Das Rote Florilegium

5. Mai 2025
von Dagmar Hülsenberg unter Mitarbeit von Andrea Lothe, Julia Rinck, Bettina Rüdiger und Barbara Schinko

Bisher unbekanntes Blumenbuch entdeckt – vorläufige Rechercheergebnisse

Am 18. September 2024 übergab Frau Prof. Dr. Dr. Dagmar Hülsenberg aus Ilmenau dem Deutschen Buch- und Schriftmuseum der Deutschen Nationalbibliothek als Schenkung ein Florilegium (Blumenbuch) sowie Dokumente aus dessen Provenienzgeschichte.

Übergabe des Roten Florilegiums im Großen Sitzungszimmer der Deutschen Nationalbibliothek durch Dagmar Hülsenberg an Museumsleiterin Stephanie Jacobs und Sammlungskuratorin Julia Rinck. Foto: DNB.

1. Vorgeschichte nach dem 2. Weltkrieg

Dagmar Hülsenberg geb. Hinz besuchte von 1947–1955 gemeinsam mit Elisabeth Steiner geb. Haesert die Lohau-Grundschule in Sonneberg/Thüringen. 1957 legte Elisabeth die Mittlere-Reife-Prüfung an der Hermann-Pistor-Oberschule in Sonneberg ab, Dagmar das Abitur an derselben Einrichtung zwei Jahre später. Sie blieben ihr Leben lang Freundinnen.

Elisabeths Vater arbeitete nach dem 2. Weltkrieg nicht in Sonneberg und logierte deshalb zusätzlich zur Untermiete in Potsdam-Babelsberg, Mendelssohn-Bartholdy-Str. 47. In demselben Haus wohnte ein – wie ihn Elisabeth Jahrzehnte danach beschrieb – armer, alter, kranker Soldat. Der Name: Alexander von Holwede. Das Kind Elisabeth lernte ihn zwischen 1950 bis 1953 anlässlich von Besuchen bei ihrem Vater in Babelsberg kennen.

Alexander von Holwede verfügte – wohl auch der Situation nach dem 2. Weltkrieg geschuldet – weder über Geld noch über Versicherungen, aber über einige Raritäten. Unter ihnen befand sich ein Konvolut aus – anfänglich – etwa 300 handgezeichneten, zu einem Buch gebundenen Blumenbildern. Ihre Schönheit fiel bereits dem Schulkind Elisabeth auf. Aus Geldnot schnitt Alexander von Holwede über 200 Seiten aus dem Buch als Glückwunschkarten und zum Begleichen von Rechnungen heraus. Die Empfänger müssen die Zeichnungen als „Zahlungsmittel“ akzeptiert haben. Es blieben rund 90 bemerkenswerte Zeichnungen übrig. Vor seinem Tod vermachte Alexander von Holwede Elisabeths Vater diese gebundenen restlichen Zeichnungen, der sie an seine Tochter vererbte. Sie empfand sie von Anfang an als etwas Besonderes und bewahrte sie fürsorglich auf. Der Einband des Buches zeigt keinerlei bibliografische Daten, die ersten Seiten mit eventuellen Angaben über den Ursprung fehlen, so dass eine Zuordnung auf dieser Basis nicht möglich ist.

Über ihren „Schatz“ hatte Elisabeth – nunmehr verheiratete Steiner, wohnhaft in Gransee – Niemanden informiert. Erst nach vielen Jahren versuchte sie, das Geheimnis um die Blumenzeichnungen zu lüften. Die Ergebnisse waren spärlich. Eine schriftliche Aussage liegt von cand. M.A. Margot Schröder, ab Oktober 2010 tätig in Gransee, vom Februar 2011 vor.

„…alten Folianten, der vermutlich aus dem Umfeld der Familie Alexander von Holwede, bzw. Humboldt stammt…“ und beschrieb das Aussehen des Buches. Sie entdeckte eine Punze mit den Lettern „SCHO…“[1] und verwies auf „…einen sehr fein gemalten, geschlossenen Blumenkranz als Einleitung. … Die einzelnen Abbildungen sind von außerordentlicher Qualität. Bis in die allerfeinste Maserung hinein wird eine Blütenpflanze mit Wasserfarben naturgetreu beschrieben und ist dadurch Teil eines ehemals wertvollen Lehrbuches.“

Blumenkranz auf der ersten Seite des Roten Florilegiums. Foto: DNB

Das Papier sei handgeschöpft mit Wasserzeichen. Die höchste angegebene Seitenzahl ist 301. Warum Margot Schröder den Namen Humboldt ins Spiel brachte, ist nicht bekannt. Wichtig ist der abschließende Satz im Gutachten: „Das Alter des Buches schätze ich auf vor 1800.“

In das Gutachten von Margot Schröder ist eine im Oktober 2010 von Andrea Lothe, schon damals beschäftigt bei der Deutschen Nationalbibliothek in Leipzig, getätigte Aussage eingeflossen. Sie identifizierte drei verschiedene Wasserzeichen, das eine in der Regel ein Fürstenmonogramm, das andere vom Motiv her ein französisches Wasserzeichen, das dritte nicht zu deuten. Eine Zuordnung war trotz Nutzung verschiedener Datenbanken nicht möglich.

Elisabeth Steiner konnte die Nachforschungen zu den Blumenzeichnungen nicht fortführen. Auch in der Verwandtschaft fanden sich keine Interessenten. Es ergab sich aber eine andere Möglichkeit:

Elisabeths Freundin Dagmar beschäftigte sich nach ihrer Emeritierung (sie war bis 2007 Professor für Glas- und Keramiktechnologie an der TU Ilmenau) mit Alexander von Humboldts Wirken auf ihrem Fachgebiet. Im Jahr 2012 erschien ihr erstes diesbezügliches Buch zu Humboldts Gutachten über die Steingutfertigung in Rheinsberg im Jahr 1792[2].

Die Freundinnen trafen sich in Gransee und Rheinsberg. Man sprach auch über Alexander von Humboldts Mutter Marie-Elisabeth von Humboldt, verw. von Holwede, geb. Colomb. Elisabeth Steiner gab ihren „Schatz“ auch zu diesen Gelegenheiten noch nicht preis. Ihr wurde aber bewusst, dass das Blumenbuch für Dagmar Hülsenberg interessant sein und diese sich um die Lüftung des Geheimnisses kümmern könnte. 

Dagmar Hülsenberg erhielt das Buch Anfang August 2020 als Geschenk. Als Nichtexpertin auf dem Gebiet „historische Blumenbücher“ fiel es auch ihr zunächst schwer, Fachleute für die Zuordnung des Schatzes bezüglich Zweckbestimmung/Titel, Entstehungszeitraum, Verfasser, ggf. Buchbinderei zu finden. Durch Vermittlung von Professor Ulrich Stottmeister kam der Kontakt mit der Deutschen Nationalbibliothek in Leipzig – und hier speziell mit Julia Rinck, Kuratorin der Grafischen Sammlung und der Buntpapiersammlung, und Bettina Rüdiger, Sammlungsleiterin für Buch bis 1900 – zustande. Das erste Treffen fand am 1. Oktober 2021 in Leipzig statt. Von Seiten der Deutschen Nationalbibliothek nahmen Bettina Rüdiger, die Restauratorin Barbara Schinko und kurzzeitig die bereits genannte Expertin für Wasserzeichen Andrea Lothe teil.

Barbara Schinko stellte schon während der ersten Beratung fest, dass das äußere Bild des interessierenden Objektes nicht durch einen Einband, sondern einen gut gefertigten Schutzumschlag geprägt wurde. Für weitere Untersuchungen stimmte Dagmar Hülsenberg der Entfernung bzw. partiellen Ablösung desselben zu. Im Ergebnis der Beratung überließ sie das Blumenbuch leihweise zu weiteren Untersuchungen den Fachkundigen in Leipzig.

In Ergänzung zu dem Blumenbuch erhielt Dagmar Hülsenberg von ihrer Freundin am 28.11.2021 aus dem Nachlass von deren Vater noch ein Patent vom 27. Januar 1913 für den Hauptmann der Infanterie von Holwede sowie das Original eines Patentes vom 30. November 1782 für den Stabs-Capitaine von Sanitz. Ganz unerwartet ergänzte Elisabeth Steiner die Unterlagen am 24. Mai 2023 mit – ebenfalls aus dem Nachlass ihres Vaters – zwei leeren Briefumschlägen eines A. von Leth, aus Lidingö/Stockholm, adressiert im Jahr 1953 an Herrn Oberst a.D. Alexander von Holwede, Mendelssohn-Bartholdy-Str. 47, Potsdam-Babelsberg und im Jahr 1955 an Herrn Oberst Alexander von Holwede unter derselben Adresse.

Dokumente zur Provenienzgeschichte des Roten Florilegiums: Offizierspatente und Briefumschläge. Foto: DNB.

2. Ergebnisse der Untersuchungen des Blumenbuchs in der Deutschen Nationalbibliothek Leipzig

2.1. Einband

Bei dem Einband des Blumenbuches handelte es sich – so stellte Barbara Schinko fest – auf den ersten Blick um einen Halblederband, auf 6 Bünde geheftet, mit einem zweifarbigen Kapitalband und mit einem Marmorpapier bezogen. An den Einbandinnenseiten wurde erkennbar, dass der Halblederband einen ursprünglichen Einband überformte. Die Einschläge des Halblederbandes überdeckten das marmorierte Vorsatzpapier lediglich um die Breite des Einbandeinschlages. Bei näherer Betrachtung wurde deutlich, dass der Halblederband keine weiteren Verklebungen mit dem Ursprungseinband aufwies. Auf dem Rücken fanden sich Reste einer Titelprägung „SCHÖNE BLUMEN“.

Vorsatz- und Einbandpapiere am Roten Florilegium: Vorsatzpapier Doppelkamm-Marmor, Einbandpapier Marmoriertes Papier, gezogener Marmor. Foto: DNB.

In Absprache mit Dagmar Hülsenberg wurde der Entschluss gefasst, den Halblederband mit der Verbindung zum Vorderdeckel an einer Seite abzulösen. Durch partielles Befeuchten der Einbandeinschläge konnte die Verbindung einseitig gelöst werden. Dabei beließ Barbara Schinko jedoch noch die ursprüngliche Verbindung zum Buch.

Die Anfangsvermutung von Barbara Schinko, es könnte sich ein roter Maroquineinband unter dem „Schutzeinband“ befinden, erwies sich als Irrtum. Es kam ein roter Samteinband zum Vorschein, der sich in einem außerordentlich guten Zustand befand. Leider konnten auch darauf keine Herkunftshinweise gefunden werden. Die Verwendung von Samt für einen Einband ist ein Hinweis auf sehr wohlhabende Eigentümer: Samt war im 17./18. Jahrhundert ein sehr kostbares Material, so Barbara Schinko, Restauratorin. Bei näherer Betrachtung kam die Vermutung auf, dass durch diese spezielle Art der Schutzform möglicherweise ein vorhergehender Schutzeinband ersetzt worden ist, da sich auf den ebenfalls marmorierten Vorsätzen Spuren früherer angelöster Verklebungen befinden.

Ausgelöster Samteinband des Roten Florilegiums. Foto: DNB

2.2. Anmutung der Zeichnungen

Bettina Rüdiger stellte fest, dass die Pflanzenzeichnungen als Aquarelle über Vorzeichnungen mit schwarzer Kreide ausgeführt sind. Mit Bleistift wurde um die Zeichnungen jeweils ein Rahmen gezogen. Ob die Rahmung aus der Ursprungszeit stammt oder mit der Nachnutzung der Zeichnungen als Grußkarten (s. Abschnitt 1.), entstand, ist noch offen.

Gezeichnet sind nur oberirdische Pflanzenteile, keine Details der Wurzeln oder Zwiebeln, was charakteristisch für eine Art Garteninventare des 17./18. Jahrhunderts ist.

Zahlreiche Tafeln fehlen: Sie wurden im 20. Jahrhundert entnommen und anderweitig verwendet (s. nochmals Abschnitt 1).

2.3. Schriften: Bildunterschriften, Verzeichnis, lateinische Begriffe, Nomenklatur

Bettina Rüdiger beobachtete weiterhin, dass die Beschriftung der Pflanzen in einer barock anmutenden Schreibweise erfolgte. Die Pflanzennamen entsprechen nicht Linnés Systematik (binäre Nomenklatur), die ab 1753 gilt. Daher könnten die Zeichnungen des Bandes zunächst auf „vor 1753“ datiert werden. Die Seitennummerierung mit Tinte entstand vermutlich zur Entstehungszeit der Zeichnungen.

Das Register weist einen anderen Schriftduktus auf: lateinische Begriffe in Antiqua, andere in gebrochener Schrift.

Foto: DNB.

2.4. Papier und Wasserzeichen

Alle Papiere, sowohl des Buchblockes als auch der Vorsatzpapiere, sind handgeschöpfte Büttenpapiere. Die Trägerpapiere der Marmorpapier-Vorsätze konnten noch nicht untersucht werden.

Durch Andrea Lothe wurden drei unterschiedliche Wasserzeichen auf den Blättern im Buchblock bzw. im Vorsatzpapier identifiziert:

Wasserzeichen im Buchblock:

Traube, darüber Krone, dazwischen Feld mit Mäanderformen – vermutlich französisch, große Ähnlichkeit mit dem Wasserzeichen im Buchblock des Grünen Florilegiums von Hans Simon Holtzbecker. Dazu ein kleines Wasserzeichen (Gegenzeichen) in Form einer 3 oder eines Z auf der anderen Blatthälfte.

Wasserzeichen im Vorsatzpapier:

Zwei verschlungene C unter Krone – starke Motivähnlichkeit mit dem Wasserzeichen im Vorsatz des Grünen Florilegiums von Holtzbecker (Briquet Nr. 9328); wird in der Literatur (The green florilegium) als „ähnlich“ bezeichnet.

Wasserzeichen im Vorsatzpapier. Foto: DNB.

Bislang konnte jedoch kein identisches (datiertes) Wasserzeichen ermittelt werden.

Wegen der in Abschnitt 2.1. und 2.4. geschilderten Erkenntnisse wird als Arbeitstitel für weitere Untersuchungen am bisher unbekannten Blumenbuch der Begriff „Rotes Florilegium“ verwendet.

3. Zusammenhänge und Überlegungen zur Provenienz des Roten Florilegiums

3.1. Fragestellungen

Bereits das Äußere des Buches sowie die Gestaltung der Zeichnungen machen auch den eiligen Betrachter neugierig. Ein zusätzliches Achtungssignal entsteht aber durch den Namen des nachgewiesenen Vorbesitzers: Alexander von Holwede, nach Aussage des Kindes Elisabeth ein ehemaliger Soldat, wohnhaft 1952 in Potsdam-Babelsberg, Mendelssohn-Bartholdy-Str. 47. Legt man die Adressen auf den beiden Briefumschlägen zugrunde, handelt es sich um einen Oberst a.D. aus dem 2. Weltkrieg, was auch die soziale Situation im Jahr 1952 erklärt. Elisabeth Steiner und Margot Schröder assoziierten „Holwede“ (häufig auch als Hollwede geschrieben) außerdem mit „Humboldt“.

Briefumschlag an Alexander von Holwede. Foto: DNB.

Hier existiert tatsächlich ein allgemein bekannter Zusammenhang. Marie-Elisabeth von Humboldt geb. Colomb (1741–1796) war in erster Ehe mit Friedrich Ernst von Holwede (1723–1765) und in zweiter Ehe mit Alexander Georg von Humboldt (1720–1779) verheiratet. Der ersten Ehe entstammte der Sohn Heinrich Friedrich Ludwig Ferdinand von Holwede (1762–1817)[3], im Folgenden kurz Ferdinand von Holwede genannt. Aus der zweiten Ehe gingen die weltweit bekannten Brüder Wilhelm (1767–1832) und Alexander (1769–1859) von Humboldt hervor.

Es ergeben sich die Fragen,

  • wer das Rote Florilegium wann und ggf. in wessen Auftrag gezeichnet hat sowie wann und durch wen es gebunden wurde,
  • nach der Identität des wahrscheinlich im Jahr 1953 verstorbenen Alexander von Holwedes,
  • nach der Genealogie von Ferdinand bis zu Alexander von Holwede sowie
  • ob sich das Rote Florilegium vor der Eheschließung von Marie-Elisabeth Colomb mit Friedrich Ernst von Holwede im Besitz von Marie-Elisabeth oder von Friedrich Ernst befand.

Unabhängig von der Antwort auf letztere Frage könnten es die Kinder – die Stiefgeschwister Ferdinand von Holwede sowie Wilhelm und Alexander von Humboldt – bei frühen Studien im Elternhaus benutzt haben.  

Tasten wir zuerst die beiden Möglichkeiten ab, dass die Vorfahren von Marie-Elisabeth Colomb oder von Friedrich Ernst von Holwede im Besitz des Roten Florilegiums waren.

3.2. Vorfahren von Marie-Elisabeth von Humboldt, geb. Colomb

Da die vorangestellte Faktenrecherche vermuten lässt, dass das Rote Florilegium um 1690 entstanden sein könnte, wird die Genealogie beim Großvater von Marie-Elisabeth von Humboldt begonnen. Die Angaben sind einem Aufsatz von Udo von der Burg entnommen.[4]

Marie-Elisabeth entstammte einer Hugenottenfamilie, ursprünglich im Langedoc in Südfrankreich ansässig. Henri Colomb (1647–1719), ihr Großvater, wanderte aus Glaubensinteressen noch vor Aufhebung des Ediktes von Nantes aus.

Er ließ sich … in Kopenhagen als Kaufmann nieder und betrieb dort eine Posamentier-Werkstatt, … 1694 heiratete er die Tochter Madelène (ca. 16741751) des in Kopenhagen bereits ansässigen Gold- und Silberschmiedes Jean Henri de Moor (1644-1722), der zugleich eine Spiegelmanufaktur führte …“

Es handelte sich also um eine finanziell gut aufgestellte Familie, selbst als Künstler tätig und/oder mit ausgeprägtem Interesse für künstlerisches Schaffen. Es ist denkbar, dass Henri Colomb um 1700 entweder ein bereits vorhandenes Rotes Florilegium geerbt hat oder kaufte oder ein solches für die gehobene Bildung seiner vier Kinder in Auftrag gab. Ein Grünes Florilegium (s. Abschnitt 2.4.) existierte bereits in Kopenhagen und könnte als Vorbild für einen solchen Auftrag gedient haben.

Aus der Ehe des Henri Colomb mit Madelène de Moor ging – eines der vier Kinder – Sohn Johann Heinrich (1695–1759) hervor, also der Vater von Marie-Elisabeth bzw. der Großvater von Ferdinand, Wilhelm und Alexander.

Jean Henri de Moor verkaufte seine Spiegelmanufaktur in Kopenhagen und erwarb eine solche in Neustadt an der Dosse, die ab 1733 Johann Heinrich Colomb leitete. Die Familie siedelte ebenfalls nach Neustadt an der Dosse, später nach Berlin, um. Marie-Elisabeth erbte von ihrem Vater 300 Bücher – eine für damalige Verhältnisse erwähnenswerte, beachtliche Anzahl. Das Rote Florilegium könnte sich darunter befunden haben und somit über Henri Colomb und Johann Heinrich Colomb zu Marie-Elisabeth Colomb, verw. von Holwede, verh. von Humboldt und von ihr zu Ferdinand von Holwede gelangt sein.

Für diese Provenienz sprechen die französische Abstammung der Familie bei gleichzeitiger Verwendung wahrscheinlich in Frankreich geschöpften Papiers und vielleicht auch dort hergestellten Samtes für den Einband des Roten Florilegiums, die künstlerischen Ambitionen der Familie Colomb, die große Motivähnlichkeit der Zeichnungen zu Pflanzenaquarellen von Sebastian Schedel (einem der Zeichner von Vorlagen für den Hortus Eystettensis) sowie die Verwendung einer Nomenklatur aus einer Zeit deutlich vor Linné sowie die gute finanzielle Situation der Familie. Es kommt hinzu, dass sich an Henri Colombs Wohnort Kopenhagen bereits ein Grünes Florilegium, angefertigt von Hans Simon Holtzbecker, als erstrebenswerter Besitz befand (s. Literatur).

Diese ausschließlich auf Indizien beruhende und damit nicht gesicherte Provenienz beantwortet aber nicht die Frage, warum gerade Ferdinand von Holwede und nicht der sich intensiv mit Botanik beschäftigende, zeichnerisch hoch begabte Alexander von Humboldt das Rote Florilegium erbte.

3.3. Überlegung, ob der Vater des Ferdinand von Holwede das Rote Florilegium in die Familie eingebracht haben könnte

Marie-Elisabeths erster Mann war Friedrich Ernst Freiherr von Holwede (1723–1765); ein Königl. Preußischer Hauptmann sowie Erb- und Gerichtsherr auf Tegel, Ringenwalde und Krummecavel. Dessen Vater, Heinrich Christian Freiherr von Holwede (1684–1739) war Oberküchenmeister und Hofmarschall bei König Friedrich II.[5]

Vom gesellschaftlichen Rang her standen die Freiherren von Holwede natürlich weit über dem nicht einmal adligen Hause der Colombs. Aber aus den wenigen verfügbaren Angaben kann man nicht schließen, dass in dieser eher auf den Staatsdienst und das Militär orientierten Familie ein Interesse am Besitz eines teuren, anspruchsvollen Buches, geschweige denn an einem Florilegium bestand. Über eine Beziehung zur Kunst wurde nichts gefunden – auch eine Verbindung zu Frankreich gab es wahrscheinlich nicht. Man könnte eher eine geistige Situation vermuten, wie sie Alexander von Humboldt später für Berlin häufig gegeißelt hat.

Daraus folgt die deutlich größere Wahrscheinlichkeit, dass das Florilegium durch Marie-Elisabeth Colomb in die Ehe eingebracht wurde. Warum es an Ferdinand von Holwede und nicht an einen seiner Stiefbrüder vererbt wurde, bleibt offen. Vielleicht erfolgte die Entscheidung zur Vererbung noch vor der Wiederheirat von Marie-Elisabeth und damit der Geburt von Wilhelm und Alexander von Humboldt.

3.4. Weitere Aussagen zur Holwede-Genealogie

Die folgenden Aussagen nutzen Fakten aus Recherchen von Bettina Rüdiger. Marie-Elisabeth von Humboldt brachte ihren Erstgeborenen bei dem angesehenen Berliner Kürassierregiment Nr. 10 „Gens d’armes“ unter – die militärische Traditionslinie seines Vaters fortsetzend. Aus Ferdinand von Holwedes Ehe mit Maria Anette geb. Henrion verw. Pflugradt ging der Sohn Ernst Leo von Holwede (1802–1872) hervor.[6]

Dieser war ein in der Militärtechnik hoch begabter Offizier, der beispielsweise zwischen 1844–47 zur Prüfungskommission für Kavallerie-Schießwaffen kommandiert wurde und es letztlich bis zum General brachte. Seine nicht immer höflichen Umgangsformen kommentierte auch der Brigadekommandeur Generalmajor von Moellendorff:

„[Es] ist ein Mangel an empfehlenden Formen allerdings zu bemerken, jedoch auch wieder besonders hervorzugeben, daß derselbe überaus gründliche technische Kenntnisse von Schußwaffen sich aneignete …[7]

An derselben Stelle findet sich auch die Aussage, dass Ernst Leo von Holwede 1833 Elise Albertine Eleonore Henriette von Sanitz (geb. 1810, Tochter des Oberst Wilhelm von Sanitz) geheiratet hat. Das Erscheinen des Namens „von Sanitz“ wird bei der Verifizierung der Person des Alexander von Holwedes besonders wichtig (siehe Abschnitt 3.5).

Das Ehepaar hatte, wie in Anm. 7 weiterhin angegeben, vier Kinder, darunter drei Jungen: Friedrich Heinrich Hans Ehrenreich (geb. 1841), Alexander Wilhelm Ferdinand Otto Adolf (geb. 1843) und Ernst Emil Adolf Theodor (geb. 1845). Es würde naheliegen, dass einer der drei Brüder der Vater von Paul Carl Wilhelm Alexander Johannes von Holwede (geb. 1878), dem „armen, alten, kranken Soldaten“ bzw. „Oberst a.D.“, der das Rote Florilegium besaß, ist. Das trifft aber nicht zu. In den Archiven findet man (s. den folgenden Abschnitt) als Vater von Paul Carl Wilhelm Alexander Johannes von Holwede die fast namensgleiche Person Paul Carl Wilhelm Alexander (ohne Johannes) von Holwede angegeben. Eine direkte Abstammung des hier interessierenden Alexander von Holwedes von Marie-Elisabeth von Humboldt, geb. Colomb, verw. von Holwede auf gerader Linie konnte nicht belegt werden.

3.5. Verifizierung der Person des Alexander von Holwedes

Um eine mögliche Provenienz des Roten Florilegiums aufzuzeigen, ist es notwendig, die Person mit dem Namen Alexander von Holwede, die das Rote Florilegium verschenkte, zu verifizieren. Ist der eingangs genannte Alexander von Holwede identisch mit Paul Carl Wilhelm Alexander Johannes von Holwede?

Bettina Rüdiger hat herausgefunden, dass dieser Paul Carl Wilhelm Alexander Johannes von Holwede (geb. am 10. Mai 1878) in Köln als Sohn von Paul Carl Wilhelm Alexander von Holwede (Hauptmann und … im Schützen-Reg. 65) und seiner Frau Bertha geb. von Bausenbach geboren wurde.[8] Er lebte 1931 in Bad Homburg und war Offizier.[9] Für den 13. März 1897 ist sein Eintritt ins Kurhessische Regiment von Gersdorff Nr. 80 mit Standorten in Wiesbaden und Bad Homburg belegt.[10]

Und um seine Tätigkeit im genannten Regiment geht es in dem einen Militär-Patent, das Elisabeth Steiner an Dagmar Hülsenberg übergeben und ihr Vater ebenfalls aus den Händen von Alexander von Holwede vor dessen Tod etwa 1953 empfangen hat.

Das Patent hat König Wilhelm von Preußen mit eigenhändiger Unterschrift am 27. Januar 1913 „für den Hauptmann der Infanterie von Holwede“ ausgestellt. Dort steht u.a.:

Nachdem WIR resolvieret haben, dem Hauptmann im Füsilier-Regiment von Gersdorff (Kurhessischen) Nr. 80 Alexander von Holwede wegen seiner guten Eigenschaften und erlangten Kriegs-Kenntnisse ein Patent seines Dienstgrades in Gnaden zu verleihen, …“

Patent für Alexander von Holwede von 1913. Foto: DNB.

Wenn eine Person mit dem Namen Alexander von Holwede im Besitz eines originalen Schriftstückes mit demselben Namen ist, dann sollte es sich auch um den rechtmäßigen Eigentümer handeln, der Anfang 1913 ein Alter von 34 Jahren hatte. Der ehemalige Besitzer des Roten Florilegiums, Alexander von Holwede, ist also mit Paul Carl Wilhelm Alexander Johannes von Holwede identisch.

Zu Alexander von Holwede ist außerdem seine Aktivität im 1. Weltkrieg (vermisst 1917, in Gefangenschaft 1918) belegt.[11] Für die Zeit nach 1931 kann ein Alexander von Holwede erst wieder im Adressbuch von Babelsberg 1939/40 in der Straße Am Gehölz 11 nachgewiesen werden. Das ist die Zeit des Beginns des 2. Weltkriegs. Es liegt nahe, dass er in all den vielen Jahren in der militärischen Rangliste nach oben geklettert ist, was die Anrede „Oberst a.D.“ auf dem Briefumschlag, der Dagmar Hülsenberg erst aktuell übergeben wurde, erklärt. Dazu wurde noch nicht recherchiert. Alexander von Holwede würde damit der Tradition „im Hause Holwede“ folgen.

Obwohl es für das Rote Florilegium wahrscheinlich nicht von Interesse ist, sei hier darauf hingewiesen, dass in der Rang- und Quartierliste der Königlich Preußischen Armee und des XIII. Königlich Württembergischen Armeekorps 1905 in der Liste für das Kurhessische Regiment Nr. 80 (Gersdorff) sowohl Alexander von Holwede mit dem Datum 13. März 1897 als auch ein Hans von Holwede mit dem Datum 22. Juni 1902 erschienen. Letzterer ist auch für die Wohnanschrift Potsdam-Babelsberg, Am Gehölz 11, im Adressbuch eingetragen.

Außerdem wurde in der Lauenburgischen Zeitung vom 20. April 1939 eine Rede von Oberstleutnant Wolfgang von Holwede, Kommandeur des III. Bataillons/Infanterieregiment 90, zu Hitlers 50. Geburtstag, gehalten in der Vorstadtkaserne in Ratzeburg, veröffentlicht.

Es lebten also etwa zeitgleich mehrere hochrangige Militärs mit dem Namen von Holwede. Ggf. kann das Rote Florilegium also auch über einen nahen oder entfernten Cousin, der einen Sohn von Ernst Leo von Holwede zum Vater hatte, an Alexander von Holwede weitergegeben worden sein. Hier machen sich dann Recherchen zu Hans und auch zu Wolfgang von Holwede erforderlich.

Dass eine irgendwie geartete Verbindung von Alexander von Holwede zu Ernst Leo von Holwede und seiner Ehefrau, geb. von Sanitz, besteht, lässt sich aus dem zweiten originalen Patent, das aus dem Besitz von Alexander von Holwede stammt, ableiten. Die Ausstellung desselben erfolgte am 30. November 1782 durch seine Königliche Majestät von Preußen. Es sei hier nur zitiert:

„… von der beÿm Möllendorffschen Regiment Füsiliers, durch Verabschiedung des Majors von Sack sich erledigten Compagnie, anderweit disponiret, und selbige dem bisherigen Stabs-Capitaine von gedachtem Regiment Ehrenfried von Sanitz, in allergnädigster Consideration seiner guten Qualitäten und erlangten KriegesExperientz hie- wiederum conferiret und anvertrauet; …“

Warum sollte sich ein auf Stabs-Capitaine von Sanitz ausgeschriebenes „uraltes“ Patent in den Händen des Alexander von Holwedes befinden, wenn es nicht aus dem Familienbesitz stammt und man sehr stolz darauf ist.

Auch wenn noch viele Fragen nicht geklärt sind, hält es die Autorin aufgrund der angegebenen Indizien für wahrscheinlich, dass sich das Rote Florilegium in den Händen von Marie Elisabeth von Humboldt, geb. Colomb, verw. von Holwede sowie von Ferdinand von Holwede als auch von Ernst Leo von Holwede befand, bevor es über Umwege zu Alexander von Holwede gelangte.

Die endgültige Sicherung der Genealogie und die Beantwortung der Fragen, wer, wann, wo und mit welcher Bestimmung das Rote Florilegium angefertigt hat, bedarf weiterer Forschungen.

Literaturauswahl

The green florilegium = Das grüne Florilegium. With an essay by / mit einem Essay von Hanne Kolind Poulsen. Translation from Danish into German / Übersetzung vom Dänischen ins Deutsche: Hanne Hammer ; translation from Danish into English, Übersetzung vom Dänischen ins Englische: René Lauritsen. München : Prestel, 2019. https://d-nb.info/1170486592

Hortus Eystettensis. Die Pflanzenwelt des Hortus Eystettensis. Bearbeitet von Jost Albert, Alexander Laar, Gabriele Ehberger. München: Bayerische Schösserverwaltung, 2019. https://d-nb.info/1208929712

Der Gottorfer Codex. Blütenpracht und Weltanschauung. Katalog zur gleichnamigen Ausstellung auf Schloss Gottorf vom 25. Mai bis 26. Oktober 2014. Hrsg. von Kirsten Baumann. Mit Beiträgen von Karen Asmussen-Stratmann. München : Hirmer, 2014. https://d-nb.info/1050262387


[1] „SCHÖNE BLUMEN“, s. Abschnitt 2.1

[2] Alexander von Humboldt – Gutachten zur Steingutfertigung in Rheinsberg 1792. Mit Kommentaren hrsg. von Dagmar Hülsenberg und Ingo Schwarz unter Mitarbeit von Eberhard Knobloch und Romy Werther; Beiträge zur Alexander-von-Humboldt-Forschung, Bd. 35, Akademie Verlag Berlin, 2012.

[3] Quelle: Ancestry.com. Deutschland, ausgewählte evangelische Kirchenbücher 15001971 [database on-line]. Lehi, UT, USA: Ancestry.com Poeration, inc., 2016.

[4] Udo von der Burg: Marie Elisabeth von Humboldts Vorfahren – eine genealogische Skizze, Abhandlungen der Humboldt-Gesellschaft für Wissenschaft, Kunst und Bildung e.V., Band 30, TZ-Verlag Roßdorf (2013) S. 85–97.

[5] http://www.von-humboldt.de/friedrich-ernst-von-holwede.html

[6] S. Fußnote 3.

[7] Entnommen aus: Kurt von Priesdorff: Soldatisches Führertum. Hamburg, Bd. 7, Teil 10, 1939, S. 97–98.

[8] Quelle: Ancestry.com. Rheinland, Deutschland, evangelische Kirchenbücher, 1533–1950 [database on-line]. Provo, UT, USA: Ancestry.com Operations, Inc., 2016.

[9] Quelle: Adressbuch Bad Homburg, Ancestry.com. Adressbücher aus Deutschland und Umgebung, 1815-1974 [database on-line]. Lehi, UT, USA: Ancestry.com Operations, Inc., 2016.

[10] Quelle: Ancestry.com., Deutschland und Österreich, Verzeichnisse von Militär- und Marineoffizieren. 1600-1918 [database on-line] Provo, UT, USA: Ancestry.com Operations, Inc., 2015.

[11] Quelle: Ancestry.com., Deutschland, Verlustlisten im 1. Weltkrieg, 1914-1919 [database on-line]. Lehi, UT, USA: Ancestry.com Operations, Inc., 2011.


*Nachweis Beitragsbild auf der Startseite:Foto: DNB

Schreibe einen Kommentar

Kommentare werden erst veröffentlicht, nachdem sie von uns geprüft wurden.
Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.

Über uns

Die Deutsche Nationalbibliothek ist die zentrale Archivbibliothek Deutschlands.

Wir sammeln, dokumentieren und archivieren alle Medienwerke, die seit 1913 in und über Deutschland oder in deutscher Sprache veröffentlicht werden.

Ob Bücher, Zeitschriften, CDs, Schallplatten, Karten oder Online-Publikationen – wir sammeln ohne Wertung, im Original und lückenlos.

Mehr auf dnb.de

Schlagwörter

Blog-Newsletter

In regelmäßigen Abständen erhalten Sie von uns ausgewählte Beiträge per E-Mail.

Mit dem Bestellen unseres Blog-Newsletters erkennen Sie unsere Datenschutzerklärung an.

  • ISSN 2751-3238