Der int. Tag der Demokratie in der DNB 2024
Zum Internationalen Tag der Demokratie am 15. September hatte die Deutsche Nationalbibliothek Leipzig zu einem Vortrag mit anschließender Diskussion eingeladen. In Kooperation mit dem Erich-Zeigner-Haus e.V. Leipzig war Prof. Dr. Karl Heinrich Pohl von der Christian-Albrechts-Universität Kiel zu Gast, um in seinem Vortrag „Was unsere Demokratie gefährdet und was sie stärkt“ den historischen Kontext der aktuellen politischen Krisenzeiten zu erläutern.
Dabei skizzierte er den Werdegang der Demokratie von der Weimarer Republik über die DDR zu den heutigen politischen Verhältnissen in Ostdeutschland. Die anschließende Diskussion offenbarte unterschiedliche Meinungen sowohl zu den Gründen der Demokratiekrise als auch den möglichen Handlungsspielräumen, um sie zu stärken.
Laut den aktuellen strategischen Prioritäten hat sich die DNB zum Ziel gesetzt, ein Ort zu sein, der sich für Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Meinungsfreiheit einsetzt und gegen Rassismus und Antisemitismus ein Zeichen setzt. Im Folgenden werden die von Professor Pohl dargestellten Überlegungen zusammengefasst wiedergegeben, damit sie als Grundlage für weitere Auseinandersetzungen mit dem Thema dienen können.
Eine Auswahl an allgemeinen Gründen für die aktuellen Wahlergebnisse:
- Fehlende Partizipation: Demokratie lebt davon, dass „normale“ BürgerInnen für sie einstehen und in der Gesellschaft partizipieren. Dies nehme aktuell ab.
- Prodemokratische Milieus sind am Auflösen: Kirchen, Parteien oder Gewerkschaften sind, was die Mitgliederzahlen angeht, am Schwinden. Diese eher staatstragenden oder unterstützenden Vereine seien vor allem in Ostdeutschland marginal aufgestellt.
- Rechte Parteien hätten eine romantisierte Narrative der Vergangenheit, die sie in den Wahlkämpfen als Zukunftsvision propagierten, während etablierten Parteien eine solche Vision fehle oder es zumindest von den Wählenden so gesehen werde.
- Die Welt ist aktuell in einer verstärkten krisenbehafteten Phase, die mehr Zukunftsängste schürt. Rechte Parteien hätten darauf vermeintlich einfache Antworten, die jedoch niemals die gegenwärtigen Probleme lösen könnten.
- Demokratie lebt von Kompromissen, welche in einem parlamentarischen System durch langwierige Prozessen ausgehandelt werden müssen. Dies führt zu der Wahrnehmung von vermeintlicher Untätigkeit regierender Parteien. Rechte Parteien hätten dadurch reichlich Futter um Unzufriedenheit an klaren Beispielen aufzustacheln.
- Die Räume im Internet und den sozialen Medien würden rechten Parteien und Propagandisten überlassen. Die etablierten Parteien hätten keine Visionen, wie dieser Raum zu nutzen sei.
- Rechte Parteien hätten es geschafft, die öffentlichen Diskussionen auf Themen zu lenken, die für die tatsächlichen Probleme der Gesellschaft und deren Lösungen völlig unerheblich seien: Genderdebatte, Sexualunterricht oder vermeintliche Sprachzensur würden als Kampfdebatten geführt um von der eigenen Schwäche der Parteiprogramme in den wichtigen Themen abzulenken.
Einige speziell auf Ostdeutschland gerichtete Überlegungen waren:
- Es gäbe einen generellen Trend in den Staaten der ehemaligen UdSSR zu rechten Parteien, was an Ländern wie Ungarn, Polen und Slowakei ersichtlich sei.
- Es gäbe einen Unterschied, ob man erst seit 35 Jahren in einer Demokratie lebt oder bereits seit 75 Jahren.
- Die Menschen in Westdeutschland hätten mehr Zeit gehabt, von der (westlichen) Welt sehen zu können, wenngleich dieser Punkt nicht zu überhöht bewertet werden dürfe.
- Der Zugang zu unterschiedlichsten Informationsquellen war in Westdeutschland wesentlich höher.
- Das System in der DDR hätte die Menschen nicht in politischer Selbstständigkeit befördert. Dementsprechend sei hier weniger Erfahrung mit Parteiendemokratie.
- Die Erfahrung eines absoluten Systemumschwungs, also eines Bruches, sei immens.
- Die Erfahrungen mit der Eingliederung an die BDR und Übernahmen wie solche der Treuhand hätten zu viel Misstrauen geführt.
- Nach wie vor seien viele Spitzenpositionen im Osten mit Westdeutschen besetzt.
- Es würden zu viele Fehler in der Organisation und Kommunikation der Migrationsintegration gemacht.
- Es fehle für viele Menschen die Fürsorge des Staates.
Was könnten die BürgerInnen tun?
- Was könnten die Westdeutschen von den Ostdeutschen lernen? Die Umbruchserfahrung von der DDR zur BRD könnte transferiert werden. Welche Eigenschaften muss man haben, um Umbrüche zu überstehen? Wie kann man Menschen mit gebrochenen Biografien helfen?
- Psychologie im Umgang mit Menschen ist am wichtigsten. Was haben die Menschen für Ängste, die man zur Kenntnis nehmen muss? Die Sorgen ernst nehmen und doch immer hinterfragen. Nach den Quellen fragen.
- Man muss trotzdem Faken kennen, um populistische Äußerungen widerlegen zu können. Wenn man sich nicht auskennt, muss man die Diskussion nicht suchen.
- Die populistischen Themen, die langsam durch Tabubrüche in die Gesellschaft sickern, müssen verlacht und die eigenen Themen platziert werden. Richtiger Nazi-Jargon muss jedoch hart bekämpft werden.
- Die Wahl einer Partei, die die parlamentarische Demokratie abschaffen möchte, sollte hinterfragt werden, ob es sich „nur“ um einen Denkzettel handelt.
- Immer weitermachen, kämpfen und trotzdem die Gefühle anderer Menschen berücksichtigen, die sich schnell in die Opferrolle gezwängt sehen.
Professor Pohl betonte stets, dass dies Denkanstöße sein sollen, die durchaus an manchen Stellen anders gesehen werden können und er eine westdeutsche Perspektive vertrete. Dies zeigte auch die anregende Diskussion im Nachgang, die seine Punkte aufgriff und mit ostdeutscher Erfahrung verknüpfte.
Linus Hartmann-Enke
Dr. Linus Hartmann-Enke ist Mitglied im Wissenschaftlichen Dienst sowie Fachreferent für Musik und Geschichte am Standort Leipzig.