Gesellschaftliche Relevanz von Nationalbibliotheken
„The Relevance of National Libraries for Society“ war das Motto der 36. Jahresversammlung der Direktor*innen der europäischen Nationalbibliotheken vom 19. bis 21. Juni 2022 in Ankara. Einmal im Jahr treffen sich die Mitglieder der Conference of European National Librarians (CENL) zu ihrem Annual General Meeting (AGM), üblicherweise zur Jahresmitte. Ausnahmen bestätigen die Regel – im Vorjahr hatte die Tagung pandemiebedingt im November stattgefunden.
Der Sonntag stand traditionsgemäß im Zeichen der Kultur des Gastgeberlandes Türkei. Ein gemeinsamer Besuch im „Museum für anatolische Zivilisationen“ bildete den Auftakt. Der Name des Museums klingt bescheiden angesichts der Vielzahl von Ausgrabungen und Exponaten aus dem 6. Jahrtausend vor Christi. Ohne zu übertreiben, könnte man auch von einem Stück Menschheitsgeschichte sprechen.
Besuche des Rahmi-Koc-Technikmuseums und des Grabhügels von König Midas, jenes legendären Herrschers, der durch bloßes Berühren alles in Gold verwandelte, rundeten das Programm ab – für alle historisch Interessierten war es ein erstes Highlight der Tagung.
Der Abend dieses erlebnisreichen Tages mit vielfältigen Gelegenheiten zur Vernetzung und zum persönlichen Austausch markierte den Beginn des offiziellen Programms. Nach der Registrierung in der National Library of Türkiye begrüßte der Hausherr, Ali Odabaş, die Gäste sehr herzlich, und der CENL-Vorsitzende, Frank Scholze, dankte im Namen aller Mitglieder für die Gastfreundschaft und die Organisation der Jahrestagung.
Da die Gruppe wegen Bauarbeiten nicht in der Nationalbibliothek tagen konnte, fand die eigentliche Versammlung in der Presidential Library statt. Als Stiftung nach niederländischem Recht muss CENL bei seiner Jahresversammlung einige Formalien einhalten. Demgemäß bildeten nach der offiziellen Begrüßung durch den Vorsitzenden und den Gastgeber der Jahresbericht, der Kassenbericht und der Bericht der Geschäftsstelle sowie daraus folgende, formal notwendige Beschlussfassungen den Auftakt des AGM.
Barbara Lison, die Präsidentin der International Federation of Library Associations and Institutions (IFLA) hielt eine Keynote über die gesellschaftliche Relevanz von Nationalbibliotheken. Zum Konzept gehöre demnach eine herausragende und zentrale Stellung der Nationalbibliothek. Nationalbibliotheken seien führend, wenn es darum gehe, alle Arten von Bibliotheken miteinander zu vernetzen. Dieses generische Potenzial, Einfluss auf die Gesellschaft des betreffenden Landes zu haben, sei Privileg und Verantwortung zugleich. Sofern es in ihrer Macht stehe, sollten die Nationalbibliotheken daher unbedingt ihre herausgehobene Stellung und ihre Ressourcen für Verbesserungen nutzen. Die Führungsrolle ermögliche es ihnen, Innovationen anzustoßen und Risiken einzugehen, wo andere Bibliotheken dazu nicht in der Lage seien. So könnten sie die Bedeutung der Bibliotheken insgesamt voranbringen und damit einen wirklichen Einfluss auf die jeweilige Gesellschaft haben.
Foto: Susanne Oehlschläger
Natürlich warb sie dafür, dass sich auch die CENL-Mitglieder noch stärker in der IFLA engagieren sollten, um die Interessenvertretung aller Bibliotheken weltweit weiter zu stärken. Für einen Verband wie CENL oder die IFLA sei das Engagement seiner Mitglieder lebensnotwendig.
Lyubov Andriivna Dubrovina, die Generaldirektorin der Vernadsky National Library of Ukraine schilderte in einer Videobotschaft die veränderten Bedingungen und den neuen Arbeitsalltag in ihrem Land seit dem Angriff Russlands am 24. Februar 2022. Eine ihrer größten Sorgen galt dabei der Rettung der einzigartigen Bestände ihrer Bibliothek, einem wesentlichen Teil des ukrainischen Kulturerbes. Der eindringliche Bericht wurde durch den Fliegeralarm im Hintergrund schaurig untermalt und verstärkte den Wunsch der Anwesenden, helfen zu wollen.
Als Vereinigung ist es für CENL schwierig, Hilfe zu leisten. Gleichwohl unterstützen viele der CENL-Mitglieder mit ihren Institutionen die Kolleg*innen in der Ukraine. Der Vorsitzende ermutigte dementsprechend die CENL-Mitglieder, der Geschäftsstelle ihre Informationen und Hilfsangebote für die Ukraine mitzuteilen. Damit könne CENL zumindest für eine gewisse Öffentlichkeit sorgen.
In einer weiteren Video-Keynote sprach Marina Kaljurand, Mitglied des Europaparlaments aus Estland, über die Digitalagenda der Europäischen Union und die Verantwortlichkeiten der großen Tech-Firmen. Nach 30 Jahren digitalem Lebensstil habe Estland eine Vorreiterrolle im Hinblick auf e-Government, Online-Wahlen und eine Reihe von digitalen Online-Dienstleistungen. Während andere EU-Mitgliedsstaaten diesen Lebensstil langsam adaptierten, stellten sich auch Fragen nach digitaler Abhängigkeit und Cyber-Sicherheit, die nur auf internationaler Ebene gelöst werden könnten. Nicht zuletzt die Covid-19-Pandemie habe deutlich die große Abhängigkeit von Informations- und Kommunikationstechnologie gezeigt.
Es folgte eine Reihe von Darstellungen europäischer Nationalbibliotheken wie sie ihre Rolle in der Gesellschaft wahrnehmen. Direktor*innen der Nationalbibliotheken von Montenegro (Nacionalna biblioteka Crne Gore „Đurđe Crnojević“ – Cetinje’), Dänemarks (Det Kongelige Bibliotek), der Tschechischen Republik (Národní knihovna České republiky), Luxemburgs (Bibliothèque nationale du Luxembourg), des Vereinigten Königreichs (The British Library) und der Bundesrepublik Deutschland (Deutsche Nationalbibliothek) berichteten unterschiedlich granular über einzelne Aspekte ihrer Arbeit. Dabei ging es von einem generellen Überblick der Dienstleistungen über eine Theorie zur Wertschöpfung in Nationalbibliotheken hin zu kooperativen Methoden der Pflege und Erhaltung moderner Buchbestände. Und von der Webarchivierung über das Sammeln von Ephemera bis hin zur Provenienzforschung und zu Dienstleistungen für Firmen.
Berichte über ihre Arbeit seit dem letzten Treffen gaben die Books and Audiences Network Group sowie die Artificial Intelligence in Libraries und die Copyright Network Groups. Janne Andresoo stellte die Ergebnisse des Besuchs der National Library of Estonia in der Nationalbibliothek von Luxemburg im Rahmen des Erland Kolding Nielson Grants vor.
Foto: Susanne Oehlschläger
Foto: Susanne Oehlschläger
Marcie Hopkins präsentierte die IFLA Library Map of the World und warb für eine stärkere Beteiligung der CENL-Mitglieder. Es handelt sich dabei um eine interaktive Website, die anhand ausgewählter Bibliotheksleistungskennzahlen nationale Bibliotheksdaten aus allen Regionen der Welt liefert. Außerdem sind Berichte und Beispiele zu den UN-Nachhaltigkeitszielen (SDG) enthalten. Bisher haben 134 Bibliotheken mit ihren Zahlen beigetragen, 27 Länderprofile und 56 SDG-Geschichten sind verfügbar. Etwas mehr als ein Drittel der Bibliotheken stammen aus Europa, von hier gibt es 13 Länderprofile.
2021 haben die CENL-Mitglieder erste Überlegungen für ihre neue Strategie 2023 – 2027 angestellt. In Ankara wurde ein erster Entwurf vorgelegt und in Kleingruppen diskutiert, der die bisherige Strategie fortschreibt. Beim AGM 2023 soll der neue Strategieplan beschlossen werden.
Die Einladung zum nächsten AGM sowie eine Besichtigung der Lesesäle der Presidential Library bildeten den Abschluss der Veranstaltung.
Annual General Meeting 2023
Nach der Tagung ist vor der Tagung. Kaum zurückgekehrt, beginnen die Vorbereitungen für 2023 und neben die frischen Erinnerungen an viele interessante Vorträge, Begegnungen und Gespräche tritt die Vorfreude auf das nächste AGM. Vom 18. bis 20. Juni 2023 wird die CENL-Jahrestagung in der Bibliothèque nationale de France in Paris stattfinden.