Lücken schließen — Aus der Handbibliothek eines jüdischen Antiquars
Nach Ende des Kalten Krieges offenbart ein kritischer Blick auf die Fachbibliothek zum Buchwesen, dass sich durch die aus finanziellen und ideologischen Gründen eingeschränkten Erwerbungsmöglichkeiten zwischen 1945 und der Wiedervereinigung erhebliche Bestandslücken ergeben haben. Mit dem Ankauf von Teilen der Handbibliothek Abraham Horodischs aus Amsterdam können 1992 besonders im Bereich der im „nichtsozialistischen Ausland“ verlegten Fachliteratur manche Lücken geschlossen werden. Im Zentrum des Bestandsaufbaus der Spezialbibliothek zu Buch, Schrift und Papier steht die internationale Fachliteratur, aber auch seltene Ephemera und graue Literatur werden gezielt berücksichtigt.
Die erheblichen Lücken vor allem bei den Verlagspublikationen des ehemals „nichtsozialistischen Auslandes“ zu schließen, ist nach 1990 ein dringendes Anliegen. Über das Kuratorium Haus des Buches Leipzig werden dazu Stiftungsmittel von 100.000 DM eingeworben. Diese nutzt das Museum, um einen Teil der umfangreichen Handbibliothek des Amsterdamer Antiquars Abraham Horodisch zu erwerben.
Horodischs1 Lebenslauf ist exemplarisch für den vieler jüdischer Antiquare. Geboren 1898 in Lodz, Bibliophiler und Mitbegründer der Soncino-Gesellschaft der Freunde des jüdischen Buches, muss er Deutschland 1933 verlassen. In Amsterdam baut er sich eine neue Existenz als Verleger und Antiquar auf und eröffnet 1934 die Buchhandlung „Erasmus“. 1942 gelingt ihm und seiner Frau Alice in letzter Minute die Flucht vor der drohenden Deportation in die Schweiz. Nach Kriegsende eröffnet er die Firma „Erasmus“ in Amsterdam ein zweites Mal als Buchhandlung und Antiquariat, spezialisiert auf Kunst- und Buchgeschichte. Entsprechend enthält Horodischs Handapparat sehr viel Literatur, die dem Sammelgebiet der Fachbibliothek im Deutschen Buch- und Schriftmuseum entspricht. „Erasmus“ trennt sich nach Horodischs Tod und der folgenden Auflösung des Amsterdamer Ladengeschäfts2 1991 von dessen Handapparat.
Mit dem Ankauf der etwas mehr als 1.400 Titel legt das Museum eine wichtige Grundlage für die Weiterentwicklung der Fachbibliothek als moderne Spezialbibliothek – letztlich ein Mosaikstein zum Fortbestand des Deutschen Buch- und Schriftmuseums überhaupt. In einer grundlegenden Denkschrift von 1994 zu den Potenzialen und Zukunftschancen des Museums in einem wiedervereingten Deutschland wird gefordert, das Museum als Arbeitsstätte für die Buchforschung in Deutschland zu profilieren3. Der Ankauf der Handbibliotheksbestände von Abraham Horodisch hilft, diese Forderung zu erfüllen. Und noch heute sind die fundierten fachlichen Empfehlungen des Buchgroßhandels „Erasmus“ eine der Grundlagen für den Bestandsaufbau der Fachbibliothek.
Dieser Beitrag ist ein Kapitel aus der Publikation „Tiefenbohrung. Eine andere Provenienzgeschichte“. Infos zum Gesamtprojekt zur Provenienzgeschichte des Deutschen Buch- und Schriftmuseums sind hier zu finden: dnb.de/tiefenbohrung.
- Zu den Lebenslinien Horodischs vgl.: Bendt Vera: Niederlande: Buchhändler, Antiquare, Sammler, Bibliophile aus Deutschland 1933 bis 1945. In: Imprimatur NF 26.2019, S. 63-100. ↩︎
- Zur Geschichte von Erasmus vgl. Veen, Sytze van der: 75 Jahre Erasmus Boekhandel Amsterdam – Paris. Amsterdam 2009. ↩︎
- Entwicklung des Deutschen Buch- und Schriftmuseums der Deutschen Bücherei Leipzig. Denkschrift. Leipzig 1994, Seite 22-24. ↩︎
Bettina Rüdiger
Bettina Rüdiger ist Sammlungsleiterin für das Buch vor 1900 und Leiterin der Fachbibliothek im Deutschen Buch- und Schriftmuseum.