Den Brüdern Grimm musikalisch auf der Spur

19. Mai 2023
von Nathalie Küchler und Sybille Stahl

Es war einmal…

Hätten Sie’s gewusst? Nicht alle Grimm’schen Märchen fangen mit „Es war einmal“ an.
Eines beginnt mit einem königlichen Bad, Märchenkundige werden es erkennen:

Vor Zeiten war ein
König und eine Königin,
die sprachen jeden Tag:
„ach, wenn wir doch ein
Kind hätten!“ und krieg-
ten immer keins. Da trug
sich zu, als die Königin
einmal im Bade saß, daß
ein Frosch aus dem Wasser
ans Land kroch und zu
[ihr sprach: „Dein Wunsch
wird erfüllt werden, ehe
ein Jahr vergeht, wirst
du eine Tochter zur Welt
bringen“.]

Lassen Sie sich vom Frosch nicht irreführen. Nicht für den Froschkönig fertigte Jan Tschichold 1920 eine Skizze in Frakturschrift an, sondern für das Dornröschen-Märchen. Die bebilderte Textseite gelangte mit dem Nachlass Tschicholds in die Sammlung des Deutschen Buch- und Schriftmuseums und damit in den Bestand der DNB.

Im Frühjahr 2023 leitete das frei zugreifbare Digitalisat von Tschicholds Gestaltungsentwurf eine für die Nationalbibliothek ungewöhnliche Veranstaltung ein. Unter dem Titel „Den Brüdern Grimm musikalisch auf der Spur“ besuchten Beschäftigte des DNB-Benutzungsteams das Mehrgenerationenhaus (MGH) Fallbach für ein Vermittlungsangebot an Menschen, die üblicherweise nicht den Weg in die DNB-Lesesäle finden. Singfreudige Senior*innen und andere Besucher*innen der vielfältigen MGH-Angebote waren ebenso eingeladen wie interessierte Anwohner*innen des Hanauer Stadtteils.

Unter diesem Vorzeichen war die Veranstaltung auch für das DNB-Team eine Erkundungstour: Wie gelingt es, bibliothekarische Vermittlungsangebote zu entwickeln, die sich nicht wie sonst an ein wissenschaftliches Publikum sondern an (Noch-)Nicht-Nutzende richten?

Wer fehlt im Lesesaal?

Gemäß ihres gesetzlichen Auftrags und nach ihrem Selbstverständnis als Gedächtnis der Nation dient die DNB der Allgemeinheit – ein guter Grund, gezielt Menschen zu adressieren, die im Lesesaal unterrepräsentiert sind. Eine Herausforderung besteht allerdings darin, in der Vielfalt von Nicht-Nutzenden potentielle Zielgruppen zu definieren und zu erreichen. Hier erwies sich das MGH Fallbach, das als eines von über 500 Mehrgenerationenhäusern in Deutschland mit niedrigschwelligen Begegnungsangeboten eine Vielzahl unterschiedlicher Personengruppen und Interessen anspricht, als idealer Kooperationspartner. Die regelmäßigen Besucher*innen ausgewählter MGH-Angebote wurden zum Ausgangspunkt der Veranstaltungsplanung. Für sie suchte das MGH-Team geeignete Veranstaltungsthemen aus, deren inhaltliche Ausgestaltung die Kolleg*innen der DNB übernahmen. Anhand von Archivmaterialien wurden Anschauungsobjekte und Hintergrundinformationen zusammengestellt, interaktiv aufbereitet und jeweils mit Wissenswertem rund um die DNB-Benutzung verknüpft.

Die MGH-Veranstaltungen stehen für einen neuen Typ von niedrigschwelligen, interaktiven Vermittlungsangeboten. Die aus der Agenda 2030 abgeleitete Nachhaltigkeitsstrategie des Bundes verpflichtet öffentliche Kultureinrichtungen, Zugänglichkeit zu gewährleisten, ihre Bestände sichtbar zu machen und Partizipation anzuregen. Vor diesem Hintergrund bemühen sich Bibliotheken einerseits um mehr Bildungs- und Teilhabegerechtigkeit für alle Menschen unabhängig von ihren soziokulturellen Lebenswelten und andererseits um eine Steigerung der eigenen kulturellen Sichtbarkeit und gesellschaftlichen Relevanz.

Das Konzept geht in Serie

Die märchenhafte Spurensuche ist schon die dritte kooperativ entwickelte Veranstaltung von MGH Fallbach und DNB. Nachdem die ersten beiden Veranstaltungen im Bibliotheksgebäude stattfanden, begab sich das DNB-Team im Frühjahr 2023 erstmals „on the Road“ in die Brüder-Grimm-Stadt Hanau. Der Veranstaltungsort wurde zum Themengeber. Ein mitwirkende Musiker, Alwin Moser, wählte Musikstücke mit Märchenbezug aus und begleitete die Teilnehmenden beim Singen auf dem Piano. Die DNB knüpfte wiederum inhaltlich an die Märchen und Lieder an.

Die wichtigsten Gepäckstücke auf der Reise waren diesmal frei nutzbare Online-Bestände, die auch ohne Benutzungsausweis von jedem beliebigen Ort außerhalb der Lesesäle aufgerufen werden können. Darunter fallen z. B. eine gerichtsmedizinische Dissertation zu den verschiedenen Todesarten im Märchen oder eine digitalisierte Strickanleitung für Brüderlein und Schwesterlein (denn wie das Lied von Hänsel und Gretel verrät, war es bitterkalt im Wald). Um die Besonderheiten einer nationalbibliothekarischen Sammlung zu erläutern, wurden gerade solche ausgefallenen Objekte gezeigt, die beispielsweise in städtischen Bibliotheken nicht zu finden sind.

Von der Belebung des Archivguts durch eine Kombination aus Vermittlung, Dialog und Gesang waren nicht nur die Teilnehmenden angetan, sie hätte sicher auch Jakob Grimm erfreut. Immerhin war er mehrere Jahre als Bibliothekar tätig, bevor er sich der Märchensammlung widmete. Die musikalische Spurensuche zeigt auch: Umfang und Vielfalt der DNB-Sammlung bieten zu nahezu allen Themen sehenswerte Materialien, die zur gemeinsamen Erkundung einladen und neben historischen Kontexten zugleich ihre Rolle als Gedächtnis der Nation illustrieren.

Zum eingangs zitieren Dornröschen-Märchen bzw. dazu ausgewählten Kinderlied „Dornröschen war ein schönes Kind“ fand sich zum Beispiel eine der ersten Spielanleitungen im 1913 veröffentlichten Spielbuch für Mädchen im Alter von 6-16 Jahren. Der weissagende Frosch kommt darin allerdings nicht vor:

Adolf Netsch, Spielbuch für Mädchen im Alter von 6-16 Jahren, Hannover 1913 (4) , digitalisiert durch die Deutsche Nationalbibliothek 2022, urn:nbn:de:101:1-2022120208192871586305, S. 285-287, im Lesesaal aufrufbar unter: https://d-nb.info/1253162441.
*Nachweis Beitragsbild auf der Startseite:Jan Tschichold, Gestaltungsentwurf von Jacob und Wilhelm Grimms Dornröschen, Leipzig 1920, digitalisiert durch die Deutsche Nationalbibliothek 2021, urn:nbn:de:101:1-20210804233545 70890412, S. 4, frei verfügbar unter: https://d-nb.info/1236319249.

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