Ex Libris: Die Spur führt nach Wien

13. April 2022
von Emily Löffler

In den Jahren 1938/39 erhielt die Deutsche Bücherei Leipzig (heute Deutsche Nationalbibliothek Leipzig, DNB) ca. 550 Schriften, die wir heute aufgrund ihrer Herkunftsgeschichte als NS-Raubgut bewerten. Sie stammen aus der sogenannten Bücherverwertungsstelle Wien. Diese wurde im September 1938 gegründet, um beschlagnahmte Buchbestände aus aufgelösten Verlagen, Buchhandlungen und Privatbibliotheken an wissenschaftliche Bibliotheken des Deutschen Reichs umzuverteilen. Bei der Begutachtung der Schriften fielen in mehreren Bänden Merkmale auf, die uns auf die Spur des Wiener Rechtsanwalts Valentin Rosenfeld brachten.

„Mein Buch V*R“

Exlibris und Widmungsgedicht im Vorsatz des Gedichtbandes „Dir, Madonna“, von Hanns Wolfgang Rath.
Exlibris und Widmungsgedicht im Vorsatz des Gedichtbandes „Dir, Madonna“, von Hanns Wolfgang Rath. Foto: DNB, Emily Löffler

Die Provenienzmerkmale liegen in einem Gedichtband von Hanns Wolfgang Rath und einer Erstausgabe von Gerhart Hauptmanns Theaterstück „Kaiser Karls Geisel: Ein Legendenspiel“ vor. Beide Exemplare enthalten im Vorsatz ein Exlibris mit der Reproduktion einer Lithografie von Karl Bauer, die den Philosophen Friedrich Nietzsche zeigt. In den Rahmen eingearbeitet sind das Nietzsche-Zitat „Ich hasse die lesenden Müssiggänger“ sowie der Eigner-Vermerk „Mein Buch V*R“. Wie die Initialen aufzuschlüsseln sind, geht aus der handschriftlichen Widmung hervor, die der Autor Hanns Wolfgang Rath unterhalb eines Widmungsgedichts im fliegenden Blatt seines Lyrikbandes hinterlassen hat: „Herrn Dr. Valentin Rosenfeld in Wien“.

Hakoah Wien, Siegmund Freud und Reformpädagogik

Blick ins Wohn- und Herrenzimmer der Wohnung von Valentin Rosenfeld, gestaltet von Adolf Loos.
Wattmanngasse 11: Wohn- und Herrenzimmer in der Wohnung Valentin Rosenfeld, gestaltet von Adolf Loos, 1930. Foto: Wienbibliothek im Rathaus, CC BY-NC-ND 4.0

Valentin Viktor Rosenfeld wurde am 2. März 1886 in Wien geboren. Dem Wunsch seines Vaters folgend, studierte er an der Universität Wien Rechtswissenschaften, hörte nebenher 1906–1907 aber auch einige Vorlesungen von Sigmund Freud. Am 1. November 1911 heiratete Valentin Rosenfeld seine Cousine Eva Marie Rosenfeld, die in Berlin aufgewachsen war. Das Paar bezog in der Wattmanngasse 11 im XIII. Bezirk eine von dem Architekten Adolf Loos gestaltete Wohnung.

Neben seiner beruflichen Tätigkeit als Rechtsanwalt engagierte Valentin Rosenfeld sich ehrenamtlich als Funktionär im jüdischen Sportverein „Hakoah Wien“. 1929 wurde er zum Präsidenten der Schwimmsektion der Hakoah gewählt, die sich ein Jahr zuvor als eigenständiger Verein konstituiert hatte.

Seit 1924 pflegte das Ehepaar Rosenfeld regelmäßigen gesellschaftlichen Kontakt zu Sigmund Freud. Aus der Freundschaft zwischen Eva Rosenfeld und Anna Freud entstand 1927 der Impuls, gemeinsam mit Anna Freuds Partnerin Dorothy Burlington eine reformpädagogische Privatschule zu gründen. Untergebracht wurde diese in einem eigens erbauten Holzhaus im Garten der Wattmanngasse 11. Die wegen ihrer Lage im XIII. Bezirk auch als „Hietzinger Schule“ bekannte Einrichtung bot als eine der ersten Schulen in Wien Projektunterricht an. Auch Victor, der 1919 geborene Sohn von Valentin und Eva Rosenfeld, zählte zu ihren Schülern.

Eine Schülerzeitung als NS-Raubgut

Titelseite von „Unsere Weihnachts-Zeitung, Wien XIII, Wattmanngasse 11“
Titelseite der „Weihnachtszeitung“. Foto: DNB, Emily Löffler

Bei der Recherche dieser biografischen Hintergründe entpuppte sich die Geschichte der Hietzinger Schule als Schlüssel für die Klärung einer weiteren Objektprovenienz. Zu dem Schriftenkonvolut, das die Deutsche Bücherei aus der Bücherverwertungsstelle erhielt, gehört auch ein gebundenes Typoskript, das unter dem Titel „Unsere Weihnachtszeitung, Wien XIII, Wattmanngasse 11“ verschiedene Schulaufsätze zusammenfasst. Eine „Vorbemerkung der Lehrer“ erläutert den Projektunterricht, in dem die Aufsätze entstanden, und ermöglicht deren Datierung auf das Jahr 1929. Darüber hinaus enthält das Heft jedoch kaum Indizien, die Aufschluss über seine Herkunft geben: Die Autor*innen der Aufsätze werden nur mit Vornamen benannt, die Namen der Lehrkräfte fehlen komplett. Die Verortung in den Kontext der Hietzinger Schule kann daher nur über die Adresse hergeleitet werden – und über das Autogramm Victor auf dem Titelblatt, mit dessen Hilfe wohl Victor Rosenfeld das Exemplar als sein Eigentum gekennzeichnet hatte.

Flucht ins Exil und Verlust der Bibliothek

Als die Ehe der Rosenfelds im Jahr 1931 zerbrach, zog Eva Rosenfeld mit Victor zunächst nach Berlin, ehe sie 1936 mit ihm nach Großbritannien übersiedelte. Valentin Rosenfeld engagierte sich in Wien weiterhin für den Schwimmverein der Hakoah. Da er in seiner beruflichen Tätigkeit als Anwalt den Sozialdemokraten und Kommunisten nahestand, wurde er im Februar 1934 gemeinsam mit zehn weiteren Rechtsanwälten verhaftet.

Zum Zeitpunkt des „Anschlusses“ von Österreich im März 1938 hielt Valentin Rosenfeld sich für einen Familienbesuch in England auf. Zeitzeugen aus dem Umfeld der Hakoah kolportierten später, er sei durch Klienten aus der kommunistischen Partei rechtzeitig über den bevorstehenden Einmarsch der deutschen Truppen in Österreich informiert worden und habe daher gerade noch fliehen können.

Auch im britischen Exil blieb Rosenfeld der Hakoah Wien verbunden. Bereits im November 1938 gründete er die Vereinszeitung als Exilzeitung unter dem Titel „News of the Swimming Club Hakoah in Emigration“ neu. Mit Hilfe der Zeitung erteilte er Auswanderungswilligen juristischen Rat und bot den bereits emigrierten Vereinsmitgliedern eine Plattform zur Vernetzung. Durch die Vermittlung von Visa und Affidavits konnte Rosenfeld außerdem zahlreichen Hakoah-Mitgliedern zur Flucht aus Österreich verhelfen.

Unterdessen wurde sein in Wien zurückgelassenes Vermögen von der Gestapo beschlagnahmt, die anschließend einen Teil seiner Bibliothek der Österreichischen Nationalbibliothek (ÖNB) Wien zuwies. Rosenfelds Sammlung von Goethe-Autografen gelangte zunächst ins Zentraldepot für beschlagnahmte Sammlungen und wurde dann der Handschriftenabteilung der ÖNB übergeben. Weitere Teile seiner Bibliothek wurden über die Bücherverwertungsstelle zerstreut.

Nach 1945: Die Suche nach der verlorenen Bibliothek

Nach dem Kriegsende kehrte Valentin Rosenfeld nicht nach Österreich zurück. Von London aus unternahm er Anstrengungen zur Wiedererlangung seines beschlagnahmten Besitzes. Im Februar 1948 erkundigte er sich bei der ÖNB Wien nach dem Verbleib seiner Bücher und der Goethe-Sammlung. Ein Jahr später konnte diese 15 Autografen, ca. 270 Bücher und 15 Musiknoten an Rosenfeld zurückstellen. Dass dies aber nur einen Bruchteil der Verluste ausmachte, bezeugt auch ein Brief, den Rosenfeld 1967 an Kurt Robert Eissler, den Begründer des amerikanischen Sigmund-Freud-Archivs, schrieb:

„Between the two world wars (I think it was on the occasion of my 40th birthday in 1926) I received as a present from my wife the “Gesamtausgabe” bound in cardboard. She had in the meantime become friendly with Anna Freud, and through her with the whole Freud family and was therefore able to ask the Professor to sign his name into the first volume. He did not only this (adding a few friendly words), but also exchanged the whole set into one bound in leather. Of all the 3,000 odd books which were stolen by the Nazis these volumes are the only ones the loss of which I have not overcome since.“

Valentin Rosenfeld, Recollections about Sigmund Freud, 7 August 1967, Library of Congress, Washington, D.C., Sigmund Freud Papers, Set A, 1914–1988, Recollections, Rosenfeld, Valti, 1967, URL: https://www.loc.gov/item/mss3999001666/ (zuletzt abgerufen am 08.03.2022).

Provenienzforschung und Restitution

Ansicht der drei von der DNB restituierten Bände
Die drei an die Erb*innen von Valentin Rosenfeld restituierten Bände. Foto: DNB, Emily Löffler

Seit der Washingtoner Konferenz über Vermögenswerte aus der Zeit des Holocaust im Jahr 1998 setzen sich Kulturgut sammelnde Einrichtungen wie Museen und Bibliotheken vermehrt mit der Herkunft ihrer Bestände auseinander, um Raubgut zu identifizieren und mit Nachfahren zu fairen und gerechten Lösungen zu gelangen. Die seitdem zunehmend systematisierte Provenienzforschung hat auch im Fall Valentin Rosenfeld zu neuen Entdeckungen und Rückgaben geführt. Bereits 2004 identifizierte die ÖNB Wien in ihrem Bestand vier weitere Autografen und zwei Druckschriften aus seinem Eigentum und gab sie an die Erben zurück. Indirekt bereitete sie damit zugleich den Weg für die Restitutionen der DNB vor: Mit Hilfe der Israelitischen Kultusgemeinde Wien, die auch schon für die ÖNB die Erbenermittlung übernommen hatte, konnten wir Kontakt zu den Erb*innen aufnehmen und die drei Bände im Sommer 2021 an diese zurückgeben.

Dieser Beitrag erscheint im Rahmen des Tags der Provenienzforschung 2022.

Literatur

Eintrag „Valentin Rosenfeld“, in: Wien Geschichte Wiki, zuletzt aktualisiert am 18. Januar 2022, URL: https://www.geschichtewiki.wien.gv.at/Valentin_Rosenfeld (zuletzt abgerufen am 22.03.2022).

Eintrag „Valentin Rosenfeld“, in: Markus G. Patka und Ignaz Hermann Körner (Hrsg.), Lexikon jüdischer Sportler in Wien 1900–1938 (Begleitpublikation zur Ausstellung „100 Jahre Hoppauf Hakoah“ des Jüdischen Museums der Stadt Wien vom 4. Juni bis 7. September 2008), Wien 2008, S. 179–180.

Murray G. Hall und Christina Köstner, „… allerlei für die Nationalbibliothek zu ergattern …“. Eine österreichische Institution in der NS-Zeit, Wien 2006.

Karen Propp, „The Danube Maidens: Hakoah Vienna Girls‘ Swim Team in the 1920s and 1930s“, in: Susanne Helene Betz, Monika Löscher und Pia Schölnberger (Hrsg.), „… mehr als ein Sportverein“. 100 Jahre Hakoah Wien 1909–2009, Innsbruck, Wien u. a. 2009, S. 81–93.

Victor Ross, „A Restoration Comedy“, in: The Association of Jewish Refugees Journal, May 2007, S. 11.

Victor Ross, „Eva Marie Rosenfeld (1892-1977): Persönliche Erinnerung an eine mutige Frau“, in: Anna Freud – Briefe an Eva Rosenfeld, hrsg. Von Peter Heller (Nexus 18), Basel 1994, S. 33–58.

*Nachweis Beitragsbild auf der Startseite:Exlibris von Valentin Rosenfeld. Foto: DNB, CC-BY-SA 3.0 DE

Ein Kommentar zu „Ex Libris: Die Spur führt nach Wien“

  1. Michael Fernau sagt:

    Dank, liebe Frau Löffler, für diesen informationsreichen Beitrag!
    Ihre virtuelle Konferenz anlässlich des Tages zur Provenienzforschung gestern fand großes Interesse, so höre ich.
    Gratulation zu diesem Erfolg auch der ÖA für das wichtige Thema!
    Herzliche Grüße zu den Feiertagen
    Ihr M.F.

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