Sammlung Sozialistica

18. Februar 2025
von Jörg Räuber und Emily Löffler

Sozialistische und revolutionäre wie auch liberale, demokratische und radikale Schriften

Die heute dem Deutschen Buch- und Schriftmuseum zugeordnete spezielle Sammlung von Publikationen unter dem Titel „Sozialistica“ umfasst knapp viertausend Publikationen, die in rund dreißig Jahren von 1971 bis etwa 1999 zusammengetragen wurden. Die Sammlung sollte „sozialistische und revolutionäre Schriften aus der Zeit von 1830 bis 1913 vereinigen“1.

Blick ins Magazin und in die Sondersammlung Sozialistica des Deutschen Buch- und Schriftmuseums. Foto: DNB / Laura Stein

Die Entstehung der „Sozialistica“-Sammlung

Das Protokoll einer „außerordentlichen Sammelgrundsatzbesprechung ‚Sozialistica‘ am 14. September 1970“ teilt unter Punkt 1 lapidar mit: „Die Sondersammlung ‚Sozialistica‘ umfasst den Zeitraum 1830–1912.“2 Die Begründung dieser Sammlung war im Herbst 1970 also bereits grundsätzlich beschlossen und man kümmerte sich um bibliotheks-praktische Fragen wie Beschaffung, Inventarisierung, Katalogisierung und schließlich Unterbringung der künftig in diese Sammlung aufzunehmenden Werke. Inhaltliche Vorschläge, welche Werke überhaupt eine solche Sammlung bilden würden, sollten für die Kollegiumssitzung der Deutschen Bücherei am 15. November 1970 vorgelegt werden. Die dafür zuständige damalige Abteilung Beschaffung verfasste dann auch ein fünfseitiges Papier zur „Umfangsbestimmung der Sondersammlung Sozialistica (Als Grundlage zur Abfassung von Sammelgrundsätzen)“.

Über die neue Sammlung in der Deutschen Bücherei berichtete Hans Stern, der für die Beschaffung antiquarischer Werke aus dem Ausland zuständige Bibliothekar, im Leipziger „Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel“. Das Heft erschien am 15. September 1970, also einen Tag nach der eingangs zitierten Besprechung. Aus dieser zeitlichen Folge lässt sich unschwer schließen, dass die gedanklichen Vorbereitungen für diese Sammlung schon über einen längeren Zeitraum stattfanden und intern diskutiert wurden.

Politische und institutionelle Hintergründe

Blick ins Magazin und in die Sondersammlung Sozialistica des Deutschen Buch- und Schriftmuseums. Foto; DNB / Laura Stein

Den Anlass für die Schaffung einer solchen, zeitlich vor den Sammlungsbeginn der Deutschen Bücherei hinausreichenden Spezialsammlung ist nirgends schriftlich fixiert. Er lässt sich jedoch aus Sterns Börsenblatt-Beitrag ablesen. Er bezieht sich hier ausdrücklich auf den Beschluss des Politbüros des Zentralkomitees der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) vom 22. Oktober 1968 „Die weitere Entwicklung der marxistisch-leninistischen Gesellschaftswissenschaften in der DDR“. Darin wird verklausuliert die Hinwendung der DDR zum kulturellen Erbe, zu dessen Aufnahme in den herrschenden politischen Kanon und damit seiner Erhaltung und Pflege verkündet. Dieser gesellschaftlichen Positionierung musste sich auch die Leitung der Deutschen Bücherei verpflichtet fühlen. Die Pläne der Deutschen Bücherei wurden aufmerksam registriert und bereits am 16. Oktober 1970 traf ein Brief aus dem Institut für Marxismus-Leninismus beim Zentralkomitee der SED (IML) ein, in dem dessen Direktor die zentrale Stellung seines Instituts und dessen Bibliothek beim Umgang mit der Geschichte der Arbeiterbewegung hervorhob. Besonders Hans Sterns Betonung der „Beschaffung von Erstdrucken“ dürfte hier alarmierend gewesen sein. So bedurfte es noch einer „sachlich und kollegial“3 verlaufenden Aussprache zwischen der Leitung der Bibliothek des IML und zwei Vertretern der Deutschen Bücherei am 18. Dezember 1970 in Berlin. Im Ergebnis wurden sieben Festlegungen für eine Zusammenarbeit protokolliert, die sowohl die Vorrangstellung des Instituts anerkannten als auch der Deutschen Bücherei den Aufbau der Sammlung ab 1971 ermöglichten.

Wachstum und Besonderheiten der Sammlung

Von Beginn an waren die rund 145 Bände und zahlreichen Zeitschriften als Grundstock der Sammlung betrachtet worden, die der Stuttgarter Verleger Johann Heinrich Wilhelm Dietz 1916 und 1917 der Deutschen Bücherei „als Geschenk überwiesen“ hatte. Mit der Überlassung seiner „grossen sozialdemokratischen Privat-Bibliothek“ habe die Deutsche Bücherei „auf diesem Gebiet einen so vollständigen Bestand wie kaum eine andere öffentliche Bibliothek“, wird bereits im Bericht über die 27. Sitzung des Geschäftsführenden Ausschusses der Deutschen Bücherei am 23. September 1916 betont.4 In diesem Bestand befinden sich zahlreiche wertvolle Erstdrucke und seltene Ausgaben der Werke von Karl Marx, Friedrich Engels, Ferdinand Lassalle, Franz Mehring, August Bebel, Maxim Gorki oder auch Lenins „Was tun?“ in der in Stuttgart 1902 erschienenen russisch-sprachigen Erstausgabe.

Ab 1971 wurde die Sammlung durch rund 200 antiquarische Erwerbungen pro Jahr ergänzt, so dass die Sammlung auf einen Bestand von 3.231 Monografien und 666 Zeitschriften-Ausgaben anwuchs. Durch die antiquarischen Erwerbungen über einen rund zwanzigjährigen Zeitraum sowie durch Umsetzungen inhaltlich und formal relevanter Werke aus dem allgemeinen Bestand der Bibliothek ist nicht auszuschließen, dass sich auch in dieser Sammlung Exemplare befinden, deren Provenienz noch genauer zu untersuchen ist.

Dies gilt zum Beispiel für acht Schriften, die 1933 in den Allgemeinbestand der Deutschen Bücherei eingingen und nach 1970 in die Sozialistica-Sammlung überführt wurden: Für sie verrät der Abgleich mit dem Zugangsbuch, dass das Polizeipräsidium Leipzig die Bände zwischen Juli und Oktober 1933 an die Bibliothek abgeliefert hat. Zu diesem Zeitpunkt hatte das NS-Regime die SPD und KPD bereits verboten, die Gewerkschaften zerschlagen und zahlreiche Mitglieder der Arbeiterbewegung verhaften lassen.5 Die übergebenen Bücher wurden wahrscheinlich während dieser Verfolgung durch die Polizei beschlagnahmt. In drei Exemplaren haben ihre Vorbesitzer handschriftliche oder eingestempelte Spuren hinterlassen, die Ansätze für weitere Recherchen liefern. So lässt sich der Eigner des Stempels „M. König, Leipzig, Dufourstr. 26 II“ mit Hilfe historischer Adressbücher als „Moritz König, Privatbeamter“ identifizieren.6 In der Dufourstraße wohnte er zwischen 1914 und 1936, danach verliert sich seine Spur. Im Melderegister der Leipziger Polizei fehlt seine Karteikarte, auch in den Gefangenentagebüchern des Leipziger Polizeigefängnisses wird er nicht aktenkundig. Ob König als Sozialdemokrat verhaftet wurde und unter welchen Umständen sich die Wege von Buch und Vorbesitzer trennten, ist daher noch unklar.

Unbestritten ist hingegen, warum gerade diese acht Bände nach 1970 in die Sozialistica-Sammlung überführt wurden: Wie auch bei der restlichen Sammlung handelt es sich um sozialdemokratisches „Kleinschrifttum“ wie dünne Agitationsheftchen oder Broschüren, Flugschriften und vor allem „Organisationsliteratur“ der entstehenden und erstarkenden Gewerkschaften. Dieses Profil dürfte auch heute noch eines der charakterisierenden Merkmale der seit 2008 als abgeschlossen geltenden Sammlung sein.

Als solche wurden die „Sozialistica“ in die Sammlungen des Deutschen Buch- und Schriftmuseums übergeben, womit sich der Bogen zur Gründungsgeschichte wieder schließt. In Hans Sterns Börsenblatt-Beitrag zur Sondersammlung wird mitgeteilt, dass „deren Aufbau und Pflege vor allem die beschaffenden Dienststellen und das Deutsche Buch- und Schriftmuseum betraut sind“. Und die bereits eingangs zitierte Sammelgrundsatzbesprechung am 14. September 1970 legt unter Punkt 6 fest: „Buchdruckergewerkschafts-Objekte und typographische Besonderheiten dieser Sondersammlung sind dem Deutschen Buch- und Schriftmuseum zu melden.“7

Dieser Beitrag ist ein Kapitel aus der Publikation „Tiefenbohrung. Eine andere Provenienzgeschichte“. Infos zum Gesamtprojekt zur Provenienzgeschichte des Deutschen Buch- und Schriftmuseums sind hier zu finden: dnb.de/tiefenbohrung.

Jörg Räuber

Jörg Räuber war bis Anfang 2024 für die Deutsche Nationalbibliothek Leipzig tätig. In seinen über 40 Berufsjahren war er in verschiedenen Abteilungen beschäftigt, zuletzt als Leiter der Benutzung.

Emily Löffler

Dr. Emily Löffler ist in der Deutschen Nationalbibliothek für die Provenienzforschung verantwortlich.


  1. Stern, Hans: Sammlung „Sozialistica“ in der Deutschen Bücherei. – In: Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel. – Leipzig 37, 1970, H. 37, S. 749 ↩︎
  2. Hausarchiv der Deutschen Nationalbibliothek, Leipzig (ADNBL), 527/9 Bl. 1 ↩︎
  3. Ebenda, Bl. 15 ↩︎
  4. Ebenda, Bl. 18 ↩︎
  5. Cordula Reuß und Anett Krause (Hrsg.), NS-Raubgut in der Universitätsbibliothek Leipzig: Katalog zur Ausstellung in der Bibliotheca Albertina, 27. November 2011-18. März 2012 (Schriften aus der Universitätsbibliothek Bd. 12), Leipzig: Universitätsbibliothek 2011, S. 43-48. ↩︎
  6. Leipziger Adreß-Buch 1933 (Jahrgang 112), Leipzig: Verlag August Scherl 1933, S. 535. ↩︎
  7. Hausarchiv der Deutschen Nationalbibliothek, Leipzig (ADNBL), 527/9, Bl. 1 ↩︎
*Nachweis Beitragsbild auf der Startseite:Foto: DNB / Laura Stein

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