Vermächtnis eines Schneidermeisters
Heinrich Klemm (1819–1886) ist Schneider, Modemacher, Verleger, Autor und Büchersammler. Seine wertvolle, vor allem typenkundlich und druckhistorisch orientierte Sammlung, die unter anderem auch ein Pergamentexemplar der 42zeiligen Gutenberg-Bibel enthielt, bildet den Grundbestand des Deutschen Buch- und Schriftmuseums der Deutschen Nationalbibliothek in Leipzig.1
In ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen, gelingt es Heinrich Klemm um die Mitte des 19. Jahrhunderts, von der raschen industriellen Entwicklung und den zahlreichen sich daraus ergebenden Chancen zu profitieren. Sein Vermögen setzt er zu großen Teilen für seine Sammlung ein. Neben dem Bedürfnis nach Repräsentation ist es ihm auch daran gelegen, seine Schätze zu beschreiben und zu erschließen. Das ist typisch für die bürgerlichen Sammlungen der Zeit. Letztlich sorgen die Sammler*innen nicht nur für die Anhäufung und Umverteilung von Schätzen, sondern auch für die Strukturierung und Bewahrung der kulturellen Überlieferung.
Die Aktenlage zum Aufbau der privaten Buchsammlung Heinrich Klemms ist sehr dürftig, es sind weder Briefwechsel noch Rechnungen, überhaupt keinerlei geschäftliche Unterlagen erhalten, die über seine Beziehungen zu Antiquaren, Buchhändlern, Buchbindern oder Restauratoren Auskunft geben könnten.
Uns stehen aber neben Klemms gelegentlichen Selbstauskünften die Bücher selbst mit ihren Eintragungen, ihren Einbänden, Vorbesitzer-Exlibris und Bibliotheksstempeln und vielen anderen individuellen Merkmalen als Quellen zur Verfügung.
Im Vorwort zum Katalog seiner Büchersammlung gibt Heinrich Klemm einen Einblick in die Art und Weise, wie er die Sammlung zusammengetragen hat:
„Noch dürfte es manchen Bücherfreund interessiren, die oft gestellte Frage beantwortet zu sehen: wie es in unserer Zeit überhaupt noch möglich gewesen, eine so kostbare Bibliothek zusammen zu bringen? Hier muss ich der seit Jahren für mich angestrengten Thätigkeit fast des gesammten deutschen Antiquar-Buchhandels rühmlich gedenken. Insbesondere verdanke ich den weitverzweigten Geschäftsverbindungen des Herrn Albert Cohn in Berlin die Herbeischaffung der meisten und wichtigsten Schätze meiner Sammlung; aber auch Privatagenten in aller Herren Länder schafften mir direct so manches Prachtstück ins Haus.“2
Die Zusammenarbeit mit Albert Cohn führt unter anderem zum Erwerb eines Exemplars der Gutenberg-Bibel, dem ersten mit beweglichen Lettern gedruckten Buch. Weitere Käufe des Sammlers bei Albert Cohn und auch anderen Antiquariaten lassen sich mittels Ausschnitten der jeweiligen Titelbeschreibung aus Katalogen belegen, die Klemm häufig in die daraufhin erworbenen Werke einklebt. Ist diese Zuordnung ohne weitere Quellen schon nicht einfach, so ist es noch schwieriger, zu ermitteln, durch welche Hände die Bücher vorher gegangen sind. Antiquare kaufen häufig bei Auktionen, und Auktionen haben im 19. Jahrhundert oft den Zweck, säkularisierte Buchbestände zu verwerten, Privatsammlungen aufzulösen oder Dubletten der großen Bibliotheken zu veräußern.
Die Säkularisation der Klöster zu Beginn des 19. Jahrhunderts krempelt den gesamten antiquarischen Buchmarkt um. Die Bibliotheken der säkularisierten Klöster werden aufgelöst, teils an Universitäts- oder Hofbibliotheken abgegeben, dort, wenn es Dubletten sind, wieder ausgesondert, versteigert und verkauft, aber auch verschenkt, gestohlen oder makuliert. Ein Paradies für Büchersammler tut sich auf, und Heinrich Klemm nutzt die Gelegenheit, um eine der bedeutendsten deutschen Privatsammlungen an Inkunabeln, also Drucke aus der Frühzeit des Buchdrucks, zusammenzutragen.
Dieses kleinteilige Erwerben hat zur Folge, dass wir heute in der Klemmsammlung ganz verschiedene Herkunftsmerkmale finden. Eine typische Provenienzgeschichte sieht etwa so aus: Das Exemplar der um 1470 in Straßburg von Johann Mentelin gedruckten Ausgabe der Confessiones von Augustinus trägt einen durchgestrichenen Besitzeintrag des Augsburger Augustinerchorherrenstifts St. Georg (Bibliotheca S. Georgij Augustae), und einen weiteren Namenszug „Barnheim“3. Friedrich August Barnheim (1797 bis ca.1870) ist ein Bibliophiler, der wie Klemm von den Buchumverteilungen des 19. Jahrhunderts profitiert. Nach seinem Tod wird die Inkunabel mit der ganzen Barnheimschen Sammlung 1873 in Berlin versteigert. Hier lässt Heinrich Klemm den Band erwerben und ihm danach eine starke Restaurierung angedeihen.
Wie es in vielen Buchsammlungen der Zeit gang und gäbe ist, wird damit auch ein wichtiges Provenienzmerkmal, nämlich die individuelle Gestaltung des Bucheinbandes, überformt oder ganz unkenntlich gemacht.
Einen ganz anderen Weg nimmt eine Mailänder Inkunabel, die 1495 erschienen ist. Sie trägt, neben Notizen und Namenszügen von Einzelpersonen, mehrere handschriftliche Eignervermerke wie „Ex bibliotheca Windhagiana“. Diese, heute weithin unbekannte, frühneuzeitliche Adelsbibliothek wird von dem gelehrten Grafen Joachim Enzmilner (1600–1678) auf dessen Schloss Windhaag zusammengetragen. Die 20.000 Bücher gelangen nach Enzmilners Tod durch testamentarische Verfügung nach Wien und letztlich 1756 in die dortige Hofbibliothek4. Dort wird die Inkunabel im 19. Jahrhundert als Dublette gekennzeichnet und verkauft. Dubletten-Auktionen der Bibliotheken sind zeittypisch und erfolgen in der Hoffnung, die „nutzlosen“ Bücherberge, die sich nach dem riesigen Zustrom alter Bücher aus den aufgelösten Klöstern angehäuft haben, in neue Erwerbungsmittel umzuwandeln.
Profiteur ist wiederum Heinrich Klemm, der den seltenen Frühdruck in seine Sammlung aufnimmt. Die Herkunft scheint ihn jedoch kaum interessiert zu haben, er beschäftigt sich vielmehr mit Typenkunde – der Bestimmung von Inkunabeldruckern mithilfe ihres Typenmaterials – und strebt danach, aus den frühesten europäischen Druckorten mindestens einen Druck aller ansässigen Drucker zu erwerben. Klemms Interesse gilt also in dem Fall Ulrich Scinzenzeler, einem deutschen Drucker, der seit 1477 in Mailand tätig war. In seinem Katalog schreibt Klemm zu dieser Ausgabe: „Dieses Predigtbuch ist mit einer hübschen gothischen Type gedruckt und hat am Schlusse die Firma und Datirung. Man kennt nur diese Ausgabe des 15. Jahrhunderts.“5
Den berühmten Vorbesitzer erwähnt Klemm mit keinem Wort, wie auch der gesamte Katalog nur an ganz wenigen Stellen Angaben zur Herkunft macht. Das mag sich durch die damals nur in geringem Umfang vorhandene Fachliteratur und die unzulänglichen Recherchemöglichkeiten erklären, aber auch durch den Drang des Sammlers zum Spektakulären, Einzigartigen.
Der genannte Katalog gibt Auskunft über die Exemplare aus Klemms Sammlung im Hinblick auf deren Druckgeschichte. Zugleich ist er aber auch das Verzeichnis der ersten Ausstellung der berühmten Sammlung im Deutschen Buchgewerbemuseum, wie das Deutsche Buch- und Schriftmuseum im Jahr 1885 noch heißt.
Schon ein Jahr zuvor hat Heinrich Klemm seine Sammlung dem eben gegründeten Buchgewerbemuseum für 400.000 Mark angeboten. In einem Handexemplar des Kataloges finden sich Notizen zu den Preisvorstellungen des Sammlers. Die Verhandlungen ziehen sich jedoch in die Länge. Inzwischen schlägt Heinrich Klemm sogar ein weitaus höheres Angebot aus den USA aus. Es ist sein erklärter Wunsch, dass die Sammlung in seiner Heimat verbleibt6.
Angesichts der spektakulären Ausstellung stimmen die sächsischen Landstände im Mai 1886 endlich dem Ankauf zu. Ein halbes Jahr vor Heinrich Klemms Tod finden die Bücher als „Königlich-Sächsische Bibliographische Sammlung“ im Deutschen Buchgewerbemuseum ihre neue Heimat.
Klemm wiederum stiftet dem Museum eine bedeutende Summe für den weiteren Ausbau der Sammlung. Bis in die Inflationsjahre wird das Geld reichen, um ergänzende Ankäufe zu tätigen. So kommen um 1900 auch zahlreiche zeitgenössische Pressendrucke der jungen Buchkunstbewegung ins Museum.
Eine letzte Ergänzung aus Klemms Besitz erfährt das Buchgewerbemuseum im Jahr 1889, als das Dresdner Auktionshaus von Zahn und Jaensch den Büchernachlass des bis zuletzt unermüdlichen Sammlers versteigert7. Klemm hat sich in seinen letzten Jahren mit den – vordem von ihm nicht beachteten – niederländischen Frühdrucken beschäftigt. Aber auch seine Fachliteratur, Saxonica, also die Titel mit regionalem Bezug zu Sachsen, und viele weitere alte Drucke kommen unter den Hammer. Von den 1431 Titeln erwirbt das Museum 42, fast alle sind Inkunabeln aus niederländischen Druckorten.
Auch wenn sich die wertvollsten Stücke seit 1945 als kriegsbedingt verlagertes Kulturgut in der Russischen Staatsbibliothek Moskau befinden, kann das Museum heute mit den verbliebenen Exemplaren der Klemmsammlung die Vorformen des Drucks und den frühen europäischen Buchdruck umfangreich dokumentieren. Der Bestand wird laufend durch Ankäufe und Schenkungen ergänzt. Mit den eigenen Sammlungen des Buchgewerbevereins bis 1945 und der Bibliothek des Börsenvereins der Deutschen Buchhändler zu Leipzig kommen weitere Altbestände dazu. Historische Bucheinbände oder mittelalterliche und moderne Handschriften, beide einst nicht im Fokus von Heinrich Klemms Sammelleidenschaft, finden inzwischen ebenfalls Beachtung.
Noch bis 2025 läuft ein Projekt mit dem Ziel, den Buchbestand des Museums bis zum Erscheinungsjahr 1790 digital über das Repository der DNB für die internationale Forschung und alle Interessierten zugänglich zu machen. Weitere Digitalisierungsprojekte werden folgen.
Dieser Beitrag ist ein Kapitel aus der Publikation „Tiefenbohrung. Eine andere Provenienzgeschichte“. Infos zum Gesamtprojekt zur Provenienzgeschichte des Deutschen Buch- und Schriftmuseums sind hier zu finden: dnb.de/tiefenbohrung.
Mehr zum Leben Heinrich Klemms in der virtuellen Ausstellung „Vom Waisenkind zum Millionär“.
Bettina Rüdiger
Bettina Rüdiger ist Sammlungsleiterin für das Buch vor 1900 und Leiterin der Fachbibliothek im Deutschen Buch- und Schriftmuseum.
- Der Beitrag beruht auf einem Artikel der Autorin: Eine Büchersammlung im 19. Jahrhundert. In: Leipziger Jahrbuch für Buchgeschichte 16 (2007), S. 383-396. ↩︎
- Beschreibender Catalog des Bibliographischen Museums von Heinrich Klemm. Dresden 1884, Vorwort. ↩︎
- Aurelius Augustinus: Confessiones. Straßburg: Johann Mentelin 1470. Signatur: DBSM/M/Klemm ; II 30,1g. ↩︎
- Vgl. dazu Oppeker, Walpurga: Zur wechselvollen Geschichte der Bibliotheca Windhagiana. Mit Zensus aller bisher nachgewiesenen Bücher aus der Bibliotheca Windhagiana. In: Studien zur Wiener Geschichte 69/71.2013/2015(2018), S. 159-309. ↩︎
- Katalog des Museum Klemm. Erste und zweite Abtheilung. Ausgestellt in dem Deutschen Buchgewerbe-Museum zu Leipzig… Dresden, Leipzig 1885, S. 322. ↩︎
- Verzeichniss einer Werthvollen Bücher-Sammlung … aus dem Nachlasse des bekannten Bibliophilen Herrn Heinrich Klemm. Versteigerung am Montag, den 18. März 1889 und ff. Tage. Dresden: v. Zahn & Jaensch, Antiquariat, 1889, S. IV. ↩︎
- Ebd. ↩︎