Begehrte Trophäen
Der wertvollste Bestand des Museums als Kriegsbeute
Im Jahre 1945 organisiert die Rote Armee den Abtransport besonders wertvoller Güter als Reparationen nach der Sowjetunion. Darunter sind auch private und staatliche Buch- und Kunstsammlungen. Das Deutsche Buch- und Schriftmuseum hat seine besten Stücke nach Schloss Rauenstein im Erzgebirge ausgelagert. Sie werden von einer Trophäenkommission aufgespürt und nach Moskau gebracht. Noch heute befinden sie sich in der Russischen Staatsbibliothek in Moskau.
Ein Rettungsversuch
22. September 1945, ein sonniger Herbsttag. Noch leben Baron von Herder und seine Frau in ihrem Schloss Rauenstein im Ort Pockau-Lengefeld. Das einsam gelegene Gebäude wird in den letzten Kriegsmonaten als Depot für ausgelagerte Bibliotheksbestände genutzt. Hierher, in die vermeintliche Sicherheit, sind die wichtigsten und teuersten Stücke aus dem Deutschen Buch- und Schriftmuseum Leipzig gebracht worden, da gegen Kriegsende auch der Leipziger Auslagerungsort im Tresor einer Bank zunehmend unsicher erscheint. Weiterhin befinden sich im Schloss 720.000 Bände und die unersetzlichen Zugangsbücher der Deutschen Bücherei Leipzig.
Besatzungswechsel und die Suche nach Kulturgütern
Leipzig ist seit dem 18. April 1945 zunächst in der Hand amerikanischer Truppen. Erst mit der Aufteilung Deutschlands in Besatzungszonen ändert sich das. Ab 1. Juli 1945 ist ganz Sachsen sowjetisch besetzt. Die Trophäenkommissionen der Roten Armee nehmen ihre Tätigkeit auf. Sie erfahren von den Geheimdepots, die überall in Sachsen verstreut liegen.
Die nahezu unzerstörte Deutsche Bücherei darf und soll auf Befehl der Sowjetischen Militärregierung in Deutschland den Regelbetrieb am 1. Oktober wieder aufnehmen. Ihre Zugangsbücher und die in 10 Depots verlagerten Bände erhält sie nach und nach zurück. Die Suche der Trophäenkommission gilt jedoch den Zimelien des Deutschen Buch- und Schriftmuseums.
Von Leipzig nach Moskau
Schon vor Kriegsende existieren in der Sowjetunion Listen von Inkunabeln in deutschen Bibliotheken. Es besteht in vielen Bibliotheken der Wunsch, die eigenen Kriegsverluste mit Beutegut aus Deutschland zu kompensieren. Die Klemmsammlung im Deutschen Buch- und Schriftmuseum ist mit ihrem zweibändigen Pergamentexemplar der Gutenbergbibel von besonderem Interesse. An jenem 22. September trifft ein Transportkommando unter Leutnant Adrian Rudomino mit drei LKW in Rauenstein ein. Dort werden sie von den Herders empfangen und zu den gesuchten Kisten geführt.[1] 19 Kisten und ein Ballen werden verladen und nach Berlin in die zentrale Sammelstelle gebracht. Bereits Anfang Oktober wird besonders wertvolles Material per Flugzeug nach Moskau befördert, die übrigen Stücke folgen per Bahn am 10.Februar 1946. Der Militärzug mit der Nummer 177/8028 fährt vom Stettiner Bahnhof in Berlin unter besonderen Sicherheitsvorkehrungen ab und erreicht Moskau ohne Zwischenfälle[2]. Der Buchmuseumsbestand wird in die Staatliche Leninbibliothek gebracht. Alle Versuche seitens des Museums, die Bestände zurückzuerhalten, scheitern, so auch der letzte Vorstoß über das Außenministerium der DDR im Jahre 1959. Ab 1961 lautet die offizielle Sprachregelung auf „Kriegsverluste“[3]
Aufarbeitung und Verhandlungen
Nach vielen Jahren der Geheimhaltung werden diese Vorgänge in den 1990er Jahren bekannt. Museumsmitarbeiter*innen können den Bestand 1993 erstmals seit Kriegsende wieder in Augenschein nehmen. Sie finden die Handschriften und Drucke der Klemmsammlung sowie die Becher-Einbandsammlung in gutem Zustand vor. Die Forrer-Zeugdrucksammlung wird zu diesem Zeitpunkt noch nicht gezeigt.
Verhandlungen über eine Rückgabe verlaufen jedoch im Sande und sind mit dem Duma-Beschluss vom 5.2.1997 gänzlich obsolet. An diesem Tag werden alle nach dem Zweiten Weltkrieg abtransportierten Kulturgüter zu russischem Eigentum erklärt[4]. Mit einigen gedruckten Publikationen macht die Russische Staatsbibliothek in den Folgejahren auf die Bestände aufmerksam. Auch im Portalkatalog der RGB erscheinen die Katalogisate der Drucke nach und nach[5], die Provenienz aus der Sammlung Heinrich Klemm wird stets angegeben.
Unvollendetes kooperatives Digitalisierungsprojekt
Im Jahr 2019 erleben die Kooperationsbemühungen einen neuen Aufschwung. Im April wird in der Russischen Staatsbibliothek Moskau eine Ausstellung zur Geschichte des Frühdrucks in Europa eröffnet, begleitet von einer wissenschaftlichen Konferenz[6] und der Veröffentlichung eines Volldigitalisates der beiden Bände der Gutenbergbibel aus dem Buchmuseum[7].
Mit zu diesem Zeitpunkt verabredeten, jedoch zurzeit nicht mehr durchführbaren gemeinsamen Digitalisierungsprojekt wollte die Fachwelt eigentlich Antworten auf die Frage finden, die der damalige Museumsdirektor Lothar Poethe schon 1993 stellte: „Was ließe sich mit ihnen [den Beständen in Moskau] anstellen, wenn sie mit dem größeren Teil der 1885 für das Leipziger Museum angeschafften Sammlung wieder zusammengeführt werden könnten?“[8] Immerhin werden in einem Subprojekt von 2023 bis 2025 ein Teil der in Leipzig lagernden Bestände digitalisiert.
Dieser Beitrag ist die aktualisierte Version eines Kapitels aus der Publikation „Tiefenbohrung. Eine andere Provenienzgeschichte“. Infos zum Gesamtprojekt zur Provenienzgeschichte des Deutschen Buch- und Schriftmuseums sind hier zu finden: dnb.de/tiefenbohrung.
Bettina Rüdiger
Bettina Rüdiger ist Sammlungsleiterin für das Buch vor 1900 und Leiterin der Fachbibliothek im Deutschen Buch- und Schriftmuseum.
[1] Siegfried Pach, Geheimdepots im Erzgebirge – Schatzkammern auf Zeit. Marienberg 1999, Seite 68
[2] Die Trophäenkommission der Roten Armee. Frankfurt am Main 1996, Seite 61 ff: Inventarliste der Frachtstücke, die das Kultur-Komitee mit dem Militärzug Nr. 177/8028 schickte
[3] Lothar Poethe: Variationen zu „Habent sua fata libelli“ – 20 Kisten aus Leipzig und der Bestand kyrillisch „L“ in Moskau. In ZfBB 41 (1994), 4, Seite 449-453
[4] Taz – die Tageszeitung vom 6.2.1997 Berlin. taz-Archiv im Internet: https://taz.de/!1415507/ (Stand: 16.9.2021)
[5] Tat’jana Alekseevna Dolgodrova und Nadežda P. Čerkašina: Katalog inkunabulov i paleotipov iz sobranija Genricha Klemma. Moskva 2011; Tat’jana Alekseevna Dolgodrova: Katalog nabivnych tkanej XIII – XIX vekov sobranja Roberta Forrera. Moskva 2010; dieselbe: Katalog chudožestvennych perepletov sobranija Karla Bechera. Moskva 2007
[6] Stephanie Jacobs, Kriegsbedingt verlagert – eine Konferenz in Moskau. In: Dialog mit Bibliotheken. Leipzig 2019, 2, Seite 59-61
[7] https://search.rsl.ru/ru/record/01000840779
[8] Lothar Poethe, Variationen … Seite 453