Euphancholisch!

29. Februar 2024
von Elke Jost-Zell

Benedict Wells zum 40. Geburtstag

Der Geschichtenerzähler und Wörterzauberer Benedic Wells
Heute wird er 40 Jahre alt – der Schriftsteller und Geschichtenzauberer Benedict Wells
Foto: © Roger Eberhard

Es kursiert das Gerücht, manche Bibliothekar*innen seien des Lesens so überdrüssig, dass sie in ihrer Freizeit eine Auszeit von Büchern und dem Lesen brauchen. Das mag vereinzelt so sein. Das Hirn schätzt bekanntlich Abwechslung und Ausgleich. Und manche Beschäftigten mögen ihre Arbeit und den Freizeitausgleich lieber digital und technisch, was ja auch nichts Schlechtes ist und im modernen Bibliothekswesen ebenso wie die Lesefreude eine Existenzberechtigung hat.

Aber wer weiß – vielleicht liegt der Lese-Unlust der Lese-Muffel ja die schlichte Tatsache zugrunde, dass sie den wirklich unwiderstehlichen Lesestoff noch nicht gefunden haben? Bibliothekar*innen, in deren Leben das Lesen eine wichtige Rolle spielt, helfen nicht nur gern Informationssuchenden bei Recherchen, fast noch lieber machen sie sich auf die Suche nach Literatur für Menschen, die gerne lesen würden, aber nicht so recht wissen, was ihnen gefallen könnte.

Literatur, die bewegt, begeistert, berührt. Bücher, fesselnd und hautnah. Geschichten, die man nie mehr vergisst!

Doch nicht nur besagte Bibliotheksbeschäftigte hadern mit Gedrucktem. Statistiken zufolge lesen besonders junge Menschen immer weniger und immer unaufmerksamer. Männer vertiefen sich offenbar generell lieber in Sach- und Fachliteratur als in belletristische Werke.

Dabei gibt es so wunderbare Bücher! Für alle! Werde ich um Rat rund um die Literatur gebeten, springt mir der Name eines zeitgenössischen Schriftstellers augenblicklich in den Sinn: Benedict Wells, der heute, am 29.02.2024, seinen 40. Geburtstag feiert.

Keine Fantasy, aber fantastisch

Aus den Gesichtszügen von Benedict Wells könnte man wunderbar eine geheimnisvolle Anime-Figur zeichnen, mit großen braunen Augen, die unter einem dunklen Wuschelkopf verträumt und nachdenklich in die Welt schauen. Aber er könnte ebenso gut ein Hobbit sein, der am liebsten zuhause in seiner behaglichen Höhle in Bag End sitzt, Tee trinkt und ein Buch liest. Und nachts in der Schreibstube sein eigenes Buch schreibt, über die Abenteuer, die er erlebt, wann immer sein wildes Took-Blut erwacht.

Benedict Wells‘ Bücher sind etwas ganz Eigenes – fantastisch, aber keine Fantasy. Seine Geschichten könnten sich tatsächlich ereignet haben, so, wie er sie erzählt. Aber wer sie liest, ist bezaubert, findet mühelos hinein in diese Welten und verlässt sie nur wieder, weil die Wörter enden und man wieder allein ist, ohne sich alleine zu fühlen, gut aufgehoben in der Wellsschen Bücherwelt.

Mathias „Matze“ Hielscher, Medienunternehmer, Buchautor und Musiker, nennt sie in seinem Podcast Hotel MatzeBerührungsbestseller“, und fügt gleich hinzu: „Bei keinem anderen Autor kommen mir so oft die Tränen beim Lesen – und ich weiß, damit bin ich nicht allein.“ Oh nein, ist er nicht …

Doch was sind das für „Berührungsbestseller“, die Benedict Wells schreibt? Es gibt sechs davon, fünf sind Romane, einer eine Sammlung von Kurzgeschichten. In jedem steckt jahrelange Arbeit, unendliche Sorgfalt, Einfühlungsvermögen und virtuose Wortbildkunst. Sein erstes, 2008 im Diogenes-Verlag erschienenes Buch, ist eigentlich sein zweites Buch, Becks letzter Sommer, während Spinner, der chronologische Erstling, ein Jahr später erschien. Fast genial, der dritte Roman, erklomm 2011 bereits die Bestseller-Liste. 2016 wurde nach einer Schreibzeit von sieben Jahren Vom Ende der Einsamkeit veröffentlicht. In 38 Sprachen übersetzt, gewann er den Literaturpreis der Europäischen Union. 2018 erschien die Sammlung Die Wahrheit über das Lügen, und 2021 schließlich das jüngste Werk, der Coming-of-Age-Roman Hard Land, dessen Handlung in den USA des Jahres 1985 angesiedelt ist und bei dem ich während des Lesens oft die Melodie von Ben E. Kings Song Stand by me summte.

Ein Bild, das ich mit Hard Land in Verbindung bringe, ist das eines jungen Mannes, dem ich das Buch lieh. Er hatte seit der Schulzeit keinen Roman mehr gelesen, griff aber im Sommerurlaub zwischen Meeresgischt und Sonnenlicht immer wieder zu dem Buch und lebte darin.

Das Katalogisat des Buches Hard Land von Benedict Wells im DNB-Katalog
„Die Tinte für das Buch war nicht meine eigene Erfahrung, sondern die eigene Sehnsucht“ – Benedict Wells über seinen jüngsten Roman Hard Land
(Foto: Katalog der DNB)

Euphancholie

Euphancholie – eine Wortmischung aus Euphorie und Melancholie – so beschreibt Wells den Zustand, wenn man sehr jung ist, sich fühlt wie in dem Ultravox-Song Dancing with tears in my eyes aus dem Jahr 1984, „fast zerrissen vor Glück, aber auch wehmütig, weil der Moment bald vorbeigehen wird; man vermisst ihn schon jetzt.“ Nicht nur Jugendliche empfinden dieses Lebensgefühl, es kann auch ein Lesegefühl für Menschen jeden Alters sein. Hat man einmal angefangen, in den Seiten von Benedict Wells‘ Büchern zu blättern, ist man euphorisch, möchte sie alle sofort haben und – zackwumm! – lesen, denn sie sind das, was man im Deutschen unwiderstehlich und im Englischen unputdownable nennt. Doch man zögert, denn … es gibt ja „nur“ diese sechs, und hat man sie alle gelesen, steht man melancholisch und mit leeren Händen da. Es gibt dann kein neu zu entdeckendes Buch mehr, auf das man sich freuen kann. Nur die Hoffnung, dass der Autor weiterschreiben wird. Hoffen und warten. Und alles noch einmal von vorn lesen. Erschwerend kommt hinzu, dass dieser sympathische Mensch, der lieber durch seine Bücher spricht und sich selbst bescheiden hintanstellt, gerade eine Auszeit nimmt, um in Frankreich, oder Griechenland, zu leben und zu studieren, vielleicht Philosophie?

Für uns Leser*innen bedeutet das: Euphancholie pur. Wir tanzen in den Buchseiten, mit Tränen in den Augen.

Büchermensch und Lesewesen

Wie so viele Schriftsteller ist Benedict Wells ein fleißiger Leser, und auch für ihn fing das Schreiben mit dem Lesen an. Nach den Kinder- und Jugendbüchern entdeckte er die Werke des amerikanischen Schriftstellers John Irving, der für ihn vom Meister zum Kollegen wurde, und dessen deutschsprachige Übersetzungen ebenfalls im Diogenes-Verlag erscheinen:

„Wie Obelix in den Zaubertrank schien ich als Jugendlicher in Irvings Bücher gefallen zu sein, und selbst wenn ich mal nicht bewusst an sie dachte, steckte seine Art des Erzählens so tief in mir, dass sie immer da war […]. Ich war in seine Art zu schreiben verliebt. Vorher hatte ich mir schlicht nicht vorstellen können, dass es Bücher wie Das Hotel New Hampshire gab, so überbordend von Witz, Charme, Klugheit und mitreißenden Charakteren. Es war so viel reichhaltiger und spannender als die humorarmen und sperrigen deutschen Bücher, die wir in der Schule lesen mussten. Doch jetzt hatte ich endlich Zugang zu einer neuen und aufregenderen Welt.“

Ebenfalls zu schätzen weiß er die Orte, in denen das Lesen zuhause ist – allen voran Buchhandlungen, „denn was man schwarz auf weiß besitzt, kann man getrost mit nach Hause tragen“, wie es schon Goethe so schön in Faust sagte. Auf der Wellsschen Website findet man einen entzückenden Text über Buchhandlungen, der das Herz jedes Bücherfreundes höher schlagen lässt:

„Der Tag, an dem ich begriff, dass Buchhandlungen meine Verbündeten sind, war irgendwann im Dezember 1999. Gerade hatte ich die ersten beiden Harry Potter-Romane gelesen und gehört, es gäbe noch einen dritten. Ich war süchtig und musste ihn haben, jetzt sofort, mein Leben hing davon ab. In dem Kaufhaus, wo ich es zuvor versucht hatte, hatten sie ihn jedoch nicht, sie hatten nicht mal von der Reihe gehört („Potter? Wie schreibe ich das?“). Letzte Chance also die Münchner Buchhandlung Lehmkuhl, in die mich mein Vater als Kind öfters mitgenommen hatte. Ich kam in den Laden gerannt und stürmte die damals noch knarzende Treppe zur Kinderbuchabteilung hinauf. Und tatsächlich, da stand der ersehnte Band im Regal: Der Gefangene von Askaban. Ich griff danach wie Indiana Jones nach einer goldenen Statue, gepackt von Lesefieber und Vorfreude … Damals war ich fünfzehn, und an diesem Tag wurde mir bewusst: eine gute Buchhandlung enttäuscht dich nie, sie ist dein Freund. Egal, mit welchem Wunsch ich in den folgenden Jahren den Laden betrat, ob Hornby, Irving, McCullers, Mulisch oder Chabon, das Buch wartete dort bereits auf mich. Die Mitarbeiter*innen schienen zusätzlich auch über eine Art Geheimwissen zu verfügen, und manchmal weihten sie mich mit verschwörerischer Stimme ein; dann verließ ich das Geschäft mit einer grünweißen Tüte, in welcher der neue Ishiguro lag.“

Lesende Menschen, Buchhandlungen und Bibliotheken tauchen immer wieder in seinen Geschichten auf. In Hard Land ist der Buchtitel selbst der Titel eines (fiktiven) Gedichtbandes, den der Protagonist Sam in der Schule liest, ein Buch im Buch, dessen wahre Bedeutung erst ganz am Ende gelüftet wird – (und wie!).

Glücksmomente

Es sind diese kleinen Glücksmomente, wenn man beim Lesen auf Textstellen trifft, die leuchten. In Vom Ende der Einsamkeit erzählt die Hauptfigur Jules:

Ich lag an diesem Nachmittag auf dem Bett und schrieb an einer neuen Kurzgeschichte. Sie handelte von einer Bibliothek, in der die Bücher nachts heimlich miteinander sprachen, voreinander mit ihrem Verfasser prahlten oder sich über ihren schlechten Platz in einem der hinteren Regale beschwerten.“ Nur zu gerne hätte ich in diesem Moment Jules‘ Geschichte gelesen, rechnete aber nicht damit, dies jemals tun zu können. Doch dann fand ich die bezaubernde kleine Erzählung in dem Kurzgeschichtenband Die Wahrheit über das Lügen, las sie, und mein kleiner Glücksmoment wuchs zu einem großen an.

Als Bibliothekarin fragt man sich natürlich, ob sich Benedict Wells in ähnlicher Weise wie zu den Buchhandlungen auch zu ihren älteren Schwestern, den Bibliotheken, hingezogen fühlt. Und ob er vielleicht sogar eine Lieblings-Bibliothek hat. Über die freundliche Vermittlung des Diogenes-Verlags erhielt ich diese Antwort:

«Tatsächlich liebe ich Bibliotheken und fühle mich ihnen sehr verbunden, in allen Städten, wo ich gelebt habe, zieht es mich da sofort hin. Es sind ja letztlich etwas ältere und ruhigere Verwandte von Buchhandlungen, die ich ebenfalls sehr liebe. Ich habe nur deshalb keine Lieblingsbibliothek, weil ich am liebsten allein zu Hause und nachts arbeite. Aber wirklich große Sympathie und Verbundenheit. Bibliothekar war auch immer ein Beruf, den ich im Hinterkopf hatte.»

Vielleicht finden meine nicht-lesenden Kolleg*innen sich nach diesen freundlichen Worten ebenso wohlig geehrt wie ich und geben der schönen Literatur noch eine Chance? Versuchen Sie es einfach einmal mit den Büchern von Benedict Wells, der unser aller Kollege hätte … wollen … werden … können. Und wer weiß? Wenn er sein Studium abgeschlossen haben wird und wieder daheim ist, finden wir ihn vielleicht doch in unseren Lesesälen – schreibend, spät abends und allein – und freuen uns euphancholisch darauf, neue Bücher von ihm zu lesen.

Bis wir uns zwischen Buchseiten wiedersehen, herzliche Glückwünsche zum Geburtstag, lieber Benedict Wells!

Elke Jost-Zell

Elke Jost-Zell ist als Bibliothekarin, GND-Redakteurin und Autorin in der Abteilung Inhaltserschließung sowie für die AG Nachhaltigkeit der Deutschen Nationalbibliothek tätig.

*Nachweis Beitragsbild auf der Startseite:Foto: © Roger Eberhard

Ein Kommentar zu „Euphancholisch!“

  1. Beatrix Kramlovsky sagt:

    ha, noch ein Liebling, den wir gemeinsam haben!

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  • ISSN 2751-3238