Blättern in 3D. Kinetische Bücher aus der Sammlung Hartung

11. August 2022
von Benjamin Sasse

Mit mehr als 4.200 Pop-Up-Büchern wächst dem Bestand des Deutschen Buch- und Schriftmuseums eine Kollektion mit Alleinstellungsmerkmal zu.

Rotkäppchen mit Korb steht auf einer Brücke. Sie redet mit dem Wolf, im Hintergrund der grüne Wald und eine Hütte.
Ernest Nister: A Land of long ago. A Visit to Fairyland with Humphy Dumphy, 1904. Foto: Hans Hartung

Größte Sammlung im deutschsprachigen Raum

Die Druckwerke aus dem 15. (Faksimiles) bis 21. Jahrhundert schlagen Brücken zwischen illustrierten Büchern, Papiertheatern, Scherenschnitten, Daumenkinos und naturwissenschaftlichen Erklärtafeln. Über drei Jahrzehnte wurde die Sammlung Hartung zusammengetragen und ist heute eine der umfangreichsten Sammlung kinetischer Bücher im deutschsprachigen Raum. Die jetzt erworbenen Publikationen erschaffen durch Aufklapp-, Falt-, Schiebe- oder Ausschnitt-Techniken ganz verschiedene Illusionen von Räumlichkeit und Bewegung aus Papier.

Ausgeschmückte Kulisse der Geburt Jesu mit Hirten und Engeln.
Vojtěch Kubašta: Gloria in Excelsis Deo, 1960er Jahre. Foto: Hans Hartung

Während herkömmliche Bücher durch die Abfolge von Textseiten und ggf. Bildern eine lineare Nutzung bieten, entziehen sich bewegliche Bücher als hybride und vielseitige Medienform der einfachen Kategorisierung. Zugleich bleiben sie Vertreter einer analogen, rein papiernen Multimedialität und sind doch Vorboten der digitalen Multimedialität. Sie verbinden wie diese Bild, Bewegung, Text, ja sogar Ton.

Thematisch breit aufgestellt

Thematisch lässt sich ein großer Teil der Sammlung als Kinder- und Jugendbuchliteratur charakterisieren, bei der Märchen und Sagen sowie Popkultur stark vertreten sind. Es findet sich jedoch auch viel Populärwissenschaftliches sowie einiges explizit Fachliches, wie etwa medizinische oder maschinenbauliche „Modell-Atlanten“.

Zeitreise

Der Bestand spiegelt die Geschichte der kinetischen Literatur von faksimilierten Volvellen (drehbare Elemente) des 15. Jahrhunderts bis zum Aufblühen der Gattung im späten 19. Jahrhundert. Eine enorme Diversifizierung erfuhr das kinetische Buch schließlich im 20. Jahrhundert. Mit der wachsenden Zahl von Spielbilderbüchern für bürgerliche Haushalte erlebte das Genre zudem ab Mitte des 19. Jahrhunderts einen besonderen Aufschwung. Als Pionier tat sich dabei insbesondere der Maler und Kinderbuchautor Lothar Meggendorfer (1847–1925) hervor, der ab den 1870ern die meisten später benutzten Techniken erfand.

„Papieringenieure“

Wesentliche Impulse für die Weiterentwicklung des beweglichen Buches kamen ab Mitte des 20. Jahrhunderts aus den angelsächsischen Ländern. Die Sammlung umfasst etwa zur Hälfte englischsprachige sowie eine große Zahl deutschsprachiger Titel. Darüber hinaus gibt sie Einblicke in die Produktion in zahlreichen anderen europäischen und außereuropäischen Sprachen. In ihr sind alle wesentlichen Größen des „Papieringenieurwesens“ aus Vergangenheit und Gegenwart vertreten, z.B. Vojtěch Kubašta (CZ), Kees Moerbeek (NL), S. Louis Giraud (GB), Raphael Tuck (GB), Geraldine Clyne (US), Robert Sabuda (US), Matthew Reinhart (US) oder Ron van der Meer (NL).

Verschiedene Zirkus-Szenen, u.A. Clowns, Löwendompteure, in den oberen Bildteilen Streichorchester und Publikum.
Lothar Meggendorfer: Internationaler Circus, 1887, Reprint aus den 1980er Jahren. Foto: Hans Hartung

Digitalisierung

Diese vielfältigen Bewegungstechniken und -effekte digital abzubilden, stellt Bibliotheken vor ganz besondere Herausforderungen. Damit die Werke auch am Bildschirm erfahrbar werden, arbeiten die DNB und Staatsbibliothek zu Berlin (SBB) seit 2021 gemeinsam an geeigneten Richtlinien und einem Pilotprojekt zur 3D-Digitalisierung. Mehr dazu im Gastbeitrag von Christian Mathieu (SBB) in diesem Blog.

Benjamin Sasse

Benjamin Sasse ist Sammlungsleiter für die Vor- und Nachlässe und geschlossene Sammlungen im Deutschen Buch- und Schriftmuseum. Am meisten fasziniert ihn an kinetischen Büchern der gewaltige Aufwand, der durch die Herstellung von Hand für jedes einzelne Buch betrieben wurde, wo es sich doch oft „nur“ um Kinderbücher handelte.

*Nachweis Beitragsbild auf der Startseite:Foto: DNB

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