Im Gespräch mit einem digitalen Zeitzeugen
Ein Gespräch mit Kurt S. Maier beginnt meist mit der Begrüßung, die er mit einem freundlichen „Guten Tag, wie geht es Ihnen?“ erwidert. Doch Kurt S. Maier ist nicht persönlich anwesend. Es ist sein interaktives Zeitzeugnis, das hier spricht.
Im Jahr 2021 hat sich das Deutsche Exilarchiv entschieden, ein interaktives Zeitzeugen-Interview mit Kurt S. Maier zu erarbeiten. Diese besondere Form des Interviews ermöglicht es, mit Zeitzeug*innen in eine Frage-Antwort-Interaktion zu treten, ohne dass sie selbst anwesend sind. Das Konzept mit dem Namen „Dimensions in TestimonySM“ wurde vor einigen Jahren von der US-amerikanischen USC Shoah Foundation – The Institute for Visual History and Education entwickelt. Es soll auch zukünftigen Generationen die Möglichkeit geben, im Gespräch mit Überlebenden der Shoah etwas über diese Zeit zu erfahren und die Erinnerung daran wach zu halten.
Kurt S. Maiers Lebensgeschichte beginnt im badischen Kippenheim. Dort wird er am 4. Mai 1930 geboren. Zur Familie gehören seine Eltern Siegfried und Charlotte Maier und sein älterer Bruder Heinz. Seit August 1938 bereitet die Familie die Emigration in die USA vor, um der Ausgrenzung und Verfolgung durch die Nationalzozalisten zu entgehen. Am 22. Oktober 1940 wird die Familie Maier in das Lager Gurs am Rande der Pyrenäen deportiert. Weil sie Ausreisepapiere für die USA erhalten, können sie das Lager im Frühjahr 1941 verlassen. Sie gehören zu den wenigen Inhaftierten, die später nicht in die Vernichtungslager deportiert werden. Über Marseille und Casablanca emigriert die Familie Maier in die USA. Sie erreichen New York am 9. August 1941. Nach Schulbesuch und Militärdienst in der US-Armee nimmt Kurt S. Maier ein Studium der deutschen Literatur und Geschichte auf, das er 1969 mit einer Doktorarbeit abschließt. Seit 1978 bis heute arbeitet Kurt S. Maier als Bibliothekar an der Library of Congress. Für sein Engagement als Zeitzeuge der Shoah wurde er mehrfach geehrt.
Im Deutschen Exilarchiv werden zahlreiche Fotografien und Dokumente als Splittervorlass von Kurt S. Maier aufbewahrt und es besteht seit vielen Jahren eine enge Verbindung. So war es nicht schwer, ihn davon zu überzeugen, an der Erarbeitung eines interaktiven Zeitzeugnisses mitzuwirken, und Sylvia Asmus, der Leiterin des Exilarchivs, seine Geschichte noch einmal zu erzählen.
Zur Produktion des Interviews reisten Sylvia Asmus und ich im Juli 2021 nach Washington, D.C., dem Wohnort von Kurt S. Maier. Im Gepäck einen umfassenden Interviewleitfaden, der in den Monaten zuvor gemeinsam mit der USC Shoah Foundation erarbeitet worden war. Ein Schwerpunkt wurde dabei auf Fragen zur Exilgeschichte gelegt, denn erstmals beschäftigt sich ein interaktives Interview mit diesem Themenkomplex. In einem Studio vor Ort wurde an fünf Tagen das Interview aufgezeichnet. Ausgestattet war das Studio mit einer Green-Screen-Umgebung sowie allerhand Licht- und Tontechnik. Für die Aufzeichnung des Interviews wurde außerdem ein spezielles Kamera-Rig mit neun Kameras ins Studio geliefert.
Bevor es losgehen konnte mit der ersten Interviewfrage mussten auch ganz praktische Dinge geklärt werden: Welche Kleidung würde Kurt S. Maier während des Gesprächs tragen? Diese musste immer gleich sein und wurde also mehrfach gekauft. Welcher Sessel war geeignet, um darin viele Stunden täglich zu sitzen? Und auch die sogenannte „Resting Pose“, also die Sitzposition, die er jeweils zu Beginn und zum Ende seiner Antwort einnehmen sollte, musste mit Kurt S. Maier abgestimmt werden.
Die Fragen, die dann folgten, deckten ein breites Spektrum ab: Sie thematisierten u.a. die Kindheit in Kippenheim, die erste antisemitische Diskriminierungserfahrung oder die Ankunft im Zufluchtsland USA. Aber auch nach Gegenwärtigem wie dem heutigen Deutschland, der AfD oder der Black-Lives-Matters-Bewegung wurde gefragt. Am Ende der Interviewwoche waren 900 Antworten von Kurt S. Maier zusammengekommen.
All diese Antworten lagern nun – unterteilt in einzelne Antwortclips – in einer Datenbank und sind dort mit den ursprünglich gestellten Fragen sowie Fragenvarianten verknüpft. Wird eine Frage an das interaktive Zeitzeugnis von Kurt S. Maier gerichtet, sorgt künstliche Intelligenz dafür, dass eine möglichst passende Antwort ausgespielt wird. Das ist schon viele Male passiert, denn währen der aufwendigen Postproduktionsphase, die weiterhin andauert, haben schon über 80 Gruppen und viele Einzelperson das Zeitzeugnis befragt. Dabei haben sie nicht nur einiges über das Leben von Kurt S. Maier erfahren, sondern mit ihren Fragen auch zur Verbesserung der künstlichen Intelligenz beigetragen.
Ab September 2023 wird das interaktive Zeitzeugnis im Wechselausstellungsbereich des Deutschen Exilarchivs in Frankfurt am Main präsentiert werden. Kurt S. Maier wird den Besucher*innen dann lebensgroß gegenübersitzen und deren Begrüßung mit einem freundlichen „Guten Tag, wie geht es Ihnen?“ erwidern. Anschließend wird es darum gehen, ihm viele Fragen zu stellen und ihm dann – das ist vielleicht das Wichtigste – gut zuzuhören.
111-Geschichten-Redaktion
Zum 111. Jubiläum haben wir, die Beschäftigten der Deutschen Nationalbibliothek, in Erinnerungen und Archiven gestöbert. Von März bis November präsentieren wir hier 111 Geschichten aus der Deutschen Nationalbibliothek.