„Eine kleine Frechheit“ fürs Exilarchiv

19. Oktober 2021
von Dr. Sylvia Asmus

Dora Schindel, die in Brasilien vor den Nationalsozialist*innen Zuflucht gefunden hatte, hielt viele Jahre engen Kontakt zur Leiterin des Exilarchivs. Bei den vielen Besuchen präsentierte sie häufig besondere Stücke, die sie über die Jahrzehnte aufbewahrt hatte und in die Obhut des Archivs übergeben wollte. Von einem solchen Stück und wie es mit Stefan Zweig zusammenhängt, erzählt dieser Blogbeitrag.

Ein „ganz besonderes Stück“ wolle Sie mir für die Sammlung des Deutschen Exilarchivs übergeben, kündigte Dora Schindel (1915–2018), genannt Dorli, bei einem meiner vielen Besuche in ihrem Wohnhaus, der Casa Görgen in Bonn, an. In einem Briefumschlag sicher aufbewahrt, zog sie aus einer Schachtel eine Bildpostkarte heraus und gab sie mir.

“Schöne Grüsse von Stefan Zweig“

Auf der Vorderseite der Karte ist eine Ansicht Salzburgs zu sehen. Aufgenommen wurde das Foto auf dem Kapuzinerberg, dem Stadtberg Salzburgs, mit Blick auf die Stadt. Auf der Rückseite findet sich ein Poststempel: Salzburg, 7. Juni 1932. Die Adressatin der Post ist Fräulein Dorli Schindel, Auenstr. 7, München. Dort war Dora Schindel am 16. November 1915 geboren worden. Als sie diese Karte erhielt, war sie also 16 Jahre alt. So lange hatte Sie die Karte aufbewahrt, trotz ihres turbulenten Lebens. Sie war eine tanzbegeisterte junge Frau, die an der berühmten Wigman-Schule eingeschrieben und mit Elisabeth Mann befreundet war. Aber das ist ein anderes Thema. Die Karte trägt zwei kurze handschriftliche Grußbotschaften:

„Liebe Dorli, hier ist die versprochene Karte. Herzlichst Manfred“ und

„Schöne Grüsse von Stefan Zweig“.

Vorderseite Postkarte von Manfred Sturmann und Stefan Zweig an Dora Schindel, Salzburg, 6.6.1932, Nachlass Dora Schindel, EB 99/091
Manfred Sturmann und Stefan Zweig an Dora Schindel, Salzburg, 6.6.1932, Nachlass Dora Schindel, EB 99/091
Postkarte von Manfred Sturmann und Stefan Zweig an Dora Schindel, Salzburg, 6.6.1932, Nachlass Dora Schindel, EB 99/091
Manfred Sturmann und Stefan Zweig an Dora Schindel, Salzburg, 6.6.1932, Nachlass Dora Schindel, EB 99/091

Stefan Zweig in Salzburg

Der Gruß Stefan Zweigs (1881–1942) erklärt das Bildmotiv. Der Autor hatte 1917 das „Paschingerschlössl“ am Kapuzinerberg 5 erworben. Von 1919 bis 1934 lebte er dort mit seiner Frau Friderike. Wichtige Werke Zweigs sind an diesem Ort entstanden, darunter sein Welterfolg „Sternstunden der Menschheit“ – übrigens noch heute lesenswert. Am Kapuzinerberg, in seiner „Villa Europa“, wie das Anwesen auch genannt wurde, empfing Zweig viele Künstler*innen und Intellektuelle seiner Zeit.

Auch im Café Bazar, dessen Name auf der Vorderseite der Karte aufgedruckt ist, konnte man Stefan Zweig antreffen. Regelmäßig kehrte er in dem Cafe in der Schwarzstr. 3, am Ufer der Salzach, nicht weit entfernt von seinem Wohnhaus, ein.

Manfred Sturmann erfüllt einen Wunsch

Zu Zweigs Besuchern zählte auch Manfred Sturmann (1903–1989). 1903 in Königsberg / Ostpreußen geboren, lebte Sturmann ab 1923 in München, wo er eine Verlagsausbildung absolvierte. Zeitgleich begann er seine schriftstellerische Karriere. 1929 erschien sein erster Gedichtband „Die Erben“ im Horen-Verlag, Berlin, den er seiner Frau Li gewidmet hatte. Li (Lina) Sturmann war eine geborene Schindel, Doras Schwester. Manfred Sturmann war also Dora Schindels Schwager, oft hat sie von ihm und ihrer Schwester erzählt. Die 16-jährige Dorli war eine Verehrerin Stefan Zweigs. Geschwärmt habe sie für ihn und sie wünschte sich eine handschriftliche Zeile des berühmten Schriftstellers. Ihrem Schwager trug sie auf, Stefan Zweig bei einem Zusammentreffen darum zu bitten. Das sei eine „kleine Frechheit“ gewesen, typisch für sie, räumte sie bei unserem Treffen ein. Ihr Schwager aber kam ihrer Bitte offenbar nach und bat den berühmten Kollegen um den handschriftlichen Gruß, den Stefan Zweig dann auf die Karte setzte. Sehr lange kannten sich Zweig und Sturmann zu diesem Zeitpunkt noch nicht persönlich. Noch im Januar 1929 hatte Stefan Zweig geschrieben: „Aber könnte ich Ihnen doch endlich einmal persönlich begegnen! Ich war jüngst in München, gerade einen Abend, um am Geburtstage meines verehrten Freundes Carossa nicht zu fehlen. Aber vielleicht lockt Sie einmal der schöne Schnee oder sonst der Frühling, die zwei Stunden elektrischer Fahrt nach Salzburg herüber zu wagen“. Sturmann ist dieser Aufforderung offenbar nachgekommen.

Emigration

Zum Zeitpunkt des Versands der Karte an Dora Schindel war das nahe Schicksal der beteiligten Personen und ihre Verfolgung und Gefährdung durch die Nationalsozialisten noch nicht absehbar. Stefan Zweig emigrierte 1934 nach Großbritannien und ging 1940 über Aufenthalte in den USA, Argentinien und Paraguay weiter nach Brasilien. Am 23. Februar 1942 nahm er sich in Petropolis zusammen mit seiner zweiten Frau Lotte Zweig das Leben. Dora Schindel verließ Deutschland aufgrund der zunehmenden Repressionen 1937. Sie ging zunächst in die Schweiz und emigrierte sehr spät, gerade noch rechtzeitig, 1941 nach Brasilien. In diesem Video erzählt sie, dass sie die Lage falsch eingeschätzt hatte. Dann aber war sie sehr hellsichtig und mutig. Gemeinsam mit Hermann M. Görgen ermöglichte sie 48 Personen, die sich als „Gruppe Görgen“ zusammengefunden hatten, die rettende Auswanderung. 1957 kehrte Dora Schindel nach Deutschland zurück. Manfred Sturmann wanderte 1938 nach Palästina/Israel ein.

Sylvia Asmus und Dora Schindel in der „Casa Görgen“ in Bonn, 2016
Sylvia Asmus und Dora Schindel in der „Casa Görgen“ in Bonn, 2016
*Nachweis Beitragsbild auf der Startseite:Privataufnahme, DEA; Nachlass Dora Schindel, EB 99/091

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