„Für die allgemeine Benutzung ungeeignet“

30. Juli 2024
von Jörg Räuber

Zur Geschichte separierter und zensierter Bestände: Zu jeder Zeit gibt es Medienwerke, die zwar von Bibliothek und Museum gesammelt werden, aber nicht oder nur eingeschränkt der Öffentlichkeit zur Verfügung stehen dürfen. Als Zeugnis betrachtet, gibt diese Sammlung des historischen Sperrbestands Aufschluss darüber, welche Normen und Werte zu einer bestimmten Zeit gelten. Seit 2021 befindet sich die Sammlung in der Obhut des Buch- und Schriftmuseums. Eine moralische Wertung, was Nutzerinnen und Nutzer einsehen dürfen, nimmt heutzutage niemand mehr vor. Entscheidend ist allein die geltende Rechtsprechung.

Eine Reihe Büchrücken mit orangenem Stickern stehen auf einem Bücherregal nebeneinander.
Einst gesperrte Bestände – gut zu erkennen an den roten Markierungen auf den Buchrücken, Foto: DNB / Laura Stein

Als Egon Erwin Kisch 1925 seine Reportage „Die Giftschränke der Deutschen Bücherei“ veröffentlicht, hat er bei seinem Besuch vor allem als „sittenwidrig“ klassifizierte Veröffentlichungen gesehen, die in der Weimarer Republik als Schmutz- und Schundliteratur konfisziert und sekretiert werden. Es gibt für deren Verfolgung sogar eine eigene Abteilung bei der Berliner Polizei und der Generaldirektor der Deutschen Bücherei verwendet sich dafür, aus dem konfiszierten Material Belegstücke für seine junge Bibliothek zu erhalten – mit Erfolg, wie zahlreiche mit dem entsprechenden Stempelabdruck versehene Bücher belegen.

Als 1933 die Nationalsozialisten die Macht an sich reißen, beginnt eine radikale Gleichschaltung nicht nur des Staats und seiner Institutionen, sondern auch der Kultur, der Wissenschaften und der Künste. Die Bestände öffentlicher Bibliotheken werden von unerwünschter Literatur „gesäubert“, es werden Bücher verbrannt und umfangreiche Verbotslisten erstellt. Das Material für solche Listen liefert auch der laufende Zugang von Belegexemplaren der Verlage für die Deutsche Bücherei. Die aus dem Wöchentlichen Verzeichnis der Deutschen Nationalbibliographie ausgesperrten Anzeigen neu erschienener, aber unliebsamer Werke werden in separaten „Listen der in der Deutschen Bücherei unter Verschluss gestellten Schriften“ verzeichnet. Diese stellen zugleich Inventarver­zeichnisse für weitere Giftschränke dar.

Es liegt wohl zum einen im bibliothekarischen Streben nach Vollständigkeit bei der Sammlung aller deutschsprachigen Publikationen, zum anderen auch im Interesse der nationalsozialistischen Literaturkontrolle, dass sogar die Publikationen der ins Exil vertriebenen Autorinnen und Autoren auf dem Wege des Schriftentauschs mit ausländischen Bibliotheken oder als Käufe im internationalen Buchhandel aktiv beschafft werden.

Schrägansicht eines Bücherregales mit alten Büchern.
Der historische Sperrbestand, Foto: DNB / Laura Stein

Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges holt man die zwischen 1933 und 1945 sekretierten Werke, vor allem die Exilliteratur, aus der bibliothekarischen Verbannung. Ihr Platz wird von den nationalsozialistischen Werken eingenommen, von denen nun wiederum die öffentlichen Bibliotheken gesäubert werden. Das war als eine Maßnahme des Neubeginns und der von den Alliierten angestrebten Umerziehung nach den zwölf Jahren der NS-Herrschaft noch verständlich.

Sehr bald kommen aber auch die in der DDR aus vielerlei Gründen, vorwiegend ideologisch aus dem Geist des Kalten Krieges motivierten wegzusperrenden Werke in das separate Magazin, denn Giftschränke genügen nun schon nicht mehr. In der nun entstehenden dritten Gruppe von unter Verschluss stehenden Werken finden sich Schriften, die gegen den Staat DDR und die sozialistische Staatengemeinschaft gerichtet sind, die sich kritisch mit der marxistisch-leninistischen Ideologie auseinandersetzen oder die anderweitigen Anlässe für eine besonders vorsichtige Behandlung bieten. Bücher von Autorinnen und Autoren, die der DDR den Rücken kehren, wandern aus dem allgemeinen Magazin in das separate. Das betrifft auch bald ehemalige Exilierte, die nun als Renegaten gelten und deren Werke erneut unter Verschluss genommen werden.

Aber nicht nur aus dem laufenden Zugang an Pflichtexemplaren und Belegstücken für die Bibliothek rekrutieren sich die sekretierten Bestände. Zwischen 1913 und 1989 gelangen auch Werke in die Deutsche Bücherei, die beschlagnahmt und – sofern sie nicht als Teil von Ermittlungsunterlagen in Asservatenkammern landen – der Bibliothek übergeben werden. Die über die „Bücherverwertungsstelle Wien“ ab 1938 in Österreich geraubten Werke sind ein Beispiel dafür. Ein anderer Fall sind die an der Staatsgrenze der DDR konfiszierten Bücher und Zeitschriftenhefte, deren Einfuhr als schweres Delikt verfolgt wird.

Das Leipziger Sperrmagazin, dessen Umfang kontinuierlich anwächst, erhält den durch Umständlichkeit verschleiernden Namen „Sachgebiet für spezielle Forschungsliteratur“ mit einem eigenen Lesesaal, der nur mit einem besonderen „Nachweis des wissenschaftlichen Verwendungszwecks“ benutzt werden kann. Eine etwas abgemilderte Form des erschwerten Zugangs zu bestimmten Beständen ist die Kennzeichnung als „bedingt verleihbare“ Werke. Diese bleiben zwar im allgemeinen Magazin stehen, im Benutzungsfall wird jedoch besonders gründlich geprüft, wer da welche Werke in den Lesesaal bereitgestellt haben möchte.

Anfang der 90er Jahre, nach dem Ende der DDR, wird in der Deutschen Bücherei Leipzig der gesamte separierte Bestand aufgelöst, die Bücher und Zeitschriften werden an ihrem eigentlichen Platz im Magazin eingereiht. Nebenbei hat das auch ganz pragmatische Gründe, denn die konservatorischen Bedingungen in diesen Magazinräumen sind nicht optimal und die Bände in den klimatisierten Räumlichkeiten besser aufgehoben.

Heute gibt es tatsächlich immer noch verschlossene Schränke, in denen Medienwerke lagern. Davon betroffen sind Medien, für die es in der Bundesrepublik Deutschland ein gesetzliches Verbreitungsverbot gibt, wie etwa NS-Propaganda, Leugnungen des Holocaust oder Kinderpornografie. Unter Verschluss sind darüber hinaus Werke, die aus Gründen des Persönlichkeits- oder des Datenschutzes unter juristisch geregelte Nutzungsbeschränkungen fallen.

Dieser Beitrag ist ein Kapitel aus der Publikation „Tiefenbohrung. Eine andere Provenienzgeschichte“. Infos zum Gesamtprojekt zur Provenienzgeschichte des Deutschen Buch- und Schriftmuseums sind hier zu finden: dnb.de/tiefenbohrung.

Jörg Räuber

Jörg Räuber war bis Anfang 2024 für die Deutsche Nationalbibliothek Leipzig tätig. In seinen über 40 Berufsjahren war er in verschiedenen Abteilungen beschäftigt, zuletzt als Leiter der Benutzung.

*Nachweis Beitragsbild auf der Startseite:Foto: DNB

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