessante Ansätze für diese kleinen Spleens gehabt, doch zum Glück sind seine Deutungsmuster heute nicht mehr verpflichtend.
Ich liebe diesen Text!
Wunderbar geschrieben! Ich wünsche weiterhin einen guten Umgang mit allen Spleens, die man sich beim Arbeiten in einer Bibliothek so zulegen kann… 😉 Und bitte gern auch weiterhin literarisch verwerten!
Ein phantastischer Text mit herausragender literarischer Qualität. Wie wunderbar, solche warme Fundstücke hier entdecken zu können.