Geschaffen als Geschenk
Wie die Sammlung Gerhard und Brigitte Hartmann ins Museum kam
Selbst in den reich bestückten Magazinen des Deutschen Buch- und Schriftmuseums fällt die Sammlung Brigitte und Gerhard Hartmann als Wunderkammer ganz eigener Art auf. Da finden sich grazile, hölzerne Damenhände, zu Glas gefrorene Wellen, verkohltes ‚Fleisch‘ aus Keramik… In 56 Kassetten hat das Sammlerehepaar Schrift, Grafik und Buchbindekunst zusammengebracht und die so entstandenen Objekte seit 2018 dem Museum geschenkt. Diese stellen einen wertvollen und zugleich den jüngsten Ausschnitt ihres jahrzehntelangen Wirkens als Sammler und Konzeptionisten dar, bei dem sie zuletzt zu immer ausgefalleneren gestalterischen Lösungen gekommen sind.

Gerhard Hartmann, geboren 1932, studiert an der Kunsthochschule Karlsruhe Gebrauchsgrafik und arbeitet anschließend lange Jahre in diesem Beruf.1 Schon als Kind und Jugendlicher ist er eigener Auskünfte nach „sammelanfällig“ gewesen, zunächst für Briefmarken und Münzen.2 Selbst unter den beschränkten finanziellen Möglichkeiten während seiner Studienzeit sammelt er über Kontakte aus seinen Malklassen Werke anderer Künstler. Hieraus entfaltet sich mit seiner Frau ab den späten 1960ern eine „überraschende, sporadisch aktive Sammeltätigkeit“ auf diesem Gebiet,3 die über 25 Jahre hinweg zu einer international aufgestellten, 4.000 Blatt starken Sammlung führt, die seit 1994 in Albstadt (Baden-Württemberg) ihren Sitz gefunden hat.4
Noch aus dieser Beschäftigung mit Grafik erhält Hartmann im Jahr 2001 den Impuls zu seinem neuen Sammlungsvorhaben: durch ein illustriertes Buch mit Kurzgeschichten, das er von einem bekannten Künstler zugesandt bekam. Hartmanns besonderes Interesse gilt schon länger der Handschrift, die er „auch in Zukunft nicht in Vergessenheit geraten lassen“ will.5 Ausgehend von dieser Wertschätzung der Handschrift als „direktem Vermittler der Gedanken“,6 die sich nahtlos an sein Sammeln von Informel-Grafiken anschließt, bemüht er sich seitdem, handschriftliche Texte mit grafischen Arbeiten in einen Dialog zu setzen. Zunächst entscheidet er sich für einen bestimmten Autor, dann für einen bildenden Künstler. Letzterer erhält daraufhin die handschriftlich verfassten Texte oder annotierten Typoskripte, um dazu ein eigenes Werk zu schaffen. Beide Arbeiten werden von einer Buchbinderin in passender Weise eingefasst, somit sowohl geordnet als auch geschützt. Die so entstehenden Werke können damit als Kollaboration mit vier beteiligten Parteien betrachtet werden.

Die Hartmanns wollen von Anfang an die Arbeiten nicht den Blicken der Öffentlichkeit entziehen. Neben den vielen Ausstellungen (u.a. in Literaturhäusern und Bibliotheken in Wien, Hannover, Leipzig, Jena) ist für die Kassetten daher die dauerhafte Aufbewahrung in öffentlichen Einrichtungen angedacht. Innerhalb der Sammlungen des Deutschen Buch- und Schriftmuseums stellt dieses Ensemble eine Besonderheit dar, da seine Stücke trotz ihres erheblichen finanziellen Aufwandes nicht für den Buch- oder Kunstmarkt geschaffen werden und häufig nicht einmal längere Zeit im Besitz ihrer Schöpfer bleiben, sondern explizit geschaffen werden, um in die Museumssammlungen einzugehen und auf diese Weise der Öffentlichkeit zur Verfügung zu stehen.

Mit ihren Überlegungen tritt das Ehepaar zunächst an die Vorarlberger Landesbibliothek im österreichischen Bregenz heran, welche über etwa 15 Jahre etwa 65 Kassetten aufnimmt und zwei Bücher dazu publiziert.7 Das zweite erscheint im Jahr 2017 u.a. mit einer detaillierten Beschreibung der einzelnen Kassetten. Für die Verfassung dieses Kapitels denkt Hartmann ursprünglich an die Leipziger Buchbinderin Bettina Wija-Stein, mit der er bereits oft zusammengearbeitet hat. Diese verweist auf die Expertise des Buch- und Schriftmuseums der Deutschen Nationalbibliothek Leipzig. Erste Verbindungen in die Buchstadt haben sich bereits im Jahr 2014 durch eine Ausstellung beim Bibliophilen-Abend ergeben.8 Helma Schaefer, eine ehemalige Mitarbeiterin des Museums und Einbandspezialistin, erklärt sich bereit, am Katalog mitzuwirken. Da außerdem Jürgen Thaler, Fachreferent an der Vorarlberger Landesbibliothek in Bregenz und Herausgeber des Katalogs, zugleich kollegiale Verbindungen zum Museum unterhält, nutzt Hartmann die Gelegenheit zu einem Besuch mit ihm in Leipzig, wobei sich ein erster direkter Kontakt mit Gabriele Netsch, der damaligen Sammlungsleiterin im Bereich Vor- und Nachlässe, ergibt, auch wenn damals von einer Schenkung noch keine Rede war.
Parallel dazu entwickelt sich bereits seit längerem ein Kontakt mit Georg Ruppelt, Direktor der Gottfried-Wilhelm-Leibniz-Bibliothek Hannover, der 2013 einen Aufsatz zu den zahlreichen Exlibris verfasst, die Hartmann für seine geliebte Papageiendame Coco anfertigen lässt.9 Auch er weist auf das Buch- und Schriftmuseum hin, doch passen die Exlibris nicht zu den Sammlungsrichtlinien des Hauses. Im Jahr 2017 wird eine Ausstellung der Kassetten der Sammlung Hartmann in Hannover vorbereitet.10 Ruppelt ist von Hartmanns Stücken begeistert und wirbt dafür, die Kassetten einem möglichst breiten Publikum zur Verfügung zu stellen. Bereits Jahre zuvor, bei einer Ausstellung im Hermann-Hesse-Höri-Museum Gaienhofen,11 brachte Ulrich Ott, ehemaliger Direktor des Literaturarchivs Marbach, Hartmann auf die Idee, seine Sammlung auch in anderen Institutionen unterzubringen.

Auf solche Weise angeregt, nimmt Hartmann zum Museum Kontakt auf. Nachdem Ende August 2017 eine erste Liste der vorgesehenen Kassetten übermittelt wird, treffen diese im Mai 2018 an ihrem neuen Bestimmungsort ein. Der Schenkungsvertrag von 29. Mai 2018 schafft die rechtliche Grundlage für die Sammlung Gerhard und Brigitte Hartmann in den Beständen des Deutschen Buch- und Schriftmuseums, die seither beständig ergänzt wird.
Die Stücke werden zuweilen von den verantwortlichen Buchbinderinnen zugeschickt oder angeliefert, sodass sowohl Hartmann als auch die beteiligten Künstler öfters zunächst kein Bild der fertigen Kassette vor Augen haben. In diesen Fällen sind die Werke nicht nur explizit für das Museum geschaffen, sondern haben überhaupt erst hier ihre ‚Premiere‘ in ihrer fertigen Form. Das Museum darf sich daher auch über Besuche von Schriftstellerinnen freuen, die ihre Beiträge zu Hartmanns Projekten in ihrer letztendlichen Form besichtigen wollen. Der avantgardistische Anspruch, mit den Kassetten die Grenzen des buchbinderisch Möglichen auszuloten, führt dabei auch zu einigen Nachjustierungen. So muss die Kassette Im Holz, die im August 2020 eintraf, leider aus konservatorischen Gründen zurückgewiesen werden. In dem massiven Baumstamm, in den die Schriftstücke und Bilder eingelassen waren, befanden sich Holzwürmer. Das Risiko für die anderen Magazinbestände war nicht tragbar.
Davon aber lässt sich Gerhard Hartmann keineswegs abschrecken. Er will sein „Pensum“ von etwa 10 neuen Stücken pro Jahr beibehalten. Die Sammlung wächst also weiter, auch wenn jedes der einzelnen Stücke eine „selbstzufriedene“, in sich abgeschlossene Welt bildet. Geschaffen als Geschenke, werden diese Objekte im Deutschen Buch- und Schriftmuseum auch in Zukunft Beispiele für künstlerisch-handwerkliche Zusammenarbeit ganz eigener Art sein.

Dieser Beitrag ist ein Kapitel aus der Publikation „Tiefenbohrung. Eine andere Provenienzgeschichte“. Infos zum Gesamtprojekt zur Provenienzgeschichte des Deutschen Buch- und Schriftmuseums sind hier zu finden: dnb.de/tiefenbohrung
- Gerhard Hartmann: „Sammler sind glückliche Menschen“. Typoskript, Slg. Gerhard und Brigitte Hartmann, Deutsche Nationalbibliothek; Michael Groß: Gerhard Hartmann: Bis zum 90. wird weiter gesammelt. Ostthüringer Zeitung, 17.06.2017. ↩︎
- Hartmann: „Sammler …“ ↩︎
- Ebd. ↩︎
- Clemens Ottnad: Die Sammlung Gerhard und Brigitte Hartmann in der Galerie Albstadt. In: Graphische Kunst – Internationale Zeitschrift für Buchkunst und Graphik 52/53 (1999), Heft 1, S. 3–9. ↩︎
- Hartmann: „Sammler …“ ↩︎
- Ebd. ↩︎
- Sammlung Hartmann – Kassetten. Hg. v. Jürgen Thaler. Heidelberg/Berlin 2017; Im Auftrag der Schrift. Die Sammlung Hartmann. Hg. v. Jürgen Thaler. Heidelberg/Berlin 2012. ↩︎
- 12. November bis 23. Dezember 2014. ↩︎
- Georg Ruppelt: Die Exlibris der Gelbstirnamazone CoCo. In: BIT Online 3/2013, S. 214–215. ↩︎
- 16. September 2017 bis 13. Januar 2018. ↩︎
- Vermutlich im Frühjahr 2012. ↩︎
Benjamin Sasse
Benjamin Sasse ist Sammlungsleiter für die Vor- und Nachlässe und geschlossene Sammlungen im Deutschen Buch- und Schriftmuseum.