Unsichtbar und gut gestimmt

8. April 2022
von Ruprecht Langer

Historische Tonträger im Deutschen Musikarchiv – Teil 2

Das Deutsche Musikarchiv der Deutschen Nationalbibliothek sammelt nicht nur sämtliche aktuell in Deutschland veröffentlichten Medien, es verfügt auch über eine beeindruckende Sammlung historischer Tonträger. Einige der wichtigsten, interessantesten und zum Teil kuriosesten Exemplare sollen in dieser Reihe näher beleuchtet werden.

Nein, Klavierrollen sind keine Tonträger im eigentlichen Sinne. Sie konservieren keinen aufgezeichneten Klang, sondern codieren durch sogenannte Lochschrift Informationen, um ein mechanisches Musikinstrument zu steuern. Wenn es sich bei diesem Instrument aber um einen Reproduktionsflügel handelt, so kann das Spiel einer Pianistin oder eines Pianisten praktisch aufgezeichnet werden. Von den 3.000 Klavierrollen im Deutschen Musikarchiv gibt es einige, die das Spiel von Sergei Rachmaninow, Maurice Ravel und George Gershwin in (fast) all ihren interpretatorischen Facetten festhalten.

In Sachen Klang und Spieldauer konkurrenzlos

Wer im frühen 20. Jahrhundert Klaviermusik hören wollte, konnte dies in der Regel im Rahmen eines Konzerts tun – oder selbst spielen. Bevor Mitte der 1920er Jahre das Mikrofon Einzug in die Aufnahmestudios hielt, mussten Tonwalzen und Schallplatten über rein akustisch über Trichter aufgenommen werden. Selbst mit moderner Technik ist die Mikrofonierung eines Flügels nicht trivial, an Klavieraufnahmen via Trichter haben sich nur wenige gewagt. Erschwerend kommt hinzu, dass Schallplatten in dieser Zeit zumeist weniger als fünf Minuten Spieldauer aufweisen. Entsprechend bescheiden ist die Auswahl an Tonträgern mit Klaviermusik. Nicht zuletzt, weil Klavierwerke oftmals länger sind. Die Klavierrollen im Deutschen Musikarchiv haben Spielzeiten von bis zu 15 Minuten. Eine Alternative stellt das Radio dar. Analoge Empfangsgeräte waren für den Großteil der Bevölkerung allerdings unerschwinglich, und auch hier ist der Klang immer nur so gut, wie die Übertragung und die Qualität der Lautsprecher.

Detailsicht auf eine Klavierrolle
Klavierrolle für den historischen Reproduktionsflügel des Deutschen Musikarchivs in Leipzig. Foto: Stephan Jockel, DNB, CC-BY-SA 3.0/DE

Unter diesen Rahmenbedingungen zwischen 1900 und 1930 erlebten selbstspielende Klaviere und Flügel ihre Hochzeit. Hupfeld (Leipzig), Welte (Freiburg), Aeolian (New York) und viele andere hatten riesige Fabriken und investierten großzügig, um die Konkurrenz in den Schatten zu stellen. Hupfeld etwa expandierte 1910 so stark, dass sie am Leipziger Stadtrand ein neues Werk mit mehr als 100.000 Quadratmetern Nutzfläche errichteten. Zeitweise avancierten sie zum größten Klavierbauer der Welt. Neben diesen Giganten gab aber auch mehrere 100 weitere Firmen weltweit, von denen viele versuchten, sich durch eigene Rollenformate von den anderen abzusetzen. Diesem Chaos an unterschiedlichen Formaten bot die sogenannte Buffalo Convention 1908 weitestgehend Einhalt. Hier einigten sich amerikanische Hersteller darauf, künftig nur noch zwei Rollenformate mit unterschiedlichen Lochungen (65 und 88 Töne, bei identischer Breite der Rolle) zu verwenden. Die meisten Hersteller außerhalb der USA schlossen sich der Vereinbarung an.

Mit und ohne dynamische Parameter

Die grundlegende Funktionsweise dieser Klaviere ist bei den meisten Firmen dieselbe: Eine Klavierrolle mit Stanzungen läuft über einen Metallbügel, der seinerseits Lochungen aufweist. Im Inneren des Instruments wird mittels Blasebälge ein Unterdruck aufgebaut, und wenn ein Loch der Klavierrolle mit einem Loch des Metallbügels zusammentrifft, kann die Luft strömen. Dieser Luftstrom löst eine Funktion aus – etwa das Drücken einer Klaviertaste. Am linken und rechten Rand vieler Rollen befinden sich weitere Lochungen. Hier werden sogenannte Darbietungsparameter codiert; wie zum Beispiel dynamische Veränderungen im Spiel und die Aufhebung des Dämpfers auf den Saiten.

Detailblick auf den historischen Reproduktionsflügel im Deutschen Musikarchiv
Der historische Reproduktionsflügel des Deutschen Musikarchivs aus dem Jahr 1925. Foto: Stephan Jockel, DNB, CC-BY-SA 3.0/DE

Die Königsklasse dieser selbstspielenden Instrumente sind sogenannte Reproduktionsflügel. Diese sind in der Lage, nicht nur den richtigen Ton zur richtigen Zeit erklingen zu lassen. Sie steuern auch die oben genannten Darbietungsparameter: die Dämpfung der Saiten und die Dynamik, welche sich über Tastenanschlag und Verwendung der Pedale ergibt.

Um 1900 konnten diese dynamischen Parameter noch nicht automatisch beim Spiel aufgezeichnet werden. Stattdessen wurden Rollen nachträglich „arrangiert“: Während des Spiels notierte ein Arrangeur in der Partitur die dynamischen Veränderungen, sodass sie im Nachhinein in die Lochschrift der Rolle übernommen werden konnten.

Und so sieht es aus, wenn Starpianist Alfred Szendrei die Klavieradaption von Eugen d’Alberts Oper „Tiefland“ interpretiert. CC-BY-SA 3.0/DE

1904 entwickelte die Firma Welte ein Verfahren, bei dem Rollen auf einer Aufzeichnungseinrichtung erstellt wurden, die in der Lage ist, das Papier während des Spielens automatisch zu markieren. Diese Markierungen konnten dann – gemeinsam mit den Markierungen für die gedrückten Tasten der Klaviatur – gelocht werden. Die anderen großen Hersteller zogen hier rasch nach. So entstandene Klavierrollen („handeingespielte Rollen“) können, wenn sie an einem gut mit der Rolle harmonierenden Instrument abgespielt werden, klanglich einer Tonaufzeichnung sehr nahe kommen. Solche Rollen konservieren etwa das Spiel bedeutender Komponist*innen und Pianist*innen wie Camille Saint-Saëns, Max Reger, George Gershwin, Igor Stravinsky, Paul Hindemith, Maurice Ravel, Sergei Rachmaninow, Teresa Carreño und Wilhelm Backhaus.

Reproduktionsklaviere sind nun in der Lage, diese Aufnahmen mit all ihren interpretatorischen Feinheiten anhand der codierten Parameter nachzubilden. Darüber hinaus verfügen viele von ihnen über Regler, anhand derer die Dynamik und das Tempo eines Stückes während des Abspielens variiert werden können.

3.000 Rollen im Deutschen Musikarchiv

Klavierrollen im Magazin für historische Tonträger des Deutschen Musikarchivs
Klavierrollen im Magazin für historische Tonträger des Deutschen Musikarchivs. Foto: Stephan Jockel, DNB, CC-BY-SA 3.0/DE

Im Deutschen Musikarchiv der Deutschen Nationalbibliothek befinden sich mehr als 3.000 Klavierrollen. Ein großer Teil ist im Besitz des Deutschen Musikarchivs, ein anderer eine Dauerleihgabe der Staatsbibliothek zu Berlin Preußischer Kulturbesitz. In den Magazintürmen in Leipzig bewahren wir sie unter idealen konservatorischen Bedingungen für die Ewigkeit. Ans Licht gelangen sie in der Regel nur zu besonderen Anlässen, etwa zur Gesprächskonzertreihe „Der unsichtbare Pianist“, welches zweimal jährlich im Deutschen Musikarchiv stattfindet. Bei diesen Konzertabenden werden jeweils eine Handvoll Rollen vorgestellt und allerlei Interessantes zu Werk, Darbietung, Instrument und Rolle erzählt.

Bei diesen Konzerten kommt das Prunkstück im Vortragssaal des Deutschen Musikarchivs zum Einsatz: Ein tadellos gewarteter und gut gestimmter Duo-Art Steck Reproduktionsflügel der amerikanischen Firma Aeolian aus dem Jahr 1925.

*Nachweis Beitragsbild auf der Startseite:Foto: Stephan Jockel, DNB, CC-BY-SA 3.0/DE

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