1 von 600…Emily Löffler

9. April 2025
Das Interview führteJosephine Kreutzer

Emily Löffler, welche Projekte und Themen betreuen Sie bei der DNB?

Emily Löffler im Magazin. Foto: DNB, Stephan Jockel

Ich bin für die Provenienzforschung verantwortlich, erforsche also die Herkunft unserer Sammlungsbestände. Diese Herkunftsgeschichten sind deutlich heterogener als man es bei einer Bibliothek, die vor allem Pflichtexemplare sammelt, auf den ersten Blick erwarten würde: Schon seit der Gründung der Deutschen Bücherei in Leipzig wurde die Vollständigkeit der Sammlung nämlich nicht nur über Pflichtexemplare, sondern auch durch Ankauf, Tausch und Schenkungen erzielt. In der Zeit des Nationalsozialismus wurden dabei auch Erwerbswege genutzt, die aus heutiger Sicht kritisch zu betrachten sind: Über Zuweisungen durch Polizeistellen oder NS-Behörden, aber auch durch antiquarische Ankäufe kamen Werke in den Bestand, die ihren Eigentümer*innen aufgrund von politischer, religiöser oder weltanschaulicher Verfolgung entzogen wurden. Diese Erwerbungen erforsche ich besonders gezielt, um die Voreigentümer*innen zu identifizieren und ihre Lebenswege zu rekonstruieren. Wenn sich bei dieser Recherche ein Verdachtsfall auf NS-Raubgut bestätigt, suchen wir nach Erb*innen, um mit ihnen eine faire und gerechte Lösung zu finden. Das bedeutet meistens, dass wir die Bände zurückgeben und vorher klären, ob wir Digitalisate für unseren Katalog anfertigen dürfen. In manchen Fällen kaufen wir die Bände im Anschluss an die Restitution auch zurück.

Wie sind Sie zur DNB gekommen?

Mit dem Fahrrad.

Wie hat sich Ihre Arbeit seit Beginn verändert?

Beruflich in die Provenienzforschung eingestiegen bin ich über ein Forschungsprojekt in einem Museum, dessen Fokus auf Kunstgegenständen lag, deren Eigentümer*innen in der NS-Zeit als jüdisch verfolgt und enteignet wurden. Die Aufarbeitung der Zeit des Nationalsozialismus macht auch in der DNB den bedeutendsten Schwerpunkt meiner Arbeit aus, aber mein Blick hat sich doch erweitert: So beschäftige ich mich auch mit der 1945 in der sowjetischen Besatzungszone durchgeführten Bodenreform und den in diesem Kontext enteigneten Schlossbibliotheken. Außerdem hat das im Museumsbereich bereits seit einigen Jahren stark diskutierte Thema Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten inzwischen die Bibliotheken erreicht: Im November 2023 habe ich an einem von der Staatsbibliothek zu Berlin organisierten, zweitägigen Workshop zu kolonialen Kontexten in Bibliotheken teilgenommen, und seither verfolge ich mit großem Interesse, wie sich dieses Forschungsfeld weiter formiert. In der DNB habe ich die Provenienzforschung somit in ihrer gesamten fachlichen Bandbreite im Blick und schätze diese Vielfalt der Themen und Forschungsfragen sehr.

Was ist oder war Ihr spannendstes Projekt?

Das ist gar nicht so leicht zu sagen, weil jeder Fall, den ich recherchiere, anders ist und ich im Vorfeld nie weiß, welche Geschichten ich aufdecken werde. Aktuell finde ich aber die Untersuchung der Sammlung Sozialistica besonders spannend, weil man an dieser Sondersammlung wie durch ein Brennglas die Entwicklung des Leipziger Bestandes, aber auch die Zirkulation von Büchern in der DDR beobachten kann. Unter den ab 1970 antiquarisch beschafften Büchern enthält im Schnitt fast jedes zweite Buch Provenienzmerkmale, die von den Preisvermerken eines Antiquariats bis hin zu alten Bibliotheksstempeln, Exlibris oder handschriftlichen Eintragungen reichen. Anhand dieser Merkmale ist es möglich, nachzuvollziehen, welcher Person oder Institution ein Band früher gehört hat. Einer der Bände wurde zum Beispiel 1947 von der Leipziger Stadtbibliothek erworben, dort aber wieder ausgesondert, wie die Stempel „Stadtbibliothek Ausgeschieden“ sowie „Buch wurde zum Verkauf freigegeben“ belegen. Welchen Weg der Band dann genommen hat, ist nicht lückenlos nachweisbar, aber ein Preisvermerk deutet darauf hin, dass die Deutsche Bücherei den Band 1970 vermutlich über das Zentralantiquariat der DDR angekauft hat. Vereinzelt finden sich unter den Sozialistica auch Bände mit belasteter Provenienz, deren Vorbesitzer*innen während der Zeit des Nationalsozialismus verfolgt oder durch die Bodenreform im Jahr 1945 enteignet wurden. In diesen Fällen ist die Aufklärung der Herkunftsgeschichte natürlich besonders wichtig, um die Bände ihren rechtmäßigen Eigentümer*innen zurückgeben zu können.

Dieser Reichtum an Hinweisen und Geschichten macht die Sozialistica-Sammlung übrigens zum idealen Labor, um unsere Auszubildenden mit den Methoden der Provenienzforschung vertraut zu machen: Bei der gemeinsamen Durchsicht der Bücher am Regal lernen sie zunächst, wie man Provenienzmerkmale dokumentiert. Anschließend erfahren sie, in welchen Datenbanken man weitere Informationen zu diesen Merkmalen finden kann, und recherchieren dann mit Hilfe dieser Datenbanken selbständig weiter. Dass nicht jeder Name eindeutig zugeordnet werden kann und manche Personen nur schwer oder gar nicht identifiziert werden können, gehört zum Lernprozess dazu. Immer wieder bin aber auch ich selbst überrascht, wie viele Informationen in kurzer Zeit ans Licht kommen können – und in mehreren Fällen hat sich dabei ein vermeintlich harmlos aussehender Stempel oder Namenszug als erstes Indiz für einen Verfolgungskontext entpuppt.

Wenn Sie einer fremden Person die Arbeit der DNB erklären, dann…

… erzähle ich, dass unser Sammelauftrag unser Alleinstellungsmerkmal ist: Wir sammeln vollständig und ohne Wertung alles, was seit 1913 in deutscher Sprache oder über Deutschland erschienen ist. Als Archivbibliothek treffen wir keine Auswahl und sind somit offen für alle möglichen Fragestellungen, die in der Zukunft an unsere Sammlungen gestellt werden könnten. Wie der Blick in die Geschichte des Hauses zeigt, ergibt sich aus diesem Sammelauftrag aber auch eine historische Verantwortung, der wir uns durch die Erforschung des Bestandes stellen.

*Nachweis Beitragsbild auf der Startseite:DNB, Stephan Jockel

Ein Kommentar zu „1 von 600…Emily Löffler“

  1. Anonym sagt:

    Danke für diesen spannenden und informativen Beitrag!

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  • ISSN 2751-3238