Im Gespräch mit digitalen Zeitzeugnissen
Johanna Schilling war vom 22. Januar bis 2. Februar 2024 Schülerpraktikantin im Deutschen Exilarchiv 1933-1945 der Deutschen Nationalbibliothek.
Ich setze mich vor die großen schwarzen Bildschirme und biege das Mikrofon zurecht. Zwei ältere Menschen sitzen vor mir. Auf die Begrüßung „Hallo Inge “ antwortet die Frau mit „Willkommen“. Auf mein „Hallo Kurt“ reagiert der Mann auf dem linken Bildschirm ebenfalls freundlich. Ein wenig seltsam fühlt es sich zunächst schon an, meinen beiden virtuellen Gesprächspartnern gegenüber zu sitzen. Ich bin irgendwie froh, dass niemand meine ersten Fragen hören kann. Aber Inge Auerbacher und Kurt S. Maier auf den Bildschirmen reagieren, sie antworten auf meine Fragen. Ich gewöhne mich an diese Form des Gesprächs. Ich traue mich mehr und die Bildschirme treten mehr und mehr in den Hintergrund. Sie sind Menschen. Ihre Antworten sind echt. Sie beantworten meine Fragen; mal präziser, mal ausschweifender, mal mit einem einfachen „nein“, mal minutenlang. Kurt erzählt mir von dem Kartoffelsalat seiner Oma, Inge von ihrer Puppe, sie schildern mir aber auch den Alltag in den Lagern oder ihre ersten Erfahrungen mit Antisemitismus. Der Austausch wird nicht langweilig, ich frage solange bis mir nichts mehr einfällt. Ich könnte mir vorstellen, dass ich vor analogen Menschen mehr Hemmungen hätte, wie die Angst, dass die Fragen vielleicht blöd klingen oder es zu viele sind.
Am nächsten Tag begleite ich einen interaktiven Rundgang durch die Ausstellung „Frag nach!“ mit einer 10. Klasse. Die Einblicke in Kurt S. Maiers und Inge Auerbachers Leben, die wir uns selbstständig erschließen und anschließend gemeinsam besprechen, bieten eine gute Grundlage für Fragen. Etwa eine Stunde später sitzen wir alle zusammen im Interviewraum. Die Schüler*innen wirken etwas aufgeregt. Das Eis bricht aber schnell, als die KI die Begrüßung falsch zuordnet: auf „Hallo Inge“ kommt ein kurzes „Tschüss“. Alle lachen. Den Anfang zu machen und die erste Frage zu stellen, fällt den Schülern schwer. Zwei Mädchen neben mir diskutieren, ob sie ihre Frage stellen sollen. Einige Schüler*innen trauen sich.
Die meisten stellen ähnliche Fragen wie ich zum Thema Diskriminierung, Inges Zeit im Ghetto Theresienstadt, Kurts Haft im Lager Gurs oder der Kindheit. Zu meiner Überraschung auch zu den Hobbies. Da Inges digitales Interview noch neuer ist und noch trainiert werden muss, bereitet die KI, die die Interaktion ermöglicht, noch einige Probleme. Manche Fragen müssen umformuliert und erneut gestellt werden, was das Gespräch weniger real wirken lässt. Trotzdem kommen mit der Zeit immer mehr Fragen und als sich ein Teil der Gruppe schon verabschiedet, wollen die anderen noch bleiben, jetzt wo ihre Klassenkamerad*innen weg sind, trauen auch sie sich.
Das Feedback der Schüler*innen ist alles in allem positiv. Die Kritik kann ich aber auch nachvollziehen. Dass Antworten nicht immer konkret oder passend sind, man keine Rückfragen stellen kann und dass das Gespächsgefühl anders als in einer persönlichen Interaktion ist, sehe ich ebenfalls so. Mit einem analogen Interview mit einer anwesenden Person kann man es nicht vergleichen.
Alle sind sich aber einig in der Frage, ob diese Form des Zeitzeugnisses sich eignet, um Zeitzeug*innengespräche für die Zukunft zu bewahren: JA! Zeitzeug*innen bieten wichtige Perspektiven, Berichte von dem was geschehen ist aus eigener persönlicher Sicht, sowie ein Gesicht und ein Leben zu den Zahlen und Ereignissen. Das Problem, dass die Zeit immer weiter voranschreitet und die Menschen, die den Holocaust überlebt haben, immer älter werden, wird durch die digitalen interaktiven Interviews sehr gut angesprochen. Die digitalen interaktiven Interviews wollen kein Ersatz zum direkten Gespräch mit Zeitzeug*innen sein, aber schon bald werden sie es sein müssen. In hundert Jahren sollten ihre Eindrücke als Teil der Geschichte noch geschildert werden können und digitale Zeitzeugnisse machen das möglich. Natürlich ist es schöner, einen echten Menschen vor sich zu haben. Aber es ist auch wichtig, möglichst vielen Menschen auch in Zukunft eine Gesprächssituation mit Zeitzeug*innen zu ermöglichen.
Den Schüler*innen hat das Gespräch sichtlich Spaß gemacht und mir auch. Es hat Interesse an den Geschichten der Zeitzeugin und des Zeitzeugen geweckt und einem die Möglichkeit gegeben, seine eigenen Fragen zu stellen. Die wurden nicht nur inhaltlich beantwortet sondern auch in Form von wahrnehmbaren Emotionen der beiden. Besonders berührt hat mich Inges Erzählung von ihrem Auftritt im Bundestag, als sie das Gefühl beschrieb, überlebt zu haben, noch da zu sein, anders als die Nazis. Es gibt mir eine gewisse Vorstellung davon, wie stark diese Frau ist und wie sie sich nicht hat unterkriegen lassen. Bewegend war auch Kurts Schilderung von der Berührung einer toten Frau im Lager Gurs. Es ist einfach etwas anderes, die Menschen darüber reden zu hören, als einen Text zu lesen.