Bunter Kunststoff – Phonycord Flexible

5. Mai 2022
von Ruprecht Langer, Leiter des Deutschen Musikarchivs

Historische Tonträger im Deutschen MusikarchivTeil 3

Das Deutsche Musikarchiv der Deutschen Nationalbibliothek sammelt nicht nur sämtliche aktuell in Deutschland veröffentlichten Medien, es verfügt auch über eine beeindruckende Sammlung historischer Tonträger. Einige der wichtigsten, interessantesten und zum Teil kuriosesten Exemplare sollen in dieser Reihe näher beleuchtet werden.

In der Ausstellung des Deutschen Musikarchivs in Leipzig wirken sie wie aus der Zeit gefallen: Zwischen all den schwarzen Schallplatten aus Schellack leuchten sechs halbtransparente Schallplatten aus buntem Kunststoff. Was wie eine Reminiszenz an die Pop-Zeit der 60er Jahre anmutet, ist deutlich älter.

Ein schönes Beispiel dafür, welch bunte Blüten die Wahl des Materials treiben kann, bietet die Berliner Firma Phonycord bereits in den späten 1920er Jahren. In dieser Zeit wurden tragbare Koffergrammophone mit Kurbel populär, die es ermöglichten zum Beispiel auch beim Picknick Musik abzuspielen. Etablierte Platten aus Schellack waren nicht nur äußerst fragil, sie waren auch schwer. Eine Zehn-Zoll-Platte (ca. 25 cm Durchmesser) mit einer Spielzeit von zweimal drei bis vier Minuten wog etwa 150 bis 200 Gramm. Wollte man längere Zeit Musik hören, wurden Schellacks schnell unhandlich.

Blick in eine der Hauptvitrinen in der Ausstellung des Deutschen Musikarchivs
Blick in eine der Hauptvitrinen in der Ausstellung des Deutschen Musikarchivs. Rechts befinden sich die sechs bunten Schallplatten des Labels Phonycord Flexible. Foto: Ruprecht Langer, DNB, CC-BY-SA 3.0/DE

Die Nachfrage nach tragbaren Tonträgern bediente die Firma Phonycord Flexible (vermutlich seit 1929), die als Warenzeichen eine Hand abbildete, welche eine fast auf sich selbst gebogene Schallplatte zwischen den Fingern hält. Die Platten bestanden aus einem gelatineartigem Kunststoff, welcher nicht nur leicht und weich war, sondern auch farbig und – gegen das Licht gehalten – transparent. Zielgruppe für die bunten Schallplatten waren Strandbesucherinnen und Picknicker, was ihr den Spitznamen „Strandbad-Platte“ einbrachte.

Die Exemplare der Ausstellung im Deutschen Musikarchiv beinhalten typischerweise Operettenmelodien, Jazz und Schlager, die allerdings nicht von Phonycord selbst aufgenommen wurden. Stattdessen wurden die Rechte zur Verwendung von Matrizen anderer Labels erworben. Sowohl Aufnahmen als auch Pressungen waren, an den Standards der 1920er und 1930er Jahre gemessen, erstklassig, sodass sich gut erhaltene Phonycord-Schallplatten auch heute noch gut anhören lassen.

Eine rote Schallplatte aus halbtransparentem Kunststoff.
Rote Kunststoff-Schallplatte der Firma Phonycord Flexible. Foto: Bertram Kober\Punctum, CC-BY-SA 3.0/DE

Phonycord Flexible war nicht der erste Versuch, Kunststoffplatten zu etablieren, aber durchaus einer der erfolgreichsten. Dennoch konnten sich auch diese bunten Tonträger nicht dauerhaft durchsetzen – „unverwüstlich“, wie sie das Plattenlabel beschrieb, waren sie keineswegs. Für den täglichen Gebrauch gab es viele Hürden: Handelsübliche Stahlnadeln zerstörten die Rillen, sodass sich der weiche Kunststoff beim Abspielen wie ein weißer Faden aus der Platte „schälte“. Selbst mit geringerem Auflagedruck waren die Schallplatten nach fünf-, sechsmaligem Abspielen kaum noch zu genießen.

Grüne halbtransparente Schallplatte des Labels Phonycord Flexible. Foto: Paul Uhde, DNB, CC-BY-SA 3.0/DE
Auf dieser Platte ist der damals noch recht junge Dirigent und Pianist Heinz Dressel mit Christian Sindings „Frühlingsrauschen“ zu hören. Foto: Paul Uhde, DNB, CC-BY-SA 3.0/DE

Die Plattenfirma selbst empfahl den Gebrauch hölzerner Nadeln, die durch einen speziellen Winkel noch sehr viel weniger Druck auf den Tonträger ausübten. Diese Nadeln waren gerade in der Mangelzeit der Wirtschaftskrise schwer zu besorgen, und selbst mit diesen Spezialnadeln klangen die Platten weniger gut als ihre Konkurrenten aus Schellack.

Im Deutschen Musikarchiv gibt es ein Tonstudio, das – unter anderem – auf die Digitalisierung historischer Tonträger spezialisiert ist. Dort war es möglich, eine der bunten Kunststoffplatten so zu digitalisieren, dass das Klangergebnis authentisch ist, während der Zustand der 100 Jahre alten Schallplatte nicht beeinträchtigt wurde. Das Alter der Schallplatte sowie der Aufnahme bringt zudem mit sich, dass rechtliche Schutzfristen verstrichen sind. Wir können dieses Digitalisat frei über das Internet zur Verfügung stellen.

Hinter diesem Link können Sie sich Christian Sindings Komposition „Frühlingsrauschen“ anhören, gespielt vom späteren Präsidenten des Deutschen Musikrats, dem Dirigenten und Pianisten Heinz Dressel.

Wie viele andere Kleinlabels des frühen 20. Jahrhunderts konnte sich Phonycord Flexible nicht halten. 1932 verschwand es vom Markt und hinterließ bedauerlicherweise keine bekannten Unterlagen zu Fabrikation, Auflagenhöhe und Repertoire.

Im Katalog des Deutschen Musikarchivs befinden sich etwas mehr als 150 dieser bunten Kunststoffplatten, durch deren Metadaten Sie hier in unserem Katalog stöbern können.

*Nachweis Beitragsbild auf der Startseite:Foto: Bertram Kober\Punctum

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