Exil: Geschichte der Gegenwart

19. Oktober 2021
von Dr. Sylvia Asmus

Das Deutsche Exilarchiv 1933–1945 der Deutschen Nationalbibliothek befasst sich mit dem Exil in der Zeit des Nationalsozialismus. Mit den Menschen, die nach 1933 aufgrund politischer, antisemitischer und rassistischer Verfolgung zur Flucht gezwungen waren. Viele Jahrzehnte sind seitdem vergangen. Trotzdem ist das Thema aktuell.

Vier Gründe warum das Exil eine Geschichte der Gegenwart ist

Grund 1: Migration heute

Zu sehen ist ein aufgeschlagener Pass, der teilweise handschriftlich ausgefüllt ist. Auf der rechten Seite oben sind zwei Passbilder eingestanzt. Das linke Bild zeigt einen Mann, das rechte Bild eine Frau. Beide sind mittleren Alters. Der Pass hat einen Wasserschaden und ist teilweise stockfleckig.
Aufgeschlagener Pass. Die vorgedruckten Felder auf der linken Seite sind handschriftlich ausgefüllt. Auf der rechten Seite oben sind zwei Passbilder eingestanzt, die mittig gestempelt sind. Das linke Bild zeigt einen Mann, das rechte Bild eine Frau. Beide sind mittleren Alters. Darunter stehen drei Unterschriften, auch ein weiterer Stempel ist dort aufgebracht. Der Pass hat einen Wasserschaden und ist teilweise stockfleckig.

Wir leben in einem Zeitalter der Migration. In einer Zeit, in der Debatten über Begriffe „Heimat“, „Einwanderungsland“ und „Integration“ teils heftig geführt werden. Diese Debatten haben einen historischen Resonanzraum, zu dem der Nationalsozialismus und das Exil zwischen 1933 und 1945 gehören. Am historischen Gegenstand können aktuelle Fragen oft ruhiger diskutiert werden als das in hitzigen Gegenwartsdebatten möglich ist. Natürlich lassen sich die Fragen des historischen Exils und Gegenwartphänomene nicht einfach gleichsetzen. Aber: Wir können gesellschaftspolitische Muster erkennen, die bis heute wirksam sind. „Alleinreisende Jugendliche“, „Familiennachzug“, „Doppelte Staatsangehörigkeit“, „Illegale Einreise“, „Internierung“, „Sprachmischungen“, „Anerkennung von Ausbildungen“, „Netzwerke“ – die Liste ließe sich fortsetzen.

Grund 2: Transgenerationelle Folgen

Querformatige Seite eines mit Kordel gebundenen Büchleins. Auf das beige Papier ist mit schwarzer Tinte ein Schiff gezeichnet. Dazu ist ebenfalls in schwarzer Tinte in Druckbuchstaben geschrieben: „Weisst Du noch? From Mombasa to Leobschütz“
Querformatiges Büchlein mit einem Deckblatt aus gelblichem Papier. Die Seiten sind links mit einem blauen Wollfaden zusammengenäht. Auf dem Titelblatt Kinderzeichnung eines Dampfschiffs.

Bis heute wirken die Erfahrungen des Exils und der Emigration aus der nationalsozialistischen Diktatur nach. Auch in vielen Familien werden transgenerationelle Folgen deutlich. Es wird sichtbar, wie stark die erzwungene Auswanderung auch heute noch nachwirkt. Im Exilarchiv erhalten wir bis heute Bestände aus Familienbesitz. Und sehr oft setzen sich diese Familien vor der Übergabe der Bestände intensiv mit der Exilgeschichte ihrer Angehörigen auseinander. Für sie ist das eine Geschichte, die bis in ihre und unsere heutige Lebenswirklichkeit prägend ist.

Grund 3: Aktualisierung der Fragestellungen und Erkenntnisse

Auch die wissenschaftliche Perspektive auf das Exil ändert sich ständig. Aus unserer Gegenwart heraus stellen wir andere Fragen an das historische Exil, als die Generation vor uns. Wir deuten die Überlieferungen dieses Exils neu und verbinden sie mit anderen Kontexten und Phänomenen. Daraus entstehen neue Erkenntnisse – bis heute. Ein Beispiel dafür ist das Zusammendenken von Exilforschung und Migrationsforschung. Die beiden Forschungszweige agieren unterschiedlich, können aber sehr gut voneinander profitieren. Migrationsforschung kann das Interesse an der individuellen Dimension, an den subjektiven Erfahrungen intensivieren, die Exilforschung den Fokus auf die aufnehmenden Gesellschaften und Migrationsbewegungen aufgreifen.

Grund 4: Das Exilarchiv wächst

Ein gusseisernes Straßen-Blechschild des Rechtsanwalts Dr. Josef Schäfer. Es stammt aus den späten 1940er/frühen 1950er Jahren, vermutlich aus Tel Aviv oder Jerusalem. Der hebräische Text kann folgendermaßen übersetzt werden: „Dr. Josef Schäfer, Büro zur Bearbeitung von Ansprüchen und Wiedergutmachungen aus Deutschland“ – Dr. Josef Schaefer, Restitution Office
Einer der neuesten Zugänge im Exilarchiv: Ein gusseisernes Straßen-Blechschild des Rechtsanwalts Dr. Josef Schäfer. Es stammt aus den späten 1940er/frühen 1950er Jahren, vermutlich aus Tel Aviv oder Jerusalem. Der hebräische Text kann folgendermaßen übersetzt werden: „Dr. Josef Schäfer, Büro zur Bearbeitung von Ansprüchen und Wiedergutmachungen aus Deutschland“ – Dr. Josef Schaefer, Restitution Office. Foto: Deutsche Nationalbibliothek.

Die Sammlung des Exilarchivs wächst beständig weiter. Die Geschichte des Exils (und auch die Geschichte des Exilarchivs) wird also in der Gegenwart fortgeschrieben. Eine anwachsende Sammlung bedeutet auch, dass sich der Blick auf das Exil stetig erweitert: um neue Persönlichkeiten, neue Lebensgeschichten, neue Archivalien. Diese stellen wir der Öffentlichkeit zur Verfügung – sei dies für Recherchen in unseren Beständen oder in Form von kulturellen Vermittlungsangeboten.

Worüber schreiben wir in diesem Blog?

In unseren Blogbeiträgen geben wir Einblicke in die vielfältigen Themen und Tätigkeiten des Exilarchivs. Wir stellen Persönlichkeiten vor, die Botschaften für uns heute haben. Wir stellen Objekte vor, die ungewöhnlich, originell, bewegend, bedeutsam sind. Wir zeigen historische Muster auf, die für die Diskussion gegenwärtiger Fragen wichtig sein können. Wir geben Einblicke in unsere Arbeit. Wir empfehlen lesenswerte Literatur, sehenswerte Filme, hörenswerte Audiostücke. Wir laden befreundete Forscher*innen ein, zu Themen des Exils auf unserem Blog zu schreiben.

*Nachweis Beitragsbild auf der Startseite:Deutsches Exilarchiv 1933–1945 der Deutschen Nationalbibliothek, NL Iwan Heilbut, EB 96/182

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