The Invention of Tradition
Die Reichsbibliothek als Gründungsmythos
1938 gelingt es Heinrich Uhlendahl (1886–1954), dem damaligen Direktor der Deutschen Bücherei, nach langjährigen Bemühungen, die Bibliothek der Reichsversammlung vom Germanischen Nationalmuseum zu erhalten. Inzwischen wird die historische Buchsammlung, die im Auftrag der Frankfurter Nationalversammlung 1848 und 1949 in der Paulskirche angelegt worden ist, vom Deutschen Buch- und Schriftmuseum betreut. Als Sammlung zeugen die rund 4.600 Bände nicht davon, dass die Deutsche Bücherei und damit auch die spätere Deutsche Nationalbibliothek einen historischen Vorläufer hat. Sie verdeutlicht vielmehr, dass mit ihr Politik im Sinne einer „Invention of Tradition“ betrieben wurde, um das Bestehen der noch jungen Deutschen Bücherei in krisenhaften Zeiten zu sichern.
Gründung einer Archivbibliothek
1912 schließen die Stadt Leipzig, das Königreich Sachsen und der Börsenverein der Deutschen Buchhändler zu Leipzig einen Vertrag, um eine Archivbibliothek zu gründen, in der alle in Deutschland herausgegebenen und alle im Ausland auf Deutsch verfassten Publikationen gesammelt, verzeichnet und der Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt werden sollen. Dieser Vertragsschluss ist nicht unumstritten. Widerspruch kommt nicht zuletzt von Adolf Harnack, dem Generaldirektor der Königlichen Bibliothek zu Berlin, der Vorgängerinstitution der heutigen Staatsbibliothek.1
Harnack sieht in der Gründung der Deutschen Bücherei eine vertane Chance, die Königliche Bibliothek zur Nationalbibliothek auszubauen. Ihm widerspricht 1914 Erich Mohrmann, ein Buchhändler und vom Börsenverein entsandter Mitarbeiter der Deutschen Bücherei, in einem Aufsatz im Börsenblatt, dem Verbandsorgan des Börsenvereins: Die Gründung der Deutschen Bücherei habe einen historischen Vorläufer, nämlich die Bibliothek der Reichsversammlung, die ebenfalls von Buchhändlern angeregt und mithilfe staatlicher Unterstützung in die Tat umgesetzt worden war. Mohrmann rechtfertigt mithin die Gründung der Deutschen Bücherei, indem er die Absicht, eine Nationalbibliothek zu schaffen, zurück in die Vergangenheit verlegt und auf eine nahezu in Vergessenheit geratene Büchersammlung rekurriert.
Heimatlose Büchersammlung
Die Bibliothek der Frankfurter Nationalversammlung ging auf ein Angebot des Hannoveraner Verlegers Heinrich Wilhelm Hahn zurück. Im Juli 1848 schlug Hahn den Abgeordneten vor, ihre Arbeit zu unterstützen, indem sie aus seinem Verlagssortiment geeignete Titel für eine Handbibliothek des Parlamentes auswählen konnten, unter anderem die historische Quellensammlung „Monumenta Germaniae Historica“.
Hahns Beispiel folgten andere Verleger. Ihre Verlagskataloge kursierten im Umlaufverfahren durch die Ausschüsse der Nationalversammlung, deren Mitglieder die sie interessierenden Werke auswählten. Auf diese Weise entstand eine Parlamentsbibliothek, deren Bände insbesondere die Jurisprudenz, Staatswissenschaften, Statistik, aber auch Geschichte und Kultur, Geographie, Handel und Wirtschaft sowie das Kriegswesen behandelten.2 Um die eintreffenden Bücher zu verwalten, wurde vorübergehend der Bibliothekar Johann Heinrich Plath von der Nationalversammlung eingestellt. Plath wiederum ging es darum, seine Stellung zu verstetigen, indem er nicht nur weitere Verleger zu überzeugen versuchte, auch ihr Sortiment zur Verfügung zu stellen.
Gemeinsam mit einigen Branchenvertretern trieb er ebenfalls die Idee einer Nationalbibliothek voran, das heißt einer umfassenden Sammlung aller in Deutschland publizierten Werke. Mit der Auflösung der Frankfurter Nationalversammlung am 30. Mai 1849 waren jedoch Plaths Bemühungen gescheitert. Die Handbibliothek umfasste zu diesem Zeitpunkt nicht ganz 3000 Werke in etwas mehr als 4500 Bänden. Die mittlerweile heimatlos gewordene Büchersammlung wurde 1856 dem vier Jahre zuvor gegründeten Germanischen Nationalmuseum in Nürnberg übergeben.
Wahrzeichen der deutschen Einheit
Die Deutsche Bücherei, die insbesondere in ihrer Anfangszeit nicht nur auf die Unterstützung der Stadt Leipzig und des Landes Sachsens, sondern auch der gesamten Buchbranche angewiesen ist, greift in den von der Inflation gebeutelten Jahren nach dem Ersten Weltkrieg die Idee von der Bibliothek der Nationalversammlung als Reichsbibliothek publizistisch auf, um ihre Existenz zu sichern. Nach etlichen Verhandlungen gelingt es 1938 dem Direktor der Deutschen Bücherei Heinrich Uhlendahl die Büchersammlung zum 25-jährigen Jubiläum der Sammlungstätigkeit nach Leipzig zu holen. Den Festakt richtet das Propagandaministerium aus, und die parlamentarische Handbibliothek von 1848/49 gerät nun offiziell zur ersten großdeutschen Reichsbibliothek. In den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg wird sie erneut als Wahrzeichen der deutschen Einheit dargestellt.
Seitdem hält sich der Mythos von der Reichsbibliothek als Vorgängerin der heutigen Deutschen Nationalbibliothek hartnäckig. Die verwickelte Überlieferungsgeschichte der Büchersammlung von 1848/49 verdeutlicht bei näherem Hinsehen jedoch, dass mit einzelnen Sammlungen und ihren realen wie fiktiven Geschichten bisweilen Politik betrieben wird – in diesem Fall, um das Bestehen der noch jungen Nationalbibliothek zu sichern.
Dieser Beitrag ist ein Kapitel aus der Publikation „Tiefenbohrung. Eine andere Provenienzgeschichte“. Infos zum Gesamtprojekt zur Provenienzgeschichte des Deutschen Buch- und Schriftmuseums sind hier zu finden: dnb.de/tiefenbohrung.
Ramon Voges
Dr. Ramon Voges war bis Herbst 2024 stellvertretender Leiter des Deutschen Buch- und Schriftmuseums.
- Vgl. hierfür wie für alles Folgende die umfassende Darstellung von Jacobi, Johannes: Die Reichsbibliothek. Biographie einer Büchersammlung 1848-1938. Leipzig 2021. ↩︎
- Vgl. dazu auch den Katalogeintrag in der Deutschen Nationalbibliothek zur Bibliothek der Reichsversammlung: https://d-nb.info/dnbn/1206544716 [10.1.2022]. ↩︎