Fragiles Erinnern – eine Kassette auf Reisen
„Fragiles Erinnern“ lautet der Titel, unter dem am 13. Februar 2023 im Dresdner Kulturpalast eine Kassette der Sammlung Gerhard & Brigitte Hartmann der Öffentlichkeit vorgestellt wurde. Die Präsentation fand im Beisein von Oberbürgermeister Dirk Hilbert statt. Anwesend waren auch Daniel Schieferdecker als Vertreter des Dresden Trust für deutsch-britische Versöhnung und zahlreiche Vertreter*innen der sächsischen und Dresdner Politik, Wirtschaft und Kultur. Die Veranstaltung bildete den Auftakt des Gedenkens an die Zerstörung Dresdens vor 78 Jahren während des Zweiten Weltkriegs.
Auch das Deutsche Buch- und Schriftmuseum (DBSM) weiß von den Verlusten und der Zerstörung, die dieser Krieg über Europa brachte und schließlich in die Heimat zurücktrug. Etwa 80% der Bestände des weltweit ältesten Museums der Buchkultur verbrannten 1943 im Bombenhagel. Die Reste wurden nach dem Zweiten Weltkrieg in die heutige Deutsche Nationalbibliothek eingegliedert. Bis heute ist das Deutsche Buch- und Schriftmuseum Teil der Bibliothek.
Die Sammlung Gerhard und Brigitte Hartmann
Unter den vielfältigen Beständen des Museums befindet sich die Sammlung Gerhard & Brigitte Hartmann. Sie ist eine Wunderkammer ganz eigener Art, die auf den ersten Blick wenig mit Buch oder Druck zu tun hat. Da finden sich grazile Damenhände aus Holz, verbranntes „Fleisch“ aus Keramik, zu Glas gefrorene Wellen… Was steckt dahinter?
Der Objektkünstler und Sammler Gerhard Hartmann verbindet auf einzigartige Weise Literatur mit bildender Kunst und Kunsthandwerk. Zunächst bittet er Autor*innen um deren Texte, am liebsten per Hand geschrieben. Mit diesen Manuskripten treten anschließend bildende Künstler*innen in einen Dialog und schaffen ein eigenes Werk. Beide Arbeiten werden am Schluss von in einer Handbuchbinderei in ein Behältnis – eine Kassette – eingefasst und somit geordnet und geschützt. Somit entstehen außergewöhnliche Kombinationen und Bezugnahmen verschiedener Gattungen.
Gerhard Hartmanns Sache ist also das Verbinden und Brückenschlagen (zwischen Kunstgattungen, zwischen Künstlern), für neue Zusammenhänge im „großen Ganzen“. Die immer experimentelleren „Kassetten“ loten die Grenzen des klassischen Buchbindehandwerks aus.
„O Heimat, zynischer Euphon“ – Text und Grafiken
Das jetzt ausgestellte Objekt ist im Kern eine Schöpfung des Dresdner Malers und Grafikers Prof. Ralf Kerbach. Dieser setzt sich bereits 2004/05 in mehreren „Malerbüchern“ mit Gedichten von Durs Grünbein auseinander: „nicht im Sinne einer Illustration, sondern mehr in einer freien Übersetzung vom Text zum Bild“ (Ralf Kerbach). Er „übersetzt“ dabei auch Grünbeins hier enthaltenes Gedicht „O Heimat, zynischer Euphon“.
Soviele Flickerbilder in den Künstlerhirnen,
Gewalt, durch Spiegelscherben exorziert, –
Uns nackte Welpen, Erben hoher Stirnen,
Hat man schon früh mit Nervennelken tätowiert.
Der kranken Väter Brut sind wir, der Mauern
Sturzgeburt. ‚Tief, tief im Deutsch…‘ ertränkt.
Enkel von Städtebauern, Fleischbeschauern:
Jedem die fremde Wirklichkeit. (‚Geschenkt.‘)
‚Bombensplitter?!‘ Gut für Stachelgaumen,
In violetten Babyschädeln installiert.
Sag, welche Schwester drückte ihren Daumen
Ins zarte Fontanell uns ungerührt?
Geröntgt, geimpft, dem deutschen Doppel-Klon,
Gebrochnen Auges, das nach Weitblick giert,
Böse verfallen sind wir, pränatal dressiert.
‚Deutschland?‘… O Heimat, zynischer Euphon.
Es ist ein bitterer, verrätselter Text aus dem Jahre 1989, als der Autor das noch vielerorts in Trümmern liegende Dresden vor Augen hatte. Ein Text, der mit Deutschland hadert, gerichtet an uns als „Enkel von Städtebauern [und] Fleischbeschauern“, der schließlich auch im lieben, trauten Wort „Heimat“ einen „zynischen Euphon“ sieht – also wörtlich ein „wohlklingendes Wort“, das bitter und vergiftet ist.
Kerbachs damalige Zeichnungen bilden die Grundlage für die kräftigen Holzschnitte, die 2013 als Druckgrafiken zu dem hier ausgeklappten Leporello zusammengefasst werden. Erschienen sind diese in einer Auflage von zwölf Exemplaren. Kerbach setzt Grünbeins Zeilen in drastische, schwere schwarze Bilder und morbide Symbole. Eine Nacht voller Schädel. Es ist Kerbachs bislang letztes Künstlerbuch zu zeitgenössischer Literatur.
Gerhard Hartmann – seit Langem mit Kerbach bekannt – ist von dessen Arbeit beeindruckt. Als Angehöriger des Jahrgangs 1932 hat er selbst noch gut Fliegeralarme und Bombenangriffe auf seine badische Heimat in Erinnerung. So erwirbt er neben dem Künstlerbuch damals auch die zugehörigen Druckstöcke und Skizzen.
Die „Dresden-Kassette“
Als Hartmann nach Jahren endlich Zeit für das Projekt findet, fertigt die Buchbinderin Claudia Grosse aus Lindau (am Bodensee) für das Buch und die zugehörigen Materialien die innenliegende Kassette mit Leinenbezug. Das markante äußere Gehäuse – zerrissener und rostiger Stahl – ist schließlich das Werk des Lindauer Schlossermeisters Karl-Heinz Baas.
Als letztes kommt der Bombensplitter. Er ist ein massives Originalstück von über 30 cm Länge, der zugleich kausal am Anfang des Konzeptes steht: Der Splitter ist einer der tödlichen stählernen Blitze, die die Stadt zur Ruine machten.
Durs Grünbeins Gedicht im Zentrum des Werkes mahnt daran, das schwierige und stets schmerzhafte Erinnern an Dresden nie völlig von der historischen Verantwortung zu trennen. Mit dem Kunstobjekt von Gerhard Hartmann und Ralf Kerbach hat dieses Erinnern seinen festen Platz auch im Deutschen Buch- und Schriftmuseum gefunden.
Die „Dresden-Kassette“ der Sammlung Gerhard und Brigitte Hartmann ist noch bis zum 6. März 2023 in der Zentralbibliothek im Dresdner Kulturpalast zu sehen. Der Eintritt ist frei.