Meine Arbeit an „Februar 33“
Im August 2021 erschien Uwe Wittstocks neues Buch „Februar 33. Der Winter der Literatur“. Darin zeichnet er nach, wie im Februar 1933 das literarische Leben der Weimarer Zeit schlagartig zerstört wurde. Für die Arbeit an dem Buch recherchierte Uwe Wittstock auch im Exilarchiv. In seinem Beitrag blickt er auf diese besondere Zeit zurück.
Wenn ich an die Zeit denke, in der ich an „Februar 33“ gearbeitet habe, steht mir vor allem der kleine Arbeitsraum des Deutschen Exilarchivs 1933-1945 vor Augen. Oben, im Eingangsgeschoss der Deutschen Nationalbibliothek in Frankfurt, liegt der lichtdurchflutete, riesige Lesesaal mit der monumentalen Bücherwand, die, gut zwei Stockwerke hoch, zu den Lieblingsmotiven der Fotografen zählt. Darunter, eine Etage tiefer, liegt ein weiterer Lesesaal, kleiner und ruhiger, mit überlangen Arbeitstischen, an die sich die Kenner des Hauses zurückziehen, wenn sie beim Lesen absolut keine Ablenkung gebrauchen können. Und von dort zweigt, zu Füßen einer flachen Treppe und hinter einer schallschluckenden Tür, der Gang ab, der zum Deutschen Exilarchiv führt, wo dann, abgelegen und sehr geborgen, hinter einer weiteren Tür der wohl stillste Arbeitsraum der Bibliothek liegt, mit nur zwei Tischreihen, an denen man sitzt wie mit dem Rücken zur Welt.
Als es im Coronajahr 2020 immer schwieriger wurde, Bibliotheken zu besuchen, haben die Mitarbeiter des Deutschen Exilarchivs, sobald die DNB ausnahmsweise doch mal öffnen durfte, hier einen Platz für mich gefunden. Vor allem Sylvia Asmus, Regina Elzner, Katrin Kokot und Jörn Hasenclever haben mich mit bewundernswerter Geduld unterstützt. Ohne ihre Hilfe und ohne die sagenhaften Bücherschätze der DNB hätte ich „Februar 33“ nie schreiben können.
Mein Plan war, von den ersten Wochen der Herrschaft Hitlers aus der Perspektive der Schriftstellerinnen und Schriftsteller, der Verlags- und Theaterleute zu erzählen. Zwei Regeln legte ich gleich fest: Das Buch soll sich ganz eng an die heute bekannten historischen Fakten halten und andererseits die Ereignisse und Schicksale dieser hochdramatischen Tage so anschaulich und lebendig wie möglich schildern. Aber das konnte nur gelingen, wenn ich alle, tatsächlich alle erreichbaren biografischen und autobiografischen Aufzeichnungen, alle Tagebücher und Briefbände, alle Erinnerungen und Memoiren der ins Auge gefassten Hauptpersonen aus diesem Zeitraum zur Verfügung hatte. Und die konnte ich in dieser Vollständigkeit nur in der DNB finden.
Zum Erzählen gehören nicht nur die Fakten, von denen erzählt werden soll, sondern auch eine Unzahl sinnlicher Details, die eine Atmosphäre glaubhaft nachzeichnen können, in der die historischen Personen gelebt haben. Von seinem Besuch auf dem Presseball am 28. Januar 1933 berichtet Carl Zuckmayer in seinen Erinnerungen „Als wär’s ein Stück von mir“ überaus plastisch und anregend. Aber war die Fliege, die er an jenem Abend zum Frack trug, weiß oder schwarz? In einem der Bücher der DNB fand ich ein Foto, das Zuckmayer zusammen mit dem Flieger Ernst Udet auf dem Presseball in der Loge des Ullstein Verlags zeigt – und damit hatte ich die Antwort auf meine detailverliebte Frage vor Augen. Doch dann gleich das nächste Problem: Welche Musik wurde auf dem Ball gespielt? Ein anderes Buch klärt diesen Punkt: Im großen Saal Walzer, in einem der Nebensäle unter anderem Tango. Wie groß war eigentlich die Weinstube Stephanie nahe des Tauentzien, in der sich der Lektor Hermann Kesten und sein Freund Erich Kästner am 30. Januar 1933, dem Tag von Hitlers Vereidigung, gegen 10 Uhr abends trafen? Wie war sie eingerichtet? Wie viele Tische gab es und standen diese Tische frei im Raum oder in Fensternischen? Auch für solche Fragen hält die DNB zwei, drei Bücher bereit mit Fotos des Lokals und Berichten über seine Geschichte, seit der Schauspieler Viktor Schwanneke die Weinstube als Wirt übernahm und sie zu einem der wichtigsten Künstlertreffpunkte im Berlin der zwanziger und frühen dreißiger Jahre machte.
Vermutlich wirken Fragen wie diese seltsam, irgendwo angesiedelt zwischen Detailversessenheit und zwanghafter Pedanterie. Aber wenn es darum geht, nicht allein historische Dokumente auszubreiten, sondern von dem abrupten Niedergang einer großen literarischen Epoche zu erzählen und von den Menschen, die sie prägten, dann sind solche Details von unschätzbarem Wert. Im Buch dürfen sie dann nicht auftrumpfen, sondern nur den Hintergrund ausleuchten, vor dem die handelnden Personen auftreten. Aber ohne sie fehlt etwas von dem, was den Ereignissen Lebendigkeit und Plastizität verleiht.
Es ist wichtig, die Fakten zu kennen – zum Beispiel, dass an dem Fackelzug zu Ehren Hitlers am Abend des 30. Januar 1933 etwa 25.000 Mann der SA, der SS und dem deutschnationalen Stahlhelm teilnahmen. Aber wenn man erfährt, wie kalt es an diesem Abend war, dass Fliegende Händler im Zuschauergewühl am Straßenrand heiße Würstchen und wärmende Getränke anboten, dass die Fackeln einen Geruch nach Petroleum verbreiteten und dass Carl von Ossietzky eine längere U-Bahnfahrt an der unterirdischen Station Kaiserhof unterbrach, um kurz nach oben zu steigen und im unruhigen Licht der Fackeln einen Blick auf den schier endlosen Strom der Vorbeimarschierenden in ihren Uniformen zu werfen, bevor er schweigend wieder die Treppe zur U-Bahn hinuntereilte und mit dem nächsten Zug weiterfuhr – dann wird vielleicht etwas von der Unheimlichkeit der Szenerie spürbar, von ihrer latenten Gewaltsamkeit und von dem Gefühl des Bedrohtseins eines Einzelnen, der lange versucht hat, diesen Marsch aufzuhalten und nun zur Kenntnis nehmen muss, dass er endgültig verloren hat.
Allerdings ist für das Erzählen nicht nur wichtig, was geschehen ist – sondern auch, was nicht geschehen ist. Einige zeitgenössische Berichte vom Presseball am 28. Januar behaupten steif und fest, unter den mondänen Gästen des Abends sei neben dem Regisseur Joseph von Sternberg auch sein Star Marlene Dietrich gesichtet worden. Doch die DNB hält ein Buch bereit, in dem überzeugend nachgewiesen wird, dass Sternberg allein nach Berlin gereist ist und Marlene Dietrich schon damals lieber in Hollywood blieb. Sternberg musste also – was dann wieder ein Foto belegt – auf dem Ball mit zwei blonden, blutjungen Starlets vorliebnehmen, deren Namen heute vergessen sind.
Im ersten Augenblick, wenn man eine dieser großen, bedeutenden Bibliotheken wie die DNB oder eine der Spezialsammlungen wie das Deutsche Exilarchiv betritt, wirken die gewaltigen Bücherreihen in den Regalwänden ringsum wie verriegelte, schwer zugängliche Speicher der Fakten und des Wissens. Doch wenn man sich dann mitten zwischen sie setzt, ganz leise ist und Vertrauen zu ihnen gewinnt, beginnen sie kaum hörbar zu flüstern und wie aus weiter Ferne Geschichten zu erzählen, die, je länger man lauscht, immer lebendiger, immer sichtbarer, spürbarer, greifbarer werden. Daran erinnere ich mich, wenn ich an die Arbeit an „Februar 33“ denke: An den kleinen, abgelegenen Arbeitsraum des Deutschen Exilarchivs und an den Augenblick, als die Bücher zu wispern begannen.
Sehr detailliert wird hier dargelegt in der Historie wie der 30.Januar 1933 für den Verlust der Demokratie und die Bücherverbrennung ein Schnitt vollzogen wird,der uns mahnt die Demokratie wie der Poltiker
Wels/SPD sagte Die Ehre kann man uns nicht nehmen.
Wie sehr doch eine gut Atmosphäre hilft! Dieses Archiv ist wahrhaft behaglich und wenn man an das geschäftige Treiben von Oben denkt, dann fühlt man sich doch fast etwas privilegiert. Ein offener Kamin wäre zuviel des Guten…