Frieren Büsten? – Eine Überlegung
In Museen wird es nie langweilig, vor allem, wenn man viel Fantasie hat. Im September 2023 habe ich meinen Bundesfreiwilligendienst (BFD) im Deutschen Buch- und Schriftmuseum begonnen. Wenn man an ein ganzes Jahr denkt, könnte man meinen, die Zeit würde langsam vergehen. Aber nun ist mein BFD zu Ende und wie ein Jahr kam mir das nicht vor. Als Bundesfreiwillige übernahm ich vielfältige Aufgaben: Öffentlichkeitsarbeit auf Instagram und dem Blog, Vermittlungsarbeit mit Menschen jeden Alters, Statistikaufnahme, Kontrollen der Ausstellungen und vieles mehr.
Trotz der Menge an Aufgaben, die mich beschäftigt hielten, fand ich Gefallen an vielen Dingen, die damit gar nichts zu tun haben. Ein Beispiel dafür findet sich in einem Gang der Deutschen Nationalbibliothek: eine Reihe Büsten berühmter und bedeutsamer Autor*innen. Ich laufe jetzt seit einem Jahr an ihnen vorbei. Ich weiß das klingt albern, aber die sind mir ein bisschen ans Herz gewachsen. Zum Abschluss meines BFD habe ich mich daran gesetzt, mein Jahr zu reflektieren. Die Wertschätzung für die Steinköpfe, die mich jeden Tag begleiteten, habe ich in einem Text ausgedrückt.
Immer Winter
Für Joseph ist es Winter. Im Januar ist es Winter, im April ist es Winter und im August ist es auch Winter. Es ist immer Winter: Kalt, gefroren und einsam. Joseph meint er habe keine Glieder; oder zumindest kann er keine fühlen. Entweder sind sie gefroren wie die eingehüllten Menschen, wie sie im Weißen vorbeilaufen, Augen auf kleinen Blechkästchen, oder sie sind nun einfach nicht da. Diesen Gedanken mag Joseph nicht. Er muss doch irgendwo alles das haben, was seine Mitmenschen haben. Er hat Augen, eine Nase und einen Mund. Auch sehen kann er, aber die Augen bewegen sich nicht. Eingefroren. Ein Mensch läuft an Joseph vorbei und er will rufen: „Warte auf mich! Ich will mitkommen!“. Doch nichts kommt heraus. Er kann seinen Mund nicht öffnen. Eingefroren.
Erst neulich dann stand ein Mädchen vor ihm, Mütze auf dem Kopf, Hände in Handschuhen verborgen. Joseph fühlte seine Hände nicht, aber wenn doch dann hätte er sie nach ihr ausgestreckt. „Zieh mich heraus!“ hätte er gesagt. „Hol mir eine Wärmflasche oder eine Mütze! Hast du noch eine Mütze? Ich kann meinen Kopf vor Frost kaum fühlen. Meine Haare sind schon gefroren.“ Doch nichts kam aus seinem Mund. Das Mädchen kniff die Augen zusammen und lachte ihn an.
Aus ihrer Jackentasche zückte sie einen Blechkasten. Fast dachte Joseph sie wolle ihn bewerfen, aber die Rückseite des Kastens sah eher aus wie ein neumodischer Fotoapparat. Sie richtete die Linse auf Joseph. Hätte er sein Gesicht bewegen können, dann hätte er ihr eine Grimasse gezogen. Was denkt sie wer sie ist? Man fotografiert niemanden, der am Erfrieren ist! Und dann drehte sie sich zur Seite weg, ging los und Joseph schrie innerlich: „Komm zurück! Bitte! Mach noch einhundert Bilder! Bitte nur, geh nicht wieder!“ Und im Gegensatz zu den Anderen kam sie tatsächlich wieder vor seine Augen gewandert und blickte unter seinen Kopf. „Ist meine Kleidung schmutzig?“ Wollte er fragen. „Kein Wunder, so gefroren wie ich bin.“ Doch das schien es nicht zu sein.
„Wir sehen uns.“ sagte das Mädchen. „Bald.“ Dann verschwand sie. Bald. Joseph drehte das Wort in seinem Mund umher bis es alle Bedeutung verlor. Wann ist bald? Der letzte Schnee fühlte sich so lang her an wie der letzte Regen. Und für Joseph war es doch eh alles dasselbe. Menschen laufen vorbei, ob sie schauen oder nicht, und er friert. Er kann seine Beine nicht spüren, er kann nichts sagen, kaum klar denken in all der Kälte. Winter. Damals meinte das Wort etwas; eine Jahreszeit. Aber wenn das ganze Jahr nur eine Zeit hat, dann wird das Wort redundant. Was ist Winter? Gestern, heute und sicherlich auch morgen: das ist Winter. Für Joseph ist es immer Winter.
Später; eine genaue Zeit zu sagen ist schwierig; als Joseph halb eingenickt war, sah er sie wieder. Diesmal hatte sie einen Block in der Hand und einen Stift. „Warst ein guter Schriftsteller.“ sagte sie. Joseph wollte etwas sagen aber die Worte verließen seinen Mund nicht. Sie sah ihn lange an ohne zu blinzeln. Fast war es so als wäre sie auch festgefroren. Dann griff sie in ihre Tasche und fischte eine schwarze Wollmütze heraus. Sie weitete den Bund mit den Fingern und stülpte die Mütze über Josephs Kopf. Dann lachte sie und schoss ein Foto von ihm. Diesmal lächelte er wirklich, auch wenn sie es nicht sehen konnte. „Die will ich aber morgen zurück.“ sagte sie. „Ist schließlich Winter.“ Dann war sie weg. Winter? Nein, dachte sich Joseph. Wie Winter fühlt sich das nicht an.
Also, wenn ihr das nächste Mal an einer Büste vorbeilauft, grüßt sie doch kurz. Ich bin mir sicher, dass irgendwo jemand zurück grüßt.
Alina Laske
Alina Laske ist Bundesfreiwillige im Deutschen Buch- und Schriftmuseum im Jahrgang 2023/24.