Das ,,Schwarze Schaf‘‘ unter den Lesesälen

10. November 2023
von Engel Friederike Holst

Von den vier historischen Lesesälen der Deutschen Nationalbibliothek in Leipzig ist bisher nur der ehemalige Zeitschriftenlesesaal umfassend mit PCs ausgestattet worden. Die anderen drei Säle bieten Lesenden im Grunde dasselbe Angebot wie schon vor hundert Jahren: Arbeitsplätze, bestehend aus Schreibtisch mit Stuhl, um sich in die Lektüre des Bestandes der DNB vertiefen zu können. Zwei der historischen Säle werden gern frequentiert, der Dritte scheint unbeliebt. Woran kann das liegen und ließe es sich ändern?

Quelle des Wissens

Die Wahrnehmung des historistisch gestalteten Großen Lesesaals im 1916 eröffneten Kernbau scheint sich deutlich gewandelt zu haben. Der Beschreibung des Saals in der Neujahrsgabe der Deutschen Bücherei von 1986 als „zweckmäßig-nüchtern“ möchte man aus heutiger Sicht kaum zustimmen, dafür machen die klassische Gestaltung und hohe Qualität der Materialien zu viel des Gesamteindruckes aus. Anders als die geänderte Wahrnehmung vermuten lässt, sind  beim Vergleich von Fotografien aus der Eröffnungszeit mit dem heutigen Zustand nur geringfügige Unterschiede festzustellen. Abbildungen aus den späten Jahren der DDR zeigen, dass zwischenzeitlich andere Tischlampen installiert worden waren, die später zugunsten der ursprünglich vorgesehenen Lampen wieder entfernt wurden.

Die Stirnseiten des Saales schmückten ursprünglich zwei monumentale Jugendstil-Wandgemälde des Künstlers Ludwig von Hofmann. Heroische Männerkörper an der „Quelle der Kraft“, idealisierte Frauen und Kinder am „Brunnen des Lebens“. Der Kriegsverlust der „Quelle der Kraft“ macht heute das antiquierte Rollenverständnis des Bildpaars weniger offensichtlich.

Zurzeit scheint sich das Publikum im großen Lesesaal sehr wohl zu fühlen. Die schweren Massivholzmöbel laden zu stillem Lesen im Schein der grünen Tischlampen ein. Die „festlich weihevolle Stimmung“, die sich Oskar Pusch, Architekt des Ursprungsbaus, für seine Bibliothek erhoffte, lässt sich in diesem Saal besonders gut nachvollziehen. Wer versehentlich zu laute Geräusche von sich gibt, kann mit der ein oder anderen hochgezogenen Augenbraue rechnen – die Akustik des Saales ist in Anbetracht seiner Größe aber erstaunlich angenehm.

Vermutlich macht gerade das Gefühl, in eine andere Zeit versetzt zu sein, seine Attraktivität aus, denn der große Lesesaal ist unangefochten der beliebteste der DNB.

Ein neues Image – Bauhaus statt Hitler

Der 1936 eröffnete Naturwissenschaftliche Lesesaal der DNB hat in den vergangenen Jahren ein äußerst erfolgreiches Image-Makeover erfahren. Anlässlich des 100-jährigen Bauhaus-Jubiläums wurden Führungen durch den „Bauhaus-Lesesaal am Deutschen Platz“ angeboten. Die ästhetischen Erwartungen, die eine solche Ankündigung im Publikum hervorrufen mag, erfüllen die ziffernlose Uhr am Kopfende des Lesesaals, die tropfenförmigen Lampen und die Stahlrohrfreischwinger von Mart Stam zur Genüge.

In den 30er Jahren war der Saal, der damals noch Kleiner Lesesaal hieß, mit Literatur der Themenbereiche „Volks-, Rassen- und Sippenkunde“ bestückt. Die Stirnseite des Saals schmückte eine in der Tradition antiker Münzen gestaltete Büste Hitlers im Profil, angefertigt vom Leipziger Künstler Felix Pfeifer. Die für Darstellungen Hitlers ungewöhnliche Form könnte sich auf ein ähnliches Bild König Friedrich Augusts von Sachsen beziehen, das vom selben Künstler für den Neubau der Deutschen Bücherei angefertigt worden war. Über hochmoderne Lautsprecheranlagen wurden Lesende im Kleinen Lesesaal mit Reden des Führers beschallt. Im Jahresbericht der Deutschen Bücherei von 1938 wird die Ausstattung des Saals als „neuzeitlich“ und „von vornehmer Schlichtheit“ beschrieben, die „einen würdigen Eindruck“ mache.

Im Rahmen der Ankündigung der „Bauhaus-Führung“ wurde diese Zeitebene zwar erwähnt, blieb aber Randnotiz. Im Fokus stand eindeutig die Wertschätzung des seinerzeit radikalen Stils, der wie kaum ein anderer das Design des 20. Jahrhunderts prägte. Diese Trennung der ursprünglichen Ausstattung des Saals von dessen propagandistischer Aufladung durch die Nazis mag richtig sein, wenn man bedenkt, dass Planung und Entwurf des Saals vermutlich schon vor der Machtübernahme fortgeschritten waren. Die etwas steifen Formulierungen aus dem Jahresbericht 1938 könnten darauf hinweisen, dass man sich mit der radikalen Formensprache der Neuen Sachlichkeit noch schwertat.

Für die aufwendige Restaurierung und Rekonstruktion der Ausstattung im Naturwissenschaftlichen Lesesaal wurde sorgfältig ausgewählt, welche Teile wiederhergestellt werden sollten – und welche nicht. Die Hitlerbüste war schon zu DDR-Zeit verschwunden, die provisorisch verkleidete Leerstelle 1959 noch zu sehen. Auf 1969 veröffentlichten Fotografien läuft das mannshohe Bücherregal ohne Unterbrechung durch. Die Tropfenlampen, die zwischenzeitlich durch andere ersetzt waren, sind heute wieder angebracht. Auch die beiden Wandbilder, auf denen sich neben eher harmlosen Figuren auch Hitler selbst mit erhobenem rechten Arm befand, bleiben unter einer deckenden Farbschicht verborgen. Auch ohne den historischen Streit um die schlechte Qualität dieser Bebilderung ist eine Freilegung dieses Zeitzeugnisses im Lesesaal für Technik nach wie vor undenkbar.

Den Blick vorrangig auf die ästhetischen Vorstellungen des Bauhaus-Umfeldes zu richten, ist sicher die einfachere Wahl und macht den Saal insbesondere für junges Publikum attraktiv. Auch wenn jedes versehentliche Berühren der Stahlrohrbeine durch den ganzen Saal hallt und man sich mit dem falschen Schuhwerk durch lautes Quietschen bemerkbar macht, ist der Lesesaal offensichtlich beliebt.

Das ,,schwarze Schaf‘‘ unter den Lesesälen

Ein anderes Bild bietet schließlich das nördliche Gegenstück des Naturwissenschaftlichen Lesesaals – der Lesesaal für Technik. Selbst zu Stoßzeiten, in denen sich Großer und Naturwissenschaftlicher Lesesaal rege füllen, ist es ein Leichtes, im Technik-Lesesaal allein zu bleiben. Was macht  ihn weniger attraktiv?

Der Lesesaal für Technik liegt im 1963 fertiggestellten zweiten Erweiterungsbau, der äußerlich weitestgehend noch den Plänen aus der Gründungszeit der Deutschen Bücherei folgte. Anders als bei seinem südlichen Gegenstück erlaubt die Deckenhöhe im Lesesaal für Technik keine Empore. Die entsprechend kleinere Fensterfläche führt zu geringerem Lichteinfall, den die heute abgehängte Decke zusätzlich hemmt. Anders als in den beiden älteren Sälen, deren Tische mit Leselampen ausgestattet sind, ist man hier auf das Oberlicht angewiesen. Die wiederhergestellten, über die Decke verteilten Rundleuchten werden heute von indirekten Strahlern ergänzt. Trotzdem ist die Lichtsituation  unbefriedigend.

Lässt man aus einer der hinteren Reihen den Blick durch den Naturwissenschaftlichen Lesesaal schweifen, wirkt der Raum uneinheitlich. Von seiner ursprünglichen Einrichtung sind zwar die wesentlichen Elemente wie der Fußbodenbelag, Regale, Tische und das Wandbild erhalten, dennoch scheint ein wichtiger Teil des historischen Raumgefühls verloren gegangen zu sein.

Das in Sgraffito-Technik gearbeitete Wandbild vermittelt die zeittypische Botschaft von Wissenschaft und Technik im Dienst des Friedens, symbolisiert durch Flugzeug und Taube. Urheber des Bildes war vermutlich Gert Pötzschig oder Heiner Vogel, beide Leipziger Künstler aus dem Umfeld der HGB und Erschaffer weiterer Gipsschnitte, die bis heute im Treppenhaus hinter dem Lesesaal für Technik hängen.

Vergleicht man eine der wenigen Fotografien des Lesesaals aus dessen Entstehungszeit mit heutigen Aufnahmen, wird deutlich, dass es auch hier tatsächlich nur geringfügige Änderungen gegeben hat, diese allerdings von deutlicher ästhetischer Wirkung.

Den schwerwiegendsten Unterschied machen die neuen Stühle, deren klobig-dominanter Schwung nicht zur Leichtigkeit der abgeschrägten Tische passen will. Ihre umlaufenden Lehnen drängen sich an die feinen Schrägen der Tische, die Holzfarben passen nicht zusammen. Möglicherweise wurden die Stühle von einem anderen Standort im Haus hierhin versetzt oder in Anlehnung an historische Beispiele angefertigt. Die Form der heute im Lesesaal für Technik aufgestellten Stühle ähnelt dem historischen Stuhlmodell des großen Lesesaals, das auch auf einer Fotografie des Zeitschriftenlesesaals von 1969 zu sehen ist. Die Rückenlehne dieses Modells ragt allerdings höher über die Armlehnen hinaus als diejenige der neuzeitlichen Stühle im Technischen Lesesaal. Die Stühle des Großen und Zeitschriftenlesesaals treffen auf beiden historischen Photographien außerdem auf proportional passende Tische. Die geschwungenen Lehnen der heutigen Stühle im Lesesaal für Technik ähneln auch einer Stuhlserie, die auf einer Fotografie des damaligen Vorlesungsraums im Erweiterungsbau von 1938 zu sehen ist, allerdings hier ohne Verstrebung im Bereich der Rückenlehne. Auch dieses historische Beispiel zeigt die Stühle mit passenden, rustikal-schlichten Tischen.

Die ursprünglich im Lesesaal für Technik aufgestellten Stühle sind auf einem Foto in der Neujahrsgabe der Deutschen Bücherei von 1964 zu sehen und werden dort als „formschön und bequem“ beschrieben. Filigrane Holzgestelle mit leicht ausgestellten Beinen trugen mit beigem Kunststoff bezogene (und vermutlich leicht gepolsterte) Sitzflächen und Lehnen, deren konkaver Schwung hervorragend mit den Tischschrägen harmonierte. Das gleiche Stuhlmodell lässt sich auch auf zeitgleichen Fotografien anderer Räume finden, unter anderem im Speisesaal, und war sicher ein Standardmodell der DDR. Vereinzelte Beispiele dieser Stuhlserie befinden sich noch immer im Bestand der DNB.

Außerdem fallen auf der Fotografie eine Lampe mit weit ausgestelltem grünem Schirm und eine schwarze ziffernlose Uhr über der Seitentür ins Auge. Die Lampe ist heute verschwunden, die Uhr durch eine andere ersetzt. Neuzeitliche Ergänzungen wie die Mülleimer und Computerbildschirme an vereinzelten Arbeitsplätzen stören den Raumeindruck zusätzlich. Inwieweit auf die Farbigkeit der Fotografie Verlass ist, lässt sich schwer sagen, Lindgrün, Hellrosa und Beigetöne waren für Einrichtungen dieser Zeit aber nicht unüblich.

Zwar wurde die Idee der Nachwendezeit, das Mobiliar des Lesesaals vollständig zu ersetzen, glücklicherweise verworfen – auf eine ebenso sorgfältige Wiederherstellung des Interieurs wie in den anderen beiden Lesesälen konnte man sich aber offenbar nicht einigen.

Rekonstruktion als Erfolgskonzept

Nicht nur der Zugang zum einzigartigen Bestand, sondern auch die stimmungsvollen Arbeitsplätze in der Deutschen Nationalbibliothek laden zum Verweilen ein. Setzt man die Beliebtheit der drei historisch gehaltenen Lesesäle der DNB in Verbindung mit ihrer jeweiligen Restaurierungsgeschichte, lässt sich behaupten: Je stimmiger die Formensprache ihrer Entstehungszeit beibehalten wurde, desto öfter wird der Lesesaal genutzt. Die besondere historische Atmosphäre, das Eintauchen in unterschiedliche Zeitschichten, macht einen Besuch der DNB zum besonderen Erlebnis.

Während der zur Eröffnung mit Nazi-Dekor versehene Naturwissenschaftliche Lesesaal heute wieder in bauzeitlichen Formen erstrahlen darf, tut man sich mit dem Zugang zur DDR-Moderne offenbar noch immer schwer. Die Wahrnehmung der ästhetischen Äußerungen dieser Zeit wird noch immer von negativen Assoziationen überschattet. Viele nehmen pauschal minderwertige Qualität der Materialien oder geistige Unfreiheit der Entwürfe an und sprechen so der DDR-Moderne den ihr zustehenden Platz im Kanon der gesamtdeutschen Stilgeschichte ab.

Die historisch falsche Möblierung und Raumgestaltung im Lesesaal für Technik reißt eine Lücke in das Ensemble der DNB, das seine bauzeitliche Ästhetik sonst so konsequent einhält. Diese Lücke könnte durch sorgfältige Wiederherstellung des bauzeitlichen Zustandes auch in diesem Lesesaal geschlossen werden.

Engel Friederike Holst hat ihr Bachelorstudium der Kunstgeschichte und Kulturgutsicherung in Greifswald begonnen und in Bamberg abgeschlossen. Zur Zeit absolviert sie ihr Masterstudium in Leipzig.

Im Kontext seiner Kooperation mit der Wissenschaft hat das Deutsche Buch- und Schriftmuseum im Wintersemester 2022/23 einen Lehrauftrag an der Universität Leipzig durchgeführt, das sich unter dem Aspekt der Gestaltung, Funktionen und Ästhetiken des Speicherns mit der spannenden 111-jährigen Geschichte der DNB beschäftigt. Es ist eine in der Strategie der DNB fest verankerte Lehrkooperation, deren Ergebnisse zugleich Auskunft geben über 111 Jahre Bibliotheksgeschichte.

*Nachweis Beitragsbild auf der Startseite:DNB, Neujahrsgabe der Deutschen Bücherei 1964

3 Kommentare zu „Das ,,Schwarze Schaf‘‘ unter den Lesesälen“

  1. Richard Hebstreit sagt:

    Irgendwann, um 1985 durfte ich „dekadente Westliteratur“ lesen, wie die Goldschmiedezeitung, Kugellagerberechnungen der Fa. Kugelfischer. Manchmal verzichtete ich auf das „befohlene“ Lesen von Fachliteratur und las „Das Boot“, den „Stern@ und die Frankfurter Allgemeine.
    Frage dazu stimmt es, dass das Ministerium für Staatssicherheit Ausleihprotokolle abverlangte: „Wer liest wann was?“

    1. Fanni Fröhlich sagt:

      Die Frage ist nicht einfach mit Ja oder Nein zu beantworten. Aus der „allgemeinen“ Benutzungspraxis sind den Kolleg*innen solche Ausleihprotokolle als Routinevorgang nicht bekannt.
      Der Ausleihvorgang war damals ausschließlich analog mit auszufüllendem Bestell- bzw. Leihschein. Da blieb nach dem Ausleihvorgang nichts Protokollartiges übrig und parallele Protokolle wären sehr aufwändig gewesen, zumal die damalige Kopiertechnik das nicht in dem Umfang zugelassen hätte. Das schließt aber nicht aus, dass es in Einzelfällen Meldungen über vermeintlich unzuträgliche Lektüre über die diversen Kontaktpersonen beim Ministerium für Staatssicherheit gab.
      Anders war es mit der Benutzung gesperrter Literatur im Speziallesesaal (heute: Rotunde). Da scheint die Überwachung, wer was mit welcher Begründung liest, um einiges enger gewesen zu sein. Das lässt sich ganz gut bei Rau „Nationalbibliothek im geteilten Land“ im Kapitel V.1.c.) „Wissenschaftsförderung und Wissenskontrolle: Die Bibliothek und ihre Benutzer“ (S. 564 ff.) nachlesen.
      Aber solche ‚Protokolle‘ kennen die Kolleg*innen nicht bzw. gibt es keine Überlieferung davon in unserem Haus.

  2. Uta Ackermann sagt:

    Sehr spannender Einblick, vielen Dank!
    Mich hat beeindruckt, wie mein vages ästhetisches Unbehagen so klar analysiert werden kann.

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  • ISSN 2751-3238