Intelligenz der Hand. Laudatio für Anna Haifisch
Anna Haifisch, Leipziger Comiczeichnerin, erhält den Gutenberg-Preis der Stadt Leipzig 2025. Bei der Preisverleihung am 17. Juni 2025 hielt Jan Wenzel, Mitgründer des Leipziger Verlags Spector Books, die Laudatio auf die Preisträgerin.
Liebe Anna Haifisch, liebe Anna,
ich gratuliere dir von Herzen zum Gutenberg-Preis der Stadt Leipzig.
Vor zwei Jahren stand Spector Books an dieser Stelle – und da ein solcher Preis auch einen Zusammenhang stiftet, indem er seine Preisträger*innen versammelt, freue ich mich ganz besonders, dass du uns als Preisträgerin folgst und wir uns von nun an in der Liste der Träger*innen des Gutenberg-Preises die Hände reichen werden.
Das ist eine kluge Wahl, auch weil deine Bücher vor Augen führen, wie rasant sich das Medium Buch als Artikulationsform nach wie vor weiterentwickelt. Auch 575 Jahre nach Gutenbergs Erfindung erweitert sich der enorm offene Raum, der durch eine Anzahl gebundener Seiten geschaffen wird. Wir können so unterschiedliche Formulierungen in ihm versenden. Das Buch bleibt ein Versuchsfeld, was sich in den letzten Jahren im Bereich des Comics und der Graphic Novel in besonderer Weise gezeigt hat. Dass du mit deiner künstlerischen Arbeit daran Anteil hast, weil du die Formmöglichkeiten, sich in Bild und Text im Comic auszudrücken, mit jedem deiner Bücher experimentel erweiterst, ist ein Grund, dich heute hier in Gutenbergs Namen zu preisen. Und dass du eine leidenschaftliche Druckerin bist, die gleichermaßen im Offsetdruck, Risogafie und Siebdruck zu hause ist, ist ein weiterer Grund.
Du bist nicht die erste Zeichnerin, die diesen Preis erhält, Werner Klemke hat ihn 1962 bekommen, Klaus Ensikat 1989, Wolf Erlbruch 2003 und Karl-Georg Hirsch 2011. Die Preisträgerin, die dir in der inzwischen 66-jährigen Geschichte dieses Preises am nächsten steht, ist sicher die irische Grafikerin und Kinderbuchautorin Elizabeth Shaw, seit 1946 Wahlberlinerin, die den Gutenberg-Preis der Stadt Leipzig 1984 zuerkannt bekam – übrigens als erste Frau, da existierte dieser Preis schon 25 Jahre.
Ihre Bücher „Der kleine Angsthase“, „Bettina bummelt“, „Die Landmaus und die Stadtmaus“ oder „Die Schöne und das Ungeheuer“ gehören zu den Büchern, mit denen ich, später auch unsere Kinder aufgewachsen sind. Einige Sätze aus Elizabeth Shaws Büchern haben wir so oft vorgelesen, dass sie in den Zitatenschatz unserer Familie Eingang gefunden haben, Sätze wie: „Dieses Bummeln muss aufhören.“ Oder: „Warum stehlen Sie mir meine Rosen?“

Wenn man die Bücher von Elizabeth Shaw und deine nebeneinanderlegt, wird vor allem der Abstand zwischen ihnen sichtbar, die Differenz. Es ist der Unterschied zwischen „eine Geschichte in Bildern erzählen“ und „so zu zeichnen, dass alles spricht. Jedes Element mit Ausdruck aufladen ist“. Handwerkliche Fähigkeiten und konzeptuelle Entscheidungen greifen ineinander.
Der Comic ist von Beginn an, seit den ersten US-Zeitungscomics, ein selbstreflexives Genre. Anders als in den Bildgeschichten von Elizabeth Shaw sind bei dir die Intensitäten, Abbrüche und Wiederaufnahmen, all die Referenzgesten, die trotzdem ein Eigenes bilden, auf jeder Seite präsent. Es findet permanent eine Kommunikation mit dem Genre statt, mit allem, was in der Vergangenheit produziert wurde. Das ist vielleicht der Unterschied, der bewusste Umgang mit dem Formenreichtum, den der Comic und die Graphic Novel in ihrer mittlerweile mehr als hundertjährigen Geschichte hervorgebracht haben – das Spiel mit einem Überschuss an Ausdrucksmöglichkeiten. Um einen Vergleich aus der Filmgeschichte heranzuziehen – der Abstand ähnelt dem zwischen einem Film von Fritz Lang und einem von Jean-Luc Godard Zwischen einem Geschichtenerzähler und einem Liebhaber der ganzen Geschichte des Kinos.
So wie Godard in seinem 1963 gedrehten Film „Le Mépris“ (Die Verachtung) die Produktion eines Films und die Geschichte eines Paars, das ins Magnetfeld der Filmproduktion gerät, ins Zentrum der Erzählung rückt, so fokussierst du in deinem ersten Buch „Von Spatz“, das 2015, also vor gerade einmal zehn Jahren bei Rotopol erschien, auf Walt Disney. Und du erzählst pointiert von einem Zeichnen nach dem Sündenfall der Kulturindustrie. Der Ort wird, um das Wort Nervenheilanstalt zu vermeiden, von einer der Figuren „Pavillon der Visionäre“ genannt.
„In den Hügeln von Santa Monica liegt das ‚Von Spatz REHAB Center‘. Eine Nervenklinik für Künstler und Angestellte des Showgeschäfts für deren Beruhigung der Nerven eine Schar von Psychiatern, Schwestern und Pflegern zur Verfügung stehen. Die Patienten sind dazu angehalten sich an diesem Ort uneingeschränkt ihrer Genesung und künstlerischen Arbeit zu widmen. Hierfür stellt die Klinikleitung Atelierhäuser, einen Kunstbedarf, eine Kunsthalle und vieles mehr zur Verfügung.
Die Klinikleiterin Margarete von Spatz kümmert sich liebevoll um ihre Pfleglinge zu denen auch Walt Disney zählt, der sich im Laufe seines Aufenthalts mehr oder weniger vergeblich an verschiedenen Kunstwerken versucht. Während der zahlreichen Nachmittagsaktivitäten wie z.B. Maltherapie, Pinguindienst und Kneten sinniert Walt über sein Leben als Künstler. Wie konnte der Vater einer Maus seinen Verstand verlieren?“ So weit der Plot dieses Buches.


Das Buch setzt ein mit der Krise und dem Zusammenbruch Walt Disneys.
Die Arbeit des Zeichnens selbst wird hier zum Thema. Ähnlich wie der Film sind auch Cartoon und Comic im 20. Jahrhundert zu einer Industrie geworden. Die kreativen Prozesse wurden arbeitsteilig organisiert. Zeichner, die für die Studios und Redaktionen arbeiteten, übertrugen die Rechte an ihrer Arbeit in der Regel ihren Arbeitgebern. Sie hatten abzuliefern. Die Figuren, für die wir uns von klein auf begeisterten – Mickey Mouse, Bambi, Goofy – waren das Resultat einer Fließbandproduktion, der jeder individuelle Ausdruck ausgetrieben war.
Ein Diktum der Cahiers du Cinéma in den 1960er Jahren lautete, dass „die einzig wahre Kritik eines Films ein anderer Film“ ist. Godard und viele andere Akteure der Nouvelle Vague setzten diese Forderung in ihrer Praxis um.
Von Spatz ist Kritik in ihrer liebevollsten Form, denn die Geschichte unternimmt es, das Objekt der Kritik zu retten und eine Auszeit, einen anderen Ort für den künstlerisch ruinierten Walt Disney zu imaginieren: das ‚Von Spatz REHAB Center‘. Erst in diesem geschützten Raum kann das Zeichnen, nun seiner wirtschaftlichen Verwertbarkeit entledigt, wieder zu einem Medium der künstlerischen Artikulation werden. Ein emanzipativer Impuls im Modus ironischer Verkehrung: Zeichnen als Therapie, Therapie als Slapstick.
Im Kapitel „Die Aufgabe“ werden die Figuren Walt, Tomi und Saul durch ihre Art zu zeichnen charakterisiert.
Zeichnen ist manuelle Leistung, individueller Ausdruck, aber manchmal auch eine Provokation, die sich direkt gegen jemanden in der Gruppe richtet.
Und natürlich sind diese Zeichnungen, wie sie sehen, auch Ausdruck einer fröhlichen Virtuosität, weil du deinen Figuren hier eine eigene Handschrift gibst. Tomi, Saul und Walt lösen die zeichnerische Aufgabe, die Magarete von Spatz ihnen stellt, nachdem das freie Zeichnen nicht geklappt hat, auf ganz unterschiedliche Weise.

2013 gründete Anna Haifisch mit Freunden, darunter James Turek und Max Baitinger, das Comicfestival „The Millionaires Club“ in Leipzig. Ich kann mich nicht mehr genau erinnern, welche Ausgabe des „Millionaires Club“ die erste war, die ich besuchte. Ich weiß noch, es war in der GfzK, und ich tippe auf das Jahr 2015. Aber ich weiß noch genau, wie geflasht ich war von all den Zines, Poster und Bücher, die auf den Tischen dort auslagen. Wir waren als Verlag seit 2009 selbst auf Independent-Buchmessen gefahren, ich kannte Miss Read, die New York Art Bookfair und die Offprint in Paris. Aber bei „The Millionaires Club“ fand ich eine völlig neue Szene, die mit Druck- und Zeichentechniken experimentierte.
Anna, neben deiner künstlerischen Arbeit soll hier auch dein Beitrag zum Community Building ausdrücklich benannt sein. Eine Arbeit, die ein Netzwerk von Zeichner*innen in Leipzig sichtbar gemacht hat und nun auch Leipzig auf der Weltkarte des Comics verzeichnet. Künstlerische und publizistische Arbeit braucht Öffentlichkeit. Dafür Orte und Infrastrukturen zu schaffen, ist so wichtig wie verdienstvoll. Und auch nachhaltig, da, nachdem die Geschichte von „The Millionaires Club“ mit Corona ein Ende fand, inzwischen ein Festival-Nachfolger existiert.
In „Von Spatz“ ist bereits ein der gesamte Haifisch-Kosmos angelegt, der von da an Buch für Buch weiter ausformuliert wird. Eine Welt von Künstlern auf dünnem Eis. Sensibel, melancholisch, manchmal auch egoman oder von Paranoia getrieben. Zwischen Schaffenskrise und Produktionsrausch, Wunsch und Albtraum. Nur der große Kremphut und der Schnauzbart unterscheiden Disney von anderen spirrlichen Schnabel-Artisten. Ähnlich wie für diese Figur hat Anna Haifisch auch für The Artist, ihre wohl bekannteste Schöpfung, die 2015/16 als Webcomic für Vice.com entstand, eine Haltung entwickelt, die zwischen distanzierter Beobachtung eines Habitus, Mitgefühl und Introspektion oszilliert. Liebevoll, aber niemals unkritisch.
Anna Haifisch ist etwas gelungen, das für den Comic nicht der Normalfall ist. Sie wird in Museen ausgestellt und hat einen regen Grenzverkehr zwischen dem Comic und der zeitgenössischen Kunst eröffnet. Und diese Öffnung geschieht mit einer Beiläufigkeit und Selbstverständlichkeit, die erstaunt. Weder dass sich der Comic an den hohen Ton der Kunstinstitutionen anbiedert, noch dass sich die Kunstinstitutionen an den Comic anbiedern, weil er das Populäre, das Publikumswirksame ist. Anna Haifisch gelingt es, mit dem Raum der Buchseite ebenso souverän wie mit dem Ausstellungsraum umzugehen. In Essen, Hamburg, Paris, Ljubjana, Essen, und natürlich auch hier in Leipzig wurden ihre Arbeiten in großen Häusern gezeigt. Das New Yorker MoMA beauftragte sie 2020 für die Serie „Drawn to MoMA„. Die Folge „The Artist über Kuratoren“ erschien in der Zeitschrift „Texte zur Kunst„.
Das Betriebssystem Kunst mit seinem großen Theater und kleinen Abgründen, die Welt der Ateliers, Galerien, Ausstellungseröffnungen und Künstlerresidenzen sind ein Rohstoff für ihre Arbeit. Ihr wichtigster Schauplatz ist aber bis heute die Buchseite. Sie experimentiert mit den Artikulationsmöglichkeiten des Comics auf den verschiedenen Ebenen: dramaturgisch, zeichnerisch, textlich, drucktechnisch.


Schappi, 2019 bei Rotopol erschienen, ist eine Sammlung von sechs Kurzgeschichten.
Alle in technisch exquisiten, ganzseitigen Zeichnungen, die durch den Druck in Sonderfarben eine enorme farbliche Brillanz haben.
Die Texte laufen meist am Fuß der Seite, aber die Geschichten sind vor allem Sehereignisse. Bild für Bild ein faszinierendes Zusammenspiel von Linie und Farbe.
„Residenz Fahrenbühl“ erschien 2021 im Taschenbuchformat in der Volte-Reihe bei Spector Books. Die Geschichte zweier Mäuse in einer Künstlerresidenz auf dem Land ist in ihrer schnellen skizzenhaften Darstellungsweise auch eine Reflexion auf die Anforderungen des Mediums. Eine Auseinandersetzung mit Perfektion und der Authentizität des Skizzenhaften, und den Effekten, die beides hat.



„The Artist. Ode an die Feder“ erschien ebenfalls 2021 bei Reprodukt – zwei gänzlich verschiedene Bücher in einem Jahr. Sie zeigen die enorme Spannweite, die dir künstlerisch zur Verfügung steht.
Nachdem die ersten beiden Bände von „The Artist“ Wiederabdrucke der für Vice.com entstandenen digitalen Comics waren, meist mit einer großen Eröffnungsseite und drei Seiten mit kleinteiligen Panels, ist Ode an die Feder die Kür. Ein Comic als große Oper, unterteilt in insgesamt 13 Akte, den Text der deutschen Ausgabe hat Marcel Beyer feinsinnig übersetzt.


Nicht erst in Ode an die Feder, aber hier stärker noch als in den vorherigen Büchern, entsteht eine enorme Dynamik zwischen der Kürze der Handlung – oft bestehen die Geschichten nur aus wenigen Sätzen – und der Verweildauer beim Lesen: Man muss diese lakonischen Geschichten lesen wie Epigramme. So präzis und zugleich ökonomisch im Einsatz ihrer Mittel sind sie gebaut.
Sie halten die Leser*innen zu einem studierenden Lesen an, zu einem nachgrabenden Studium und sind visuelle Ereignisse von hoher Virtuosität.


„Ready America„, im vergangenen Jahr bei Fantagraphics und Rotopol erschienen, setzt noch einmal komplett anders an. Entstanden bei einem Aufenthalt in der Villa Aurora von Oktober bis Dezember 2022, könnte man diesen Band als eine Folge von gezeichneten Snapshots bezeichnen. Reisenotizen mit einem besonderen Augenmerk auf Alltagstypografie. Ein Dokumentar-Comic in Postkartenform. Die Erfindung des uncreative drawing in Anlehnung an Kenneth Goldsmith Begriff des uncreative writing – Zeichnen, was da ist. Und es ist eine Reminiszenz an Amerika. Das, wie Andreas Platthaus in einer Besprechung schreibt:
„Doch so etwas wie das Traumland der 1986 noch in der DDR geborenen Künstlerin ist. Dorther stammen ihre künstlerischen Vorbilder Charles Schulz („Peanuts“), Chuck Jones („Looney Tunes“) und Walt Disney. Auch zwei Illustratoren-Idole ihrer Kindheit und Jugend, die tiefe Spuren im Werk der Erwachsenen hinterlassen haben, Saul Steinberg und Tomi Ungerer, fanden zu ihrer künstlerischen Linie erst in den Vereinigten Staaten. Was diese fünf Zeichner geschaffen haben, prägt Anna Haifischs Kunst, und in Amerika stieß sie somit immer wieder neu auf die Ursprünge dessen, was ihr eigener Ursprung war.“
Um auf den am Anfang gezogenen Vergleich zum Autorenfilm der 1960er und 70er Jahre noch einmal zurückzukommen. Für das filmische Werk von Godard, Herzog oder Wenders war eine der stärksten Inspirationsquellen der amerikanische Film als Fluchtpunkt von Sehnsucht und Kritik. Dieses Gegenüber steht in enormen Umbrüchen, auch davon erzählt „Ready America“.
Die Fotografie als ein Darstellungsmedium des 19. Jahrhunderts, ein Bildverfahren der ersten industriellen Revolution, entstand zeitgleich mit der Eisenbahn und dem mechanischen Webstuhl. Das Versprechen von Faktizität und Wahrhaftigkeit hat ihr knapp 200 Jahre lang das Vertrauen der Betrachter gesichert. Mit der Digitalisierung und der Omnipräsenz des fotografischen Bildes schwindet es nun.
Deshalb zeigt „Ready America“ auch, welche Form von Korrektiv die Fotografie im 21. Jahrhundert nötig hat. Ein Hoch auf die Zeichnung, ein Hoch auf die Intelligenz der Hand.

Anna ich wünsche uns, noch viele überraschende, pointierte, manchmal grausam wahrhaftige Bücher von deiner Hand, deiner Feder.
Die Ausstellung „Ratatouille“ zum Gutenberg-Preis 2025 ist bis 30. Januar 2026 zu sehen im Deutschen Buch- und Schriftmuseum. Infos hier
Jan Wenzel
Jan Wenzel ist Mitbegründer des Verlags Spector Books, der 2023 mit dem Gutenberg-Preis ausgezeichnet wurde.