B42 auf Grand Tour- die Gutenberg Bibel
Die Gutenbergbibel des Deutschen Buch- und Schriftmuseums ist weit gereist. Von Gutenbergs Werkstatt in Mainz führt ihre Route quer durch Europa über zwei Benediktinerklöster in Spanien, die Pariser Weltausstellung und das Londoner Auktionshaus Sotheby zurück nach Deutschland. Und schließlich nach Moskau, wo die beiden pergamentenen Prachtbände mit den unikalen Illustrationen seit Ende des Zweiten Weltkriegs bewahrt werden.

1886 erwirbt der sächsische Staat für 400.000 Goldmark die Büchersammlung des Verlegers Heinrich Klemm für das zwei Jahre zuvor gegründete Museum. Die Mittel kommen aus der Gewerbeförderung. Ein erheblicher Teil dieser Summe entfällt auf ein zweibändiges Pergamentexemplar der von Gutenberg gedruckten Bibel mit zahlreichen Miniaturen, deren Seiten aus jeweils 42 Zeilen bestehen und die deshalb von der Fachwelt kurz B 42 genannt wird. Klemm hat sie in seinem Sammlungskatalog1 kurz beschrieben, jedoch keine Hinweis auf ihre Herkunft gegeben. Für ihn beginnt die Geschichte seiner Gutenbergbibel mit dem Kauf bei seinem wichtigsten Lieferanten: dem Berliner Antiquar Albert Cohn.

Da die Bibel auch zu dieser Zeit schon einen beträchtlichen Wert hat, findet sich im Branchenblatt, dem Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel, eine Mitteilung über deren Verkauf.2 Die Miszelle hebt den beinahe kompletten Zustand (es fehlt nur ein Blatt) hervor und ergänzt: „Hrn. Cohn’s Exemplar ist von allen bekannten vielleicht das größte, (…), einzig in seiner Art aber ist es durch die künstlerische Ausschmückung, welche es zur Zeit seines Erscheinens empfing: außer vielen Hunderten prächtig gemalter und mit Gold aufgehöhter Initialen und Ornamente im reinsten Stil der Früh-Renaissance trägt es auf den Rändern am Fuße der Blätter über 100 sorgfältig gemalte figurenreiche Miniaturen.“
Ist hier also die Rede von dem Exemplar, das Heinrich Klemm schließlich für sein privates Bibliographisches Museum in Dresden erwirbt? Dass unter den heute bekannten Pergamentexemplaren der Gutenberg-Bibel das Klemmsche als einziges „figurenreiche“ Miniaturen am Fuß der Blätter aufweist, spricht für diese Theorie.
Über 100 Miniaturen finden sich vor dem Erwerb durch Klemm in der Bibel, heute sind es 282. Schon Johannes Schinnerer3 weist auf die seiner Ansicht nach später beigefügten Miniaturen hin und glaubt sogar mehrere Fälscherhände zu erkennen. Wer hat die B 42 ergänzt, weiter „verschönert“ und nachgebessert? Das bleibt jahrzehntelang ungeklärt, und noch 1997 versucht Tatjana Dolgodrova4, die Miniaturen als durchgängig originale Buchmalereien des 15. Jahrhunderts zu deuten. Die jüngste kodikologische Untersuchung der Bibel durch Elena Kazbekova (Moskau) bestätigt jedoch, dass ein großer Teil der Miniaturen im 19. Jahrhundert hinzugefügt wurde. Da es keinen Katalog von Albert Cohn gibt, in dem die Bibel beschrieben wird, und das überlieferte Exemplar sowohl einen anderen Einband als auch eine weitaus größere Zahl an Miniaturen hat, bleibt es eine – wenn auch gut belegte – Hypothese, dass es sich bei der B 42 aus dem Antiquariat Cohn um das Exemplar des Deutschen Buch- und Schriftmuseums handelt.

Nachdem in der Fachliteratur immer wieder über das Auftauchen der Bibel im Antiquariatshandel berichtet wurde, kann Eric Marshall White erst 2012 die Provenienzgeschichte der B 42 weitgehend aufklären und die verstreuten Hinweise dem Klemmschen Exemplar zuordnen. White kommt nach Auswertung der zugänglichen Quellen und Verzeichnisse zu dem Schluss5, dass die Klemmsche Gutenbergbibel ursprünglich dem Benediktinerkloster Santo Domingo im spanischen Silos gehörte. Die Bibel ist, so White, im handschriftlichen Katalog der Klosterbibliothek von Gregorio Hernandez vermerkt. Im Zuge der politischen und gesellschaftlichen Veränderungen im 19. Jahrhundert wird der Besitz des Klosters vom Staat konfisziert, während das Kloster verfällt. Die Reste des beweglichen Inventars werden nach Madrid in das Benediktinerkloster San Martín überführt und schließlich zum Verkauf angeboten. Mit dem Erlös soll das Kloster in Silos restauriert werden. Für 16.000 Pesetas gehen 55 Handschriften und 14 Frühdrucke, darunter die Gutenbergbibel, an den Händler und „Bibliophilen“ José Ignacio Miró. Miró verkauft die Bände weiter an die Pariser Buchhandlung Antoine Bachelin-Deflorenne. Émile Lecat, der Geschäftsführer, versteigert das Konvolut am 1. Juni 18786. Im Katalog ist die Bibel an erster Stelle beschrieben, jedoch ohne ihre Herkunft zu benennen. Der Verkauf in der Auktion scheitert.
Lecat offeriert sie nun dem Antiquar Bernard Quaritch für den Schätzpreis von 2.000 Pfund. Dieser lehnt ab. Marius Ferotin7 weist darauf hin, dass im Jahr 1878 eine Restaurierung durch den Pariser Restaurator und Fälscher Pilinski erfolgte. Auch Schinnerer8 vermutet, dass die Titelseite von Band 1 durch Pilinski eingefügt wurde. Im Sommer 1878 ist die Bibel, vermutlich bereits aufgefrischt, auf der Pariser Weltausstellung im Trocadero zu sehen. Im August des Jahres bietet Lecat die Bibel wiederum in einem Auktionskatalog an. Der Schätzpreis von 70.000 Francs wird auch diesmal nicht erreicht, aber das Auktionshaus Sotheby London kauft schließlich die beiden Bände für einen weitaus geringeren Preis. Für wiederum 2.000 Pfund geht die Bibel an Albert Cohn. Aus dem Verkaufskatalog von Lecat9 wissen wir, dass die Bibel 1878 immer noch 135 Miniaturen hat, und auch die erwähnte Notiz im Börsenblatt spricht dafür, dass erst nach diesem Verkauf weitere Miniaturen hinzugefügt werden.

Heinrich Klemms Gutenbergbibel ist also in einem zwar bereits restaurierten, in den Augen des Büchersammlers aber noch längst nicht angemessen repräsentablen Zustand, als er sie erwirbt. Als die beiden Bände aber vom sächsischen Staat für das Museum angekauft werden, gelten sie als besondere Prunkstücke. So stellt eine belgische Zeitschrift fest, dass Klemms Exemplar das schönste der bekannten Pergamentexemplare sei und einst Kaiser Karl V. gehört habe.10
Die Metamorphose der beiden Bände geht mithin zu einem guten Teil auf Heinrich Klemm zurück. Die Bibel erweckt die besondere Aufmerksamkeit der bibliophilen Welt und letztlich auch die der sowjetischen Kulturoffiziere nach dem Sieg über Hitlerdeutschland. 1945 werden die beiden, nunmehr mit 282 Miniaturen gezierten und in einen Holzdeckeleinband des 19. Jahrhunderts, wahrscheinlich aus dem Holz der Mainzer Römerbrücke11, gebundenen Pergamentbände aus ihrem kriegsbedingten Auslagerungsort Schloss Rauenstein im Erzgebirge nach Moskau überführt12. Mit ihnen verschwinden die wertvollsten Stücke der Klemmsammlung und weitere bis dahin vor den Kriegseinwirkungen gerettete Sammlungsteile des Buchmuseums für die nächsten Jahrzehnte von der Bildfläche. Erst nach der Wiedervereinigung wird offiziell bekannt, dass sich die ausgelagerten Bestände des Deutschen Buch- und Schriftmuseums seit Kriegsende in der Russischen Staatsbibliothek in Moskau befinden, wo sie bis heute bewahrt werden.

Die Russische Staatsbibliothek publiziert seit Jahren verschiedene Kataloge zu den Klemmschen Beständen. Seit 2019 sind auch die beiden Bände der Bibel13 als Digitalisat verfügbar, das die Russische Staatsbibliothek anlässlich der Ausstellung „Die Gutenberg-Bibel – Anfang einer neuen Zeit“ veröffentlicht hat. Ein im Rahmen des Deutsch-Russischen Bibliotheksdialogs 2019 vereinbartes gemeinsames Digitalisierungsprojekt sollte, geplant vor den aktuellen Ereignissen, das Ziel verfolgen, die in Moskau und Leipzig verteilt bewahrten historischen Buchbestände des Museums virtuell wieder zusammenzuführen und endlich der internationalen Forschung, insbesondere den Digital Humanities, zugänglich zu machen. Der in Leipzig verbliebene Teil des Klemmschen Bestandes wird zurzeit in der Deutschen Nationalbibliothek digitalisiert, an eine Gesamtrekonstruktion ist einstweilen nicht mehr zu denken.
Dieser Beitrag ist ein Kapitel aus der Publikation „Tiefenbohrung. Eine andere Provenienzgeschichte“. Infos zum Gesamtprojekt zur Provenienzgeschichte des Deutschen Buch- und Schriftmuseums sind hier zu finden: dnb.de/tiefenbohrung.
- Beschreibender Catalog des Bibliographischen Museums von Heinrich Klemm. Dresden 1884. ↩︎
- Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel. Leipzig, Nr. 117 von 1881, S. 2170, Miscellen. ↩︎
- Schinnerer, Johannes: Fälschungen in alten Handschriften und Druckwerken. In: Zeitschrift für Bücherfreunde. N. F. V. 1913/14, Bd. 1, S. 97-111. ↩︎
- Dolgodrova,Tatiana: Die Miniaturen der Leipziger Pergament-Ausgabe der Gutenberg-Bibel – zur Zeit in der Russischen Staatsbibliothek, Moskau – ein hervorragendes Denkmal der Buchkunst. In: Gutenberg-Jahrbuch 72 (1997), S. 64–75. ↩︎
- White, Eric Marshall: A forgotten Gutenberg bible from the Monastery of Santo Domingo de Silos. In: Gutenberg-Jahrbuch 2012, S. 25-30. ↩︎
- Catalogue de livres rares parmi lesquels on remarque La Bible Mazarine, premier livre imprimé par Gutenberg et de manuscrits du IXe au XVIIIe siècle. Paris: Bachelin-Deflorenne 1878, S. 5-6 (Lot 1). ↩︎
- Marius Ferotin zeichnet den Provenienzgang der Bibel nach, verortet sie jedoch nach Heinrich Klemm in der Universitätsbibliothek Leipzig (Ferotin, Marius: Histoire de l’Abbaye de Silos, Paris 1897, S. 286-287) ↩︎
- Schinnerer, Johannes: Fälschungen in alten Handschriften und Druckwerken. In: Zeitschrift für Bücherfreunde. N. F. V. 1913/14, Bd. 1, S. 97 – 111. ↩︎
- Catalogue des livres rares et curieux provenant de la bibliothèque de Miro de Madrid, contenant en outre la Bible dite Mazarine. Paris: Lecat 1878. No. 206. ↩︎
- „Van de acht bekende pergamenten exemplaren van Mazarin’s Bijbel bezit hij het beste. Men zegt dat het aan keizer Karel den vijfde heeft toebehoord.“ Zitiert nach: Allerlei nieuws. In: Het Belfort: Tijdschrift toegewijd aan Letteren, Wetenschap en Kunst. Gent 1 (1886), S. 312. ↩︎
- Heinrich Klemm ließ einige seiner Bücher mit Holz der im 19. Jahrhundert abgerissenen Mainzer Römerbrücke neu binden, um sie in Verbindung mit Entstehungszeit und –ort der ersten Drucke zu bringen. ↩︎
- Dazu ausführlich u.a Poethe, Lothar:“Wo ist Gutenbergbibel?“ : die wertvollsten Bestände des Deutschen Buch- und Schriftmuseums in Leipzig als Kriegsbeute ; ein Fallbeispiel zum Thema Trophäenliteratur – anstelle einer Rezension. In: Leipziger Jahrbuch zur Buchgeschichte. Leipzig 1997, S. 247 – 301. ↩︎
- Signatur: Klemmsammlung II 1,1a. ↩︎
Bettina Rüdiger
Bettina Rüdiger ist Sammlungsleiterin für das Buch vor 1900 und Leiterin der Fachbibliothek im Deutschen Buch- und Schriftmuseum.