Dada in der DNB
Das spektakuläre, so stilbildende wie sinnentleerte Lautgedicht „Ursonate“ von Kurt Schwitters, hat auch hundert Jahre nach seiner Erfindung nichts von seiner Sprengkraft eingebüßt: Immer noch spannt dieser Schlüsseltext der Avantgarde den Bogen zwischen Ordnung und Irrationalität, Witz und Unsinn, sprachkünstlerischer Experimentierfreude und Perfektion.
Die erste Version des Textes ist unwesentlich jünger als die Deutsche Nationalbibliothek und mitten in einer kulturell und gesellschaftlich enorm aufbruchsbereiten Zeit entstanden. Zugleich bündelt das Lautgedicht die drei Sammlungsschwerpunkte der Deutschen Nationalbibliothek: Schrift, Bild und Ton.


Ursprung
Das Gedicht entstand in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts – in gleich mehreren Versionen. Die Besonderheit des Textes: Er zerlegt Sprache radikal in seine Einzelteile: in Wortfragmente, Silben und Buchstaben, und entzieht der Sprache auf diese Weise jeden Sinn.
Mit lautstarker Vehemenz verweigert sich der Text, etwas anderes zu sein als: Klang. Dichtung wird zu reiner Hör-Kunst fragmentiert, das Lautgedicht wirft mit scheinbar leichter Hand eine jahrtausendealte Tradition und Vorstellung von Sprache als Medium der Verständigung „über den Haufen“.
Übrig bleibt: der Klang und Laute. Nie zuvor war so viel Musik im Text.
Zeit der Entstehung
Entstanden ist das Gedicht in einer Zeit eines ungeheuren kulturellen Aufbruchs, den sog. „Golden Twenties“, die in ihrer schillernden Fragilität zur Metapher für einen gesellschaftlichen und kulturellen Neubeginn stehen.
Als eine Brückenzeit in der Geschichte der politischen Systeme – zwischen Kaiserzeit und Nationalsozialismus – sind die „langen“ Zwanziger Jahre (1918 – 1933) ein Jahrzehnt, das von Emanzipations- und Protestbewegungen ebenso geprägt ist, wie von Inflation, multiplen Wirtschaftskrisen und einschüchterndem Nationalismus: Der Kampf um Meinungsfreiheit, gesellschaftliche Reformen und Frauenrechte tritt offen zutage, Sexualitätsdiskurse und politische Proteste durchziehen die Gesellschaft.
Der Aufbruch in der Kunst bringt Dada und Jazz hervor, Tanz, Theater und Kino, Neue Sachlichkeit, illustrierte Massenpresse – insgesamt eine nie dagewesene Flut an künstlerischer Innovation. Bevor dieser Aufbruch 1933 mit dem Scheitern der ersten Demokratie auf deutschem Boden und dem Beginn der Barbarei in Deutschland endet, geben sich auf künstlerischem Terrain die Revolten die Klinke in die Hand:
Die Malerei befreit sich vom Gegenstand, wird abstrakt, reine Form und Farbe. Komponist*innen entdecken Strukturen jenseits der Harmonie und brechen mit allen Ordnungsprinzipien bisheriger Musiktradition. Die Dichtung befreit sich von der sinnstiftenden Meistererzählung. Das Ziel: den Un-Sinn als zentrales Element der Kunst zu feiern.


Wiedersehen im Lesesaal
Während die Gäste im Lesesaal saßen – dessen Ausstattung einerseits von stilistischem Mischmasch, Kitsch und Konservatismus und andererseits von Ordnung, gediegener Atmosphäre und Klarheit in der Lichtführung geprägt ist – lauschten sie dem in seiner Modernität immer noch radikal wirkenden, verwirrenden, manchmal lustig und manchmal geradezu einschüchternd klingenden Schlüsseltext der deutschen Dichtung.
Die nächsten Gelegenheiten den neu eröffneten Lesesaal zu erleben, sind während der Lesungen im Rahmen von Leipzig liest Ende März sowie zur Taschenlampenführung zur Nacht der Bibliotheken.