Wer mit Büchern arbeitet, liest gerne! Oder?

16. Mai 2023
von Cornelia Ranft

Als die Deutsche Bücherei am Deutschen Platz in Leipzig 1938 ihr 25jähriges Jubiläum feierte, hieß es in der Festansprache sogar, die Deutsche Bücherei begeisterte viele „empfängliche junge Menschen, die zum ersten Male das Haus und seine Einrichtungen sahen“ so sehr, dass sie „unverzüglich den Entschluss fassten, Bibliothekar zu werden“. Ist es wirklich so einfach? Reiht sich die*der lesende Bibliothekar*in so ein in all die fleißigen Lesenden in den Lesesälen?

Diesen Satz habe ich schon hundertmal gehört: „Du bist Bibliothekarin? Dann liest du ja gerne!“ Ich bin sicher nicht die einzige Bibliothekarin, die diesem Klischee immer wieder begegnet. Drückt dieser Satz doch genau das Gegenteil davon aus, was der Beruf Bibliothekar*in heute wirklich meint. Wir organisieren und erschließen Bestände. Wir betreuen Besucher*innen und vermitteln ihnen Wissen. Wikipedia spricht außerdem von bibliothekarischen Managementaufgaben.[1] Bibliothekar*innen sind hochspezialisierte Vermittler*innen für Wissen. Und sie wissen auch, wie dieses Wissen konserviert und erhalten werden kann, damit es weiteren Generationen zur Verfügung steht. Natürlich spielt Leseförderung ebenfalls eine große Rolle. Da steht nicht, ein*e Bibliothekar*in müsse gerne lesen.

Ja, ich bin schon stolz, dass ich in der Deutschen Nationalbibliothek arbeite, eine der zehn größten Bibliotheken der Welt und in Deutschland sogar an zwei Standorten ansässig, in Leipzig und in Frankfurt am Main. Ich habe in den Lesesälen gearbeitet sowohl am Frankfurter Standort als auch in Leipzig, in diesem nun 111jährigen historischen Ambiente. Ich habe in dieser Zeit vermutlich tausende Fragen beantwortet und tolle Menschen kennengelernt. Ich habe Studierenden geholfen bei verloren gegangenen Literaturverzeichnissen, wissenschaftliche Fachartikel gefunden, Mikrofilme aufgewickelt, Diskussionen zum Urheberrecht geführt, zur Ruhe gemahnt (ja auch das, allerdings ohne erhobenen Zeigefinger), Zeitschriften gefunden, Tageszeitungen wieder richtig zusammengelegt, bei der Nutzung elektronischer Medien unterstützt und vor allem Daten in unseren Katalog eingetragen. Daten über Medien, sogenannte Metadaten, die dafür sorgen, dass in einer Bibliothek alles gefunden werden kann, alles eine individuelle Beschreibung und einen Standort erhält. Und dies ist nur ein kleiner Aspekt der bibliothekarischen Arbeit. Meine Kolleg*innen in allen Fachabteilungen haben täglich mit den Medien, die wir sammeln, zu tun. Dort werden sie in die Hand genommen oder digital erfasst, fachmännisch begutachtet und die formalen und die inhaltlichen Kriterien im Katalog eingetragen. Zeit zum Lesen außerhalb der Arbeitsschritte hat niemand.

Für mich hat diese großartige Arbeit also nichts mit dem Hobby Lesen zu tun. Es ist auch ein anstrengender Job, der durchaus dazu führen kann, Bücher nach Feierabend nicht mehr sehen zu können. Im Allgemeinen scheint es aber einen Konsens darüber zu geben, wer an einem Ort mit vielen Büchern arbeitet, der müsse zwangsläufig gerne lesen.

Ja, natürlich müssen Bibliothekar*innen auch lesen: Fachzeitschriften, Fachbücher, E-Mails, in Foren und im Internet. Sie lesen Fachliteratur. Lesen benötigt man heute überall im Berufsalltag, um sich zu informieren, weiterzubilden, zum Gedankenaustausch und zur Kommunikation. Lesen zur Unterhaltung spielt im Berufsalltag keine Rolle. Der emeritierte Direktor der Herzogin Anna Amalia Bibliothek in Weimar formulierte es in einem Interview sogar sehr drastisch: „In Bewerbungsgesprächen haben Kandidaten früher oft angeführt, [sie] läsen gerne und liebten Bücher. Da bin ich immer zusammengezuckt. „Lesen können Sie in einer Bibliothek nicht,“ habe ich dann gesagt. „Ein Bibliothekar der liest, ist verloren.“ Knoches Aussage geht dann auch noch in eine andere Richtung: „Heute bewerben sich auf Bibliotheksstellen immer mehr Menschen, die zwar etwas mit Medien machen wollen, aber Bücher verabscheuen. … Sie sind einseitig digital orientiert. Inzwischen wäre es mir lieber, die Kandidaten würden wieder mehr lesen wollen.“ [2]

Für den Beruf in der Bibliothek braucht es also eine gute Mischung aus Lesekompetenz und Medienorientierung.

Und wenn sich auf YouTube oder allgemein im Netz Videos finden wie: „Die Bibliothekarin empfiehlt“ oder „Was wir Bibliothekarinnen 2020 gelesen haben“ dann spricht dies für Menschen, die ihren Job machen, nämlich Lesekompetenz zu vermitteln und Medienorientierung zu geben.

In Deutschland gibt es verschiedene Bibliothekstypen. Eine Stadtbibliothek etwa erfüllt ganz andere Aufgaben als eine wissenschaftliche Universitätsbibliothek. Damit ist auch die Aufgabenverteilung der Mitarbeitenden ganz unterschiedlich. Und auch das trägt sicher zum Klischee bei. Auch die Deutsche Nationalbibliothek als Deutschlands Archivbibliothek hat eine hochspezialisierte Aufgabe. Wir sammeln als einzige Bibliothek das gesamtdeutsche Schrifttum. Insofern kann der*die Bibliothekar*in der kleinen Stadtbibliothek sicher Leseempfehlungen geben, vorrangig solche, die sie in ihrer Freizeit selbst gelesen hat. In einer wissenschaftlichen Bibliothek spielen Romane nur eine Rolle, wenn es dazu eine zu erforschende Fragestellung gibt.

Auch das Berufsbild des historischen Bibliothekars trägt zum Klischee bei. Angefangen damit, dass in klösterlichen und frühen Bibliotheken Frauen für den Beruf noch keine Rolle spielten, war die Art und Organisation von Büchersammlungen immer abhängig vom jeweiligen Gesellschaftssystem. In den ersten öffentlichen Bibliotheken des 19. Jahrhunderts wurden die Inhalte der Bücher tatsächlich von den Bibliothekaren gelesen, vorrangig zum Zwecke der Zensur. Sie entschieden, wer diese Titel lesen durfte und was besser in den Giftschrank kam. In diesem Zusammenhang war der Bibliothekar wirklich ein viel belesener und gebildeter Mann, oft im Gegensatz zu seiner Kundschaft.

Nicht zuletzt haben Film und Medien enorm zum Klischee beigetragen. Noch immer werden in Filmen lesende Bibliothekar*innen hinter verstaubten Theken mit hohen Bücherstapeln dargestellt, die man möglichst nicht ansprechen sollte. Dieses Berufsbild ist überholt. In modernen Bibliotheken lächeln einem freundliche erwartungsvolle Gesichter entgegen. Da liest niemand hinter der Theke, sollte es auf jeden Fall nicht tun. 

Fazit: Bibliothekar*innen lesen gerne ist ein Klischee, das auch historisch begründet ist. Dennoch muss sich beides nicht ausschließen. Wer in seiner Freizeit gerne liest und dann private Empfehlungen gibt, muss nicht in der Bibliothek arbeiten. Und wer gerne liest, tut dies auch in der Bahn, wartend auf der Bank, im Restaurant und nicht nur hinter der Theke in der Bibliothek. Wer sich für einen Beruf in der Bibliothek interessiert, muss das Lesen nicht übermäßig lieben, sollte aber auch nicht einseitig nur digital orientiert sein. Übrigens gibt es in einer Bibliothek sehr vielfältige Berufsfelder, angefangen bei einer Ausbildung zum Fachangestellten für Medien- und Informationsdienste, über das Studium zum*zur Bibliothekar*in, hochausgebildete Wissenschaftler*innen, Techniker*innen, Handwerker*innen, IT-Spezialist*innen u.v.m. Und auch hier sind sicherlich Menschen dabei, die gerne lesen oder eben nicht.


[1] https://de.wikipedia.org/wiki/Bibliothekar (Zugriff am 27.2.2023)

[2] Interview von Michael Knoche veröffentlicht am 29. Juli 2019 unter https://biblio.hypotheses.org/352 (Zugriff am 28.2.2023)

111-Geschichten-Redaktion

Zum 111. Jubiläum haben wir, die Beschäftigten der Deutschen Nationalbibliothek, in Erinnerungen und Archiven gestöbert. Von März bis November präsentieren wir hier 111 Geschichten aus der Deutschen Nationalbibliothek.

*Nachweis Beitragsbild auf der Startseite:DNB, CC BY-SA 3.0 DE

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  • ISSN 2751-3238