Boz‘ book-backs on Demand

7. November 2023
von Dagmara Kraus

Zur Eröffnung der Ausstellung „Schmuddelkind der Branche? Books on Demand“ am 2. November 2023 im Deutschen Buch- und Schriftmuseum der Deutschen Nationalbibliothek hielt die Dichterin Dagmara Kraus die Keynote mit dem Titel „Boz‘ ‚book-backs’ oder die Geburtsstunde des Book on Demand“:

Als Boz – besser bekannt unter dem Namen Charles Dickens – im Jahr 1851 seine Arbeitsklause in das neue Londoner Familiendomizil am Tavistock Square verlegt, scheint sein Glück fast vollkommen. Die einzige Unstimmigkeit, die ihm prompten Verdruss bereitet, ist die Tatsache, dass ihn nunmehr Leere umringt. Ein hochproduktiver Geist wie er, der gefeierte Autor des Oliver Twist, ist gleichwohl an eine gewisse Text- und Papierfülle gewöhnt, an einen Tinten- und Drucküberschuss in seiner Umgebung. Plötzlich findet er sich nach dem Umzug gähnenden Bücherregalen gegenüber – zweifellos den Dimensionen seiner neuen Bleibe geschuldet, die unter anderen Kuriositäten mit einem hauseigenen Theater aufwarten kann. Im Tavistock House ist auf den Regalen jedenfalls noch viel, ja, viel zu viel Platz. Besonders diejenigen, die Dickens mit eigenen Veröffentlichungen und Belegen zu bestücken gedenkt, wirken wüst und trostlos auf ihn. Und der Horror vacui angesichts mangelnder Schrift scheint schlichtweg nicht zu ertragen! Eiligst müssen Bücher her: neue und viele Bücher!

Der gequälte Bibliophile, der soeben seinen David Copperfield beendet hat, um sich jetzt womöglich kreativ auf einer kurzen Talfahrt zu befinden, sinnt in seiner Ungeduld auf Lösungen – naturgemäß müssen es Sekundenlösungen sein. Noch ist Chat-GPT längst nicht erfunden; keine Maschine, keine KI kann ihm daher die noch fehlenden (wiewohl bereits schmerzlich vermissten) Bücher supplementieren oder sie an seiner Statt schreiben, um sie dann per Digitaldruck rasch für ihn zu drucken. Was soll er, was kann er also tun, um seiner Ungeduld Abhilfe zu schaffen und schnell zu mehr Büchern zu gelangen, selbstverständlich ohne welche zu kaufen – das wäre ja witzlos, zumal ohnehin jenseits der eigenen Schriften nichts Besonderes auf dem Markt zu sein scheint… Der findige Dickens wittert eine Idee. In seinem „Household Words Office“, dem „Büro für Alltagsworte“, in das er sich zurückzieht, wenn er die vorläufige Buchwüstenei des Tavistock Square nicht mehr aushält, greift er zur Feder und schreibt an einem frühen Oktoberabend des Jahres 1851 in sichtlich verfinsterter Stimmung, da überliefertermaßen auf Trauerpapier (mourning paper), an seinen Buchbinder Thomas Robert Eeles den folgenden Brief:

Sehr geehrter Herr Eeles,
In meinen neuen Arbeitsräumen gibt es zwei Zimmer, die ich mit Buchrückenimitaten (imitation backs of books) füllen möchte. Da fällt es mir ein (zumal sie gut und schnell angefertigt werden sollen), dass Sie das für mich tun könnten. Und ich bin mir sicher, dass Sie es unendlich viel besser machen würden als der Schreiner, der die Bücherregale herstellt. […]

Vgl. The Letters of Charles Dickens: The Pilgrim Edition. Oxford, Clarendon Press, 1965f.

Der Auftrag ist am 21.10.1851 hiermit also auf den Weg gebracht. „Buchrückenimitate“ wünscht sich Dickens, „Dummy-Bücher“, Nachahmungen, die, obwohl buchstäblich inhaltsleer, seine Buchsucht befriedigen sollen. Und zwar mit sofortiger und nachhaltiger Wirkung. Er gibt den Brief sogleich an seinen Boten weiter, den er eineinhalb Meilen themsewärts zu Fuß zu Eeles und in dessen Buchbinderei an der Cursitor Street schickt: Am Morgen des Folgetages solle dieser um exakt Viertel nach zehn bei Dickens vorstellig werden, um daraufhin schnellstmöglich zur Tat zu schreiten. Allerdings gilt es, sich zunächst ein Bild vom Leerstand zu verschaffen. So kommt der befreundete Buchbinder, der die Nöte des Autors zu kennen scheint, tatsächlich am nächsten Morgen, wie per Eilbrief einbestellt, zu Dickens nach Hause; man bespricht sich, das Projekt nimmt seinen Lauf. Am Abend setzt der Schriftsteller erneut, und zwar wie morgens abgemacht, einen Brief an Eeles auf. Denn er hat – einen einzigen Arbeitstag später – an jenem 22. Oktober 1851 bereits ganze fünfunddreißig Wunschbuchtitel zusammengetragen – frei erfundene Titel: manche witzig, andere lyrisch, wieder andere absurd, glaubwürdig oder unglaubwürdig, die er ohne den Namen ihres Autors und ohne eine Verlagsangabe auf dem Buchrücken per Quasi-Selfpublishing durch den somit angewiesenen Buchbinder anfertigen zu lassen sich anschickt, um seine Regale damit aufzufüllen. Ein Blick in andere seiner Werke legt nahe, dass Dickens keinerlei Schwierigkeiten damit hat, sich Neuem zu nähern, sich Namen und Listen aller Art auszudenken. Aber besagter Brief ist eine Besonderheit. Denn er ist – in Ergänzung des ersten – als Geburtsurkunde des Print on Demand zu werten:

Lieber Herr Eeles, ich schicke Ihnen die Liste, die ich für die Buchrücken gemacht habe. Ich möchte, dass die Geschichte eines kurzen Kanzleianzugs (History of a Short Chancery Suit) unten in der einen Nische steht und der Katalog der Statuen des Herzogs von Wellington unten in der anderen. Sollten Sie weitere Titel wünschen und mir mitteilen, wie viele, so werde ich sie Ihnen zusenden. Hochachtungsvoll, Ihr CD

Vgl. The Letters of Charles Dickens: The Pilgrim Edition. Oxford, Clarendon Press, 1965f.

Aber diese zwei Briefe sind noch viel mehr: nicht nur, wie gerade behauptet, die Geburtsurkunde des Print on Demand. Sie sind zeitgleich die Geburtsurkunde des Artistic Print On Demand; oder aber beide beider Geburtsurkunde, insofern als diese zwei im Jahr 1851 geborenen „Schmuddelkinder“, wie es im Titel der zu eröffnenden Ausstellung so schön heißt, ungleiche Zwillinge zu sein scheinen, paradoxerweise zu ein und derselben Zeit parallel zur Welt gekommen, gezeugt von ein und demselben Vater, dem Demiurgen Charles Dickens. 172 Jahre und ein paar Tage alt sind diese heute offenkundig äußerst quietschfidelen Tattergreislein, die einen Jungbrunnen gepachtet zu haben scheinen, zumal sie immer wieder incognito daherkommen: So jung, so frisch, so unbeholfen und spontan können sie wirken; dabei sind sie genealogisch in einer langen, dank Annette Gilberts Anstrengungen der letzten Jahre nicht mehr zu verkennenden Geschichte verankert.

Ganz sicher ist die dem zweiten Oktober-Brief an Robert Eeles per Appendix beigefügte Sammlung betitelter Phantombücher auch als Geburtsstunde der schmuddeligen „PoD-Poesie“ zu werten und mithin einer „APoD-Poesie“. Die ersonnenen „mock titles“ wirken nämlich hinsichtlich ihrer Verfasstheit wie überaus bemerkenswerte Zeugnisse der poetischen Fabulierkunst, weshalb ich Ihnen die Erfindungen dieses offensichtlich ins Mögliche vergafften Oulipoten ante litteram namens Boz vulgo Dickens auch nicht länger vorenthalten möchte:

Einige der Titelerfindungen ragen heraus, etwa:

The Art of Cutting the TeethDie Kunst, die Zähne zu schneiden.

Der Vielschreiber Dickens wünscht sich für sein Regal auch:
Growlers Gruffology – vielleicht translingual ins Deutsch-Französische zu übersetzen als Graulers Grave-folle’ogie,
außerdem imaginiert der Autor:
Jonas Bericht vom Wal und, nicht ohne auf die Klerikerkaste zu schielen,
Matthew’s Nursery SongsMatthäus‘ Wiegenlieder
sowie das wundersame, ‚poetischste‘ Wort der Reihe – einziger tatsächlicher Neologismus und Wortneuschöpfung selon mon cœur, die ein Lautimitat über ein Buchimitat setzt:
Bowwowdom. A PoemWauwautum. Ein Gedicht.

„I dwell in Possibility“, heißt es bei der Dickens fast namensverwandten Dichterin, und ich möchte ergänzen, bezogen auf Tavistock House mit seinen real aufragenden „Chambers as the Cedars“ und den bald nach diesem Brief und seiner Liste mit möglichen Büchern befüllten Regalen, dass Dickens wie Dickinson, seiner Prosa zum Trotz, hier aus oder mit dem Möglichkeitsmodus lebt – eine Schnittmenge mit dem, was in meinen Augen eine Quintessenz des Print on Demand und des Book on Demand zu sein scheint. Darüber hinaus haben wir es mit Charles Dickens‘ einzigem und einzigartigem BoD-Œuvre mit früher Konzeptkunst zu tun. Nun fehlt bloß eine Appropriation. Denn bislang, scheint mir, hat all diese Bücher noch niemand – nachträglich etwa im Rahmen einer appropriativen Kunstaktion –tatsächlich geschrieben. Die potentiellen Titel liegen vor (oder: brach) und harren der Aneignung, ja sehnen sich vielleicht mit ihrer ihnen wesentlichen Potentialität, die nicht umsonst das letzte Wort der Liste markiert im Adjektiv „possible“, nach einer größeren Textwirklichkeit, nach Entwicklung, nach Seiten, nach Tinte und konkretem, schwarzem Druck – nach einem Lulu, einem Nabu oder Blurb. Dies betrifft wahrscheinlich auch diejenigen Titel, die auf die 35 hier vorliegenden noch folgen sollten – Dickens lieferte wie versprochen nach und, obschon erst zum nächsten Umzug, eine weitere, diesmal allerdings 22 Titel umfassende Reihe von PoD-Wunschüberschriften, um die neuen, gleichwohl ebenso unausstehlichen Regallücken des Gad’s Hill Place mit Büchern in Gestalt beschrifteter Buchrücken zu bestücken.

Es müsste doch – o mise-en-abyme! – ein Lückenfüller daherkommen! Ein Lückenfüller für den Lückenfüller! Eine Lückenfüllerin für den Lückenfüller, der gar viele Lückenfüller_innen beschäftigen könnte. Schließlich sind in Hinblick auf einige der gelisteten Titel gleich mehrere Bände von Dickens veranschlagt und zweifelsohne vom Buchbinder des Vertrauens auch angefertigt worden. Kant’s Ancient Humbugs etwa („Summkäfer“!) umfasst stolze 10 Bände, das bereits erwähnte [Graulers Grave-folle’ogie] (welche ihrerseits aus der „Gruffology“ „mit U-F-F“ wahrscheinlich den „Grüffelo“ gebar, ein freundliches Monster der neueren KJL) ganze vier an der Zahl (und 14 stopfen schon eine größere Lücke). Immerhin gibt es dank Shaun Ushers Anthologie Lists of Note [1] eine Ansicht der Dickens’schen Phantombücher. Trotz der gleich zu benennenden Abstriche liegt mit Ushers Übersetzung der Book-Spine-Texte des Boz in komplementäre Coverbilder immerhin eine und die einzige partielle Adaptation eines seinerzeit ansonsten noch lange als solches unidentifizierten Kunstwerkes vor: 

Es sind hier allerdings nicht nur Titelfehler gemacht worden – leider kein Kratzfuß hinsichtlich des PoD und seiner Fehleranfälligkeit – sondern es wurde, wollte man puristisch sein, auch der ursprünglichen Anonymität des Unterfangens Abbruch getan. Dickens wollte, wenngleich aus unbekannten Gründen, nicht als Autor von Büchern wie Fünf Minuten in China zeichnen. Bei Usher wird er dennoch gleich doppelt zum Autor geschlagen: Die Aufschrift „DICKENS‘ BOOKS“ schwebt in der paratextuellen Wolke über dem Titel, dazu wurde der Name des Autors ergänzt. Wie sehr Dickens sich davor drückt, den insgesamt – ich habe nachgerechnet – 97 plus demandgeprinteten Bänden einen Namen aufzuprägen, lässt sich aus der so sublimen wie witzigen Diskretion eines der Listentitel lesen. Nur ein einziger Buchrücken ist nämlich potentiell mit einem Namen in Verbindung zu bringen. Das Titelspiel windet sich um sich selbst und in die bereits herbeizitierte, sich verspiegelnde abimisierte Untiefe, wo der Titel lautet: „Steele. By the author of „Ion“.

Es wäre vielleicht bloßes „Bind-on-Demand“ und kein genuines PoD wenn Charles Dickens sich seine hausgemachten Titel nicht bis zur Bandangabe hätte einfallen lassen bzw. es jenseits der Bindung von unbedruckten Seiten à la Blank von Jean Keller, wie in der Ausstellung zu sehen, dessen Urururururgroßvater Dickens ist, gar nichts zu drucken gegeben hätte. Aufgrund des nahezu ausgefallenen Textsatzes war Robert Eeles seinerzeit jedenfalls recht schnell mit der ihm erteilten ungewöhnlichen Aufgabe fertig. Als linke Hand des als solcher zu Lebzeiten unerkannt gebliebenen Avantgardisten fertigte er die Bände (darunter auch zwei größer angelegte Zeitschriften) binnen eines einzigen Monats an. Nachdem Boz mithilfe der Tatze seiner Lieblingskatze, deren vielgestreichelten Fellkörper er postum zu einem ihm stets höchstnützlichen Brief- und Paketöffner hatte umarbeiten lassen, seine Wunschdummies aus der Verpackung befreit und alsbald im nunmehr befüllten Regal hatte positionieren können, setzte er sich wieder an den Arbeitstisch – diesmal nicht an denjenigen der Alltagsworte seines Household Words Office, sondern an denjenigen, den jetzt Wände voller Bücher beziehungsweise phantomatischer PoD-BoD-Ahnen zierten, und schrieb am 17. November 1851 an Eeles:

Lieber Mr. Eeles, ich muss Ihnen für die bewundernswerte Art und Weise danken, in der Sie die Buchrücken in meinem Zimmer gestaltet haben. Ich fühle mich Ihnen persönlich verpflichtet, das versichere ich Ihnen, für das Interesse, das Sie meiner Laune (my whim) entgegengebracht und die Schnelligkeit, mit der Sie sie vollständig umgesetzt haben.

Vgl. The Letters of Charles Dickens: The Pilgrim Edition. Oxford, Clarendon Press, 1965f.

Eine „Laune“, „Grille“, ein „Einfall“, eine „Kaprize“ – als „whim“ bezeichnet Dickens seinen Book on Demand-Wunsch oder vielmehr den „Book-back“-Demand-Wunsch. Vielen solcher herrlichen whims begegnen wir auch in dieser Ausstellung, die Werke zeigt, die geprägt sind von Unmittelbarkeit, Konzeptualität bei gleichzeitiger Materialität, von Illusion, Provokation und Parodie. Dickens aber sucht mit dem Ausdruck „whim“ noch – weniger aus Scham als etwa aus Witzelei – die eigene Erfindung zu diskreditieren, zumindest abzutun. Denn die Zeit ist damals noch nicht reif für einen Konzeptualismus als Kunst. Sie ist noch nicht reif für PoD und BoD, nicht reif für APod, für Avantgarde. – Wie bizarr – nein: wie „BOZarr“ [zu lesen als ‚=beaux-arts‘], was jetzt vor Ihren Augen und Ohren geschieht: Aus Boz‘ Wade springt ein Schmuddelkind! Hebammen bräuchte es im Mythos naturgemäß keine, denn es brächte sich das sudelige Kind ja selbst zur Welt. Hier, in der realen Welt aber, an diesem wirklichen Ort, in der DNB, die in sich „as many volumes as possible“ fasst – unausdenkbar wie viele tatsächlich, Rücken um Rücken, hier lagern –, haben Annette Gilbert und Andreas Bülhoff aufs Vortrefflichste als Hebammen eines Schmuddelkindes agiert – und sie haben es entgegen aller Widrigkeiten zur Welt gebracht, ein Schmuddelkind zur Weltliteratur gebracht, und ein Mögliches – im institutionellen Rahmen ein schier UNmögliches – zu Welt: whims zu Welt, zu Weltliteratur: Willkommen, Schmuddelwhims!


[1] Vgl. dazu Shaun Usher, Lists of Note: An Eclectic Collection Deserving of a Wider Audience, San Francisco, Chronicle Books 2015

Dagmara Kraus

Dagmara Kraus ist Dichterin und Übersetzerin aus dem Polnischen. An der Universität Hildesheim lehrt sie als Professorin für Literarisches Schreiben.

*Nachweis Beitragsbild auf der Startseite:Repro: Dagmara Kraus

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