„Das Eigentliche ist ganz etwas anderes“

3. Mai 2023
von Dr. Sylvia Asmus

– ein Glücksfall für die Sammlung des Exilarchivs

Wie kommen Bestände zur Sammlung des Deutschen Exilarchivs hinzu? Wir werden wir auf Exildokumente aufmerksam, die sich ja oft noch in Privatbesitz befinden? Und wie werden Nachlassgeber*innen aufmerksam auf uns als sammelnde Institution? Pauschal lassen sich diese Fragen nicht beantworten. Das Deutsche Exilarchiv bietet gezielt auf Auktionen und wertet Antiquariatsangebote aus, um relevante Exildokumente und –publikationen für die Sammlung zu finden. In den 74 Jahren seines Bestehens hat sich das Exilarchiv einen Ruf als verlässliche Organisation erworben, als Ort der Erinnerung an das Exil, als Ort der Erforschung, der Sammlung und der Bewahrung. Heute sind wir in einschlägigen Netzwerken vertreten, vielen Personen und Institutionen bekannt, wir kooperieren mit einer Vielzahl von Organisationen, vermitteln unsere Themen mit Ausstellungen, Veranstaltungen und politischer Bildungsarbeit in die Öffentlichkeit.

1967 war das noch anders, wenn auch eine erste wegweisende Ausstellung bereits 1965 präsentiert worden war und das Exilarchiv als eine der ersten Institutionen galt, die sich mit dem Exil aus der NS-Diktatur nachhaltig befasste.

Prinz und Prinzessin zu Löwenstein, 1937, Deutsches Exilarchiv 1933-1945 der Deutschen Nationalbibliothek, mit Dank an Konstanza Prinzessin zu Löwenstein

1967 lebten viele der ins Exil getriebenen Persönlichkeiten noch, einige hatten 1948/49 sogar den Impuls zur Gründung des Exilarchivs gegeben. Nur wenige von ihnen waren jedoch nach Deutschland zurückgekehrt. Das Wissen um die Ermordung der europäischen Jüdinnen und Juden machte es für viel unvorstellbar, ins „Land der Täter“ zurückzukehren, zudem hat es keine offizielle Einladung zur Rückkehr gegeben. Prinz Hubertus und Prinzessin Helga zu Löwenstein aber waren bereits 1946 aus ihrem Zufluchtsland USA nach Deutschland zurückgekehrt. Sie wollten sich am Aufbau einer Demokratie in Deutschland beteiligen. In ihrem Zufluchtsland USA waren Sie als „Royal Couple in pursuit of democracy“ aufgetreten, hatten Vorträge über den Nationalsozialismus gehalten –  und sie hatten die Deutsche Akademie im Exil / American Guild for German Cultural Freedom gegründet. Die Organisation sollte eine Art Dachverband für die in viele Länder der Welt versprengten deutschsprachigen Intellektuellen sein und zugleich konkrete Hilfe in Form von Stipendien, Bürgschaften und Veröffentlichungsmöglichkeiten bieten. Viele Intellektuelle nahmen Kontakt zur Deutschen Akademie auf, viele suchten Hilfe, andere unterstützten die Organisation. In führenden Rollen waren Thomas Mann und Sigmund Freud beteiligt.

Dass sich das einzigartige Archiv dieser Organisation erhalten hat und heute Teil der Sammlung des Deutschen Exilarchivs ist, kommt einem kleinen Wunder gleich.
Wohl wissend, welchen Schatz sie bei sich verwahrten, nahmen die Löwensteins die gesamten Unterlagen aus den USA mit nach Deutschland. 20 Jahre lang lagerten die Akten in ihrem Bonner Haus.

Im März 1967 nahm das Deutsche Exilarchiv Kontakt zu Prinz zu Löwenstein auf, nicht ahnend, welche Unterlagen sich im Besitz der Löwensteins befanden. Interessiert war das Exilarchiv an Kopien von Löwensteins politischer Exilkorrespondenz. In seinem Antwortschreiben führte Löwenstein am 19.3.1967 aus.

Worum es ginge, ist nicht mein Briefwechsel […]. Das Eigentliche ist ganz etwas anderes: Ich bin Gründer und Generalsekretär der American Guild for German Cultural Freedom gewesen, und dazu der Deutschen Akademie im Exil. Mehrere hundert deutsche Geistesschaffende haben unsere Stipendien, Druckgarantien, etc. erhalten – darunter Hermann Broch, Bert Brecht, Hans Sahl, Walter Mehring, Wiesengrund-Adorno, Jesse Thoor, Prof. Fraenkel, usw. usw. Es gibt Korrespondenzen mit nahezu allen Persönlichkeiten der Emigration: Sigmund Freud, die Manns, Alfred Neumann, Franz Werfel, Albert Einstein, Bronislaw Hubermann, Klemperer, Stefan Zweig, Arnold Zweig – usw.-usw.-usw. Das Ganze umfasst mehrere Kisten und stellt einen recht beachtlichen Wert dar, sowohl ideell, wie auch materiell“.

Das war eine unglaubliche Nachricht. Nach einer Vor-Ort-Sichtung des Materials bekundete das Deutsche Exilarchiv Interesse an der Übernahme der Unterlagen. Auch Einrichtungen in anderen Teilen der Welt waren an der Übernahme dieser außergewöhnlichen Überlieferung interessiert. Letztlich gelang dem Exilarchiv mit finanzieller Unterstützung der Stiftung Volkswagen der Ankauf. Bis heute zählt dieses Archiv zu den meistgenutzten Beständen des Deutschen Exilarchivs.

968 Personen-Akten sind überliefert, die Liste der Namen liest sich wie ein Who-is-who der deutschsprachigen Emigation. Bertolt Brecht, Hermann Broch, Elias Canetti, Alfred Döblin, Albert Einstein, Lion Feuchtwanger, Oskar Maria Graf, Leonhard Frank, Rudolf Frank, Sigmund Freud, Hermann Kesten, Siegfried Kracauer, Maria Leitner, Erika Mann, Heinrich Mann, Klaus Mann, Thomas Mann, Robert Musil, Joseph Roth, René Schickele, Franz Werfel, Paul Zech, Stefan Zweig und viele andere sind mit Briefen und Dokumenten vertreten.

Das Material gewährt einen einzigartigen Einblick in die Lebens- und Arbeitsbedingungen der Exilierten, in Netzwerke, Einreisebestimmungen der Zufluchtsländer und viele weitere Aspekte.

Hinzu kommt die überlieferte Geschäftsausstattung und -korrespondenz der Deutschen Akademie, die deutlich werden lässt, wie die Organisation mit Sitz in New York arbeitete, mit welch bescheidenen Mitteln eine lebenswichtige Unterstützungsarbeit organisiert wurde und warum die Deutsche Akademie 1940 die Arbeit einstellen musste.

„Das eigentliche ist ganz etwas anderes“ – damit sollte Prinz Hubertus zu Löwenstein Recht behalten. Durch Engagement, Wissen, Vernetzung und immer wieder auch durch glückliche Zufälle wächst die Sammlung des Exilarchivs bis heute weiter und ermöglicht so immer wieder neue Perspektiven auf Exil und Emigration.

111-Geschichten-Redaktion

Zum 111. Jubiläum haben wir, die Beschäftigten der Deutschen Nationalbibliothek, in Erinnerungen und Archiven gestöbert. Von März bis November präsentieren wir hier 111 Geschichten aus der Deutschen Nationalbibliothek.

*Nachweis Beitragsbild auf der Startseite:Deutsches Exilarchiv

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  • ISSN 2751-3238