Der Herr mit der Knubbelnase

27. März 2023
von Elke Jost-Zell

Über Hanns W. Eppelsheimer

Foto: DNB, Elke Jost-Zell, CC BY-SA 3.0DE

Sobald man in den Hauptlesesaal der Deutschen Nationalbibliothek in Frankfurt am Main tritt, fällt der Blick auf eine Stele zwischen der Medienausgabe und der Holztreppe, die in den unteren Lesesaal und zum Deutschen Exilarchiv, DEA, führt. Die Stele trägt einen Bronzekopf mit den ausdrucksvollen Gesichtszügen von Hanns W. Eppelsheimer (1890-1972).

Eppelsheimer war Literaturwissenschaftler und Bibliothekar, Katalogerfinder, Bücherfreund und Bücherforscher und der Mann, der nach dem 2. Weltkrieg dafür sorgte, dass auch im Westen Deutschlands eine Bibliothek gegründet wurde, die alles sammelte und für Wissenschaft, Forschung, Professionalisierung, Weiterbildung, Kunst und Kultur zur Verfügung stand.

Er war der Gründungsdirektor der damaligen Deutschen Bibliothek und der Begründer des zuvor Emigrantenbibliothek genannten Deutschen Exilarchivs, DEA.

Hanns W. Eppelsheimer ist der einzige Direktor der DNB in Frankfurt, den ich nie gesehen, nie kennengelernt habe. Vielleicht interessiert er mich deshalb in besonderer Weise, vielleicht aber ist es sein abenteuerlicher Weg durch die deutsche (Bibliotheks)-Geschichte, mit den beeindruckenden Spuren, die er dort hinterließ. Erstmals erfuhr ich von ihm durch das grellbunte Gemälde, das zur Zeit meines Dienstbeginns im Sitzungsraum der damaligen Deutschen Bibliothek an der Frankfurter Zeppelinallee hing. Damals blickte der Herr mit der Knubbelnase, wie ich ihn heimlich nannte, auf uns frisch vereidigte Bibliotheksneulinge, neben ihm das in dezentem graublau gehaltene Bild von Kurt Köster. Der dritte Generaldirektor war noch nicht bildlich verewigt, sondern stand quicklebendig vor mir und meiner Kollegin Carola – Günther Pflug.

Doch zurück zu Herrn Eppelsheimer, dessen Portrait auch heute noch in einem Sitzungszimmer der Deutschen Nationalbibliothek Frankfurt am Main den Bilderreigen der Generaldirektor*innen anführt. Dieses Gesicht! Überlassen wir es Freunden, die ihn kannten, es zu beschreiben: Karl Krolow fand, es sei „ein großartig gearbeitetes Gesicht“, Günther Rühle nannte es „von den wildesten Kontrasten heimgesucht […], eine wie aus einer Komödie von Dionysos hineingeworfene Nase“ und Karl Korn schrieb über die „von ironischen Lichtern zuckenden, herrlich zerklüfteten Gesichtszüge“.

Ja, aus diesem Gesicht sprach sehr viel Lebendiges. Damals wie heute fragt man sich – wer war dieser Kulturmensch und Bibliothekspionier?

Student, Dichter und Soldat

Hanns Wilhelm Eppelsheimer kam am 17.10.1890 im rheinhessischen Wörrstadt zur Welt. Nach dem Abitur in Mainz studierte er Jura, Nationalökonomie und Neue Philologie in Freiburg im Breisgau, München und Marburg. In Marburg promovierte er (erst im zweiten Anlauf) über Petrarca und verwandelte seine Dissertationsschrift 1926 in ein Buch.

Die Jahre 1914 bis 1918 verbrachte er als Offizier im 1. Weltkrieg, nach dem Krieg entschied er sich für den Beruf des Wissenschaftlichen Bibliothekars.

Wissenschaftler und Bibliothekar

Eppelsheimers Bibliothekslaufbahn begann als Hilfsbibliothekar an der Stadtbibliothek Mainz. Später, als Oberbibliothekar, entwickelte er den ebenso originellen wie berühmten Mainzer Sachkatalog, der die Elemente des Systematischen mit denen des Schlagwortkatalogs verband und mit dem er Kataloggeschichte schrieb. Die Mainzer Bibliothek vertrat den Grundsatz der „absoluten Liberalität“ in der Benutzung, die Bücherschätze nicht nur zu verwalten, sondern allen ohne Unterschied der Vorbildung und […] der gesellschaftlichen oder beruflichen Stellung deren Lektüre zu ermöglichen. Ihr Bestreben war, „sich aus der Abgeschiedenheit einer gelehrten und geschichtlichen Büchersammlung zu lösen und im hellen, lebendigen Tag unserer zeitgenössischen Kultur zu wirken“.

Von 1929 bis 1933 war Eppelsheimer Direktor der Hessischen Landesbibliothek in Darmstadt. Dem nationalsozialistischen Regime war er zu liberal und zu geistreich. Den späteren Bücherverbrennern ohnehin wegen seiner jüdischen Ehefrau und seiner freiheitlichen künstlerischen und politischen Ansichten verdächtig, betonte er beim Bibliothekartag 1933 in einem Vortrag die „Bildungsaufgabe der Landesbibliothek“. Daraufhin wurde er als „politisch unzuverlässig“ aus dem Dienst entlassen. Das Berufsverbot traf ihn hart, und es kam noch schlimmer, als er 1942 Zweifel an einem „Endsieg“ Deutschlands äußerte, denunziert und wegen Verstoßes gegen das „Heimtückegesetz“ angeklagt wurde. Er konnte den zuständigen Staatsanwalt für sich gewinnen, entkam der Gestapo und wurde glimpflich zu einer Geldstrafe verurteilt.

In dieser dunklen Zeit half ihm das Schreiben und Kompilieren, er wurde kreativ und nahm die Arbeit an seinem bio-bibliografischen Handbuch der Weltliteratur auf.

Neu-Frankfurter

Nach dem 2. Weltkrieg suchte man nach einer von nationalsozialistischem Gedankengut unbelasteten Persönlichkeit im Bibliothekswesen – und fand sie in Hanns W. Eppelsheimer. Er nahm erneut die Arbeit als Direktor der Landesbibliothek Darmstadt auf, doch das kriegsgeschüttelte marode Bibliothekswesen brauchte ihn auch in der Mainmetropole Frankfurt. 1946 wurde er Direktor der Stadt- und Universitätsbibliothek Frankfurt am Main und 1947 Gründer und erster Direktor der Deutschen Bibliothek, die die Aufgabe der Sammlung, Erschließung, Benutzung und bibliografischen Verzeichnung der Literatur der jungen Bundesrepublik Deutschland übernahm. Er blieb bis 1959 in der DB und baute in ihren Räumen eine „Emigrantenbibliothek“ auf.

Emigrantenbibliothek

In den Jahren 1933-1945 verließen etliche Schriftsteller Deutschland, um der Verfolgung durch das NS-Regime zu entkommen. Ihre Werke – verboten und verbrannt. Soweit möglich, schrieben und publizierten sie im Exil, und eine Literatur entstand, die Antisemitismus, Rassismus, Ausgrenzung und faschistischem Denken die Stirn bot. Doch Autoren wie Thomas Mann, Stefan Zweig, Bertolt Brecht, Alfred Döblin und Lion Feuchtwanger sollten nicht vergessen und die Exilliteratur von der Literaturwissenschaft gewürdigt werden. 1948 entwarf Eppelsheimer daher einen Plan zur Sammlung und bibliografischen Verzeichnung der deutschsprachigen Exilliteratur für „die Wiedereingliederung der so gewalttätig ausgesprengten Teile in das literarische Leben und die Literaturgeschichte Deutschlands“. Die Gründung der Emigrantenbibliothek war für Eppelsheimer eine Herzensangelegenheit, aber kein leichtes Unterfangen. Er selbst war zeitweise dem absurden Verdacht nationalsozialistischer Gesinnung ausgesetzt – doch dank seiner beharrlich integren Persönlichkeit wurde er zu einem „Garant zur Überwindung des nationalsozialistischen Ungeistes“ und zum Begründer des heutigen Deutschen Exilarchivs, DEA, das noch immer im Frankfurter Haus der Deutschen Nationalbibliothek beherbergt ist.

Freund und Mensch

Eppelsheimers Freunde, darunter Schriftsteller, Verleger und Kulturschaffende wie Carl Zuckmayer, Peter Suhrkamp und Siegfried Unseld nannten ihn liebevoll „Eppels“, sein Heim stand für nächtelange lebhafte Gespräche rund um Literatur und Kultur offen. Beschäftigte wie die Bibliothekarin Eva Tiedemann beschrieben ihn als leicht kaffeesüchtigen, empathischen, freundlichen, intellektuell anregenden Chef, der morgendliche Rundgänge durch die Bibliothek unternahm und das persönliche Gespräch suchte. Er vergaß nie seine Frau Maria, zu der er stand, als sie den gelben Stern tragen musste, die schwer krank wurde, die er während der Bombenangriffe nachts in den Keller trug und die 1946 viel zu früh starb.

Es gehört einiges an innerer Stärke, in solch sinisteren Zeiten nicht zu verzweifeln. Bei der Weltausstellung 1958, so erinnerte sich der Verleger Siegfried Unseld, wollte das Nachkriegsdeutschland zunächst auf eine Teilnahme verzichten. Doch Eppelsheimer betreute die Buchausstellung im deutschen Pavillon und schuf den Katalog zur „Bibliothek eines geistig interessierten Deutschen“, damit „… jene schwarzen Tage sich nun lichten. Wir haben begonnen, uns mit unserer Geschichte auszusöhnen; nicht in schönfärberischen Veduten oder sich überschlagenden Schuldbekenntnissen, sondern in ruhiger, mit wissenschaftlichem Ernst und menschlicher Aufrichtigkeit geführter Erforschung der bösesten und drückendsten Kapitel unserer letzten Vergangenheit.“ Goethes Ausspruch: „Mit den Lebendigen leben!“ machte er sich damit zu eigen und ließ sich inspirieren von seiner „Weltliteratur“.

Lassen wir noch einmal den Schriftsteller Carl Zuckmayer mit seiner Einschätzung zu Worte kommen, dass Hanns W. Eppelsheimer unter anderem Dichter und Literaturwissenschaftler gewesen sei, aber: „ihn lockte die Bibliothek, die Büchersammlung im weltweiten Sinn, [das] Sichten und Ordnen des bestehenden Vorrats, Klärung und Wartung des Bestehenden.“ Schöner lässt es sich kaum sagen.

Und heute? Während die Leser*innen von ihren Lesesaalplätzen aus entspannt in das Grün des Bibliotheksgartens blicken, schaut die Büste von Herrn Eppelsheimer nach innen, in die Lesesaallandschaft hinein. Noch immer in der Nähe von Menschen und Büchern in seiner, unserer Bibliothek.

Quelle: Hanns W. Eppelsheimer : 1980-1972 ; Bibliothekar, Literaturwissenschaftler, Homme de lettres / Red.: Harro Kieser. – Frankfurt a.M., Deutsche Bibliothek, 1990

111-Geschichten-Redaktion

Zum 111. Jubiläum haben wir, die Beschäftigten der Deutschen Nationalbibliothek, in Erinnerungen und Archiven gestöbert. Von März bis November präsentieren wir hier 111 Geschichten aus der Deutschen Nationalbibliothek.

*Nachweis Beitragsbild auf der Startseite:DNB, Elke Jost-Zell, CC BY SA 3.0 DE

5 Kommentare zu „Der Herr mit der Knubbelnase“

  1. Anonymous sagt:

    Ist das farbkräftig herzhafte Eppelsheimer-Ölportrait neben den blässlichen Gemälden seiner Nachfolger nicht von Ferry Ahrlé, dem in Frankfurt weltberühmten Maler, Zeichner und Autor? Den können wir ins Herz schließen, seine Sichten weit gespannt wie Ihr eigener Horizont, liebe Frau Jost-Zell!
    Herzlich
    Michael Fernau

    1. Elke Jost-Zell sagt:

      Herzlichen Dank, lieber Herr Fernau, für das schöne Kompliment, und ja, wir schließen Ferry Ahrlé ins Herz. Sein Bild von Herrn Eppelsheimer hat mich mit seiner Farbfröhlichkeit anfänglich fast erschreckt, doch nun finde ich es ganz wunderbar, ebenso wie den kreativen Geist des Künstlers!

  2. Susanne Newquist sagt:

    Das ist tatsächlich (mal wieder) ein ganz großartiger Artikel, der mir diesen Menschen, dem wir unseren Arbeitsort verdanken, sehr nahbar gemacht hat. Danke!

  3. Eva Bös sagt:

    Lange war mir nicht bewusst, dass sich hinter dem „Eppelsheimer-Köttelwesch“ reale Personen verbergen. Vielen Dank für das Näherbringen von Herrn Eppelsheimer durch Ihr Porträt!

  4. Josef Zimmermann sagt:

    Servus! Manchmal wünsche ich mir mehr solcher Artikel. Vielen Dank. Grüße aus Bayern

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