Mit den Händen lesen

6. Juni 2024
von Noelle Lesinski

Im Januar 1809 wurde in der französischen Gemeinde Coupvray ein Junge geboren, der durch seinen Wissensdurst und Erfindungsreichtum in die Geschichte eingehen würde. Dieser Junge war Louis Braille – und durch einen Unfall in seiner frühen Kindheit mit fünf Jahren vollkommen erblindet.

Braille ließ sich in seiner Wissbegierde nicht trüben und suchte nach Möglichkeiten, wie er dennoch lesen könnte. Mit nur 16 Jahren entwickelte er die später nach ihm benannte Blindenschrift aus Punkten und ließ sich dabei unter anderem von der militärischen Nachtschrift inspirieren. Den durchschlagenden Erfolg seines Schriftsystems als weltweiten Standard konnte Braille leider nicht mehr miterleben. Er starb 1852 mit nur 43 Jahren an Tuberkulose.

Eine Zeitschrift in Brailleschrift
Eine Zeitschrift in Brailleschrift. Foto: Noelle Lesinski CC BY-SA 4.0

Die Buchstaben der Brailleschrift setzen sich aus bis zu sechs erhöhten Punkten zusammen, welche in zwei Spalten zu je drei Punkten übereinander angeordnet sind. Diese Anordnung ergab sich aus der Erkenntnis, dass der Tastsinn der Finger maximal sechs Eindrücke gleichzeitig unterscheidend wahrnehmen kann.

Wer nun schnell mitgerechnet hat, hat erkannt, dass man mit dieser Zusammenstellung maximal 64 verschiedene Zeichen und Buchstaben bilden kann. Das reicht für unser Alphabet und einige weitere Zeichen, doch sobald man die Brailleschrift am Computer benutzen möchte, wird der Platz schnell knapp, denn Klammern, das @-Zeichen oder sonstige Symbole wollen auch dargestellt werden. Aus diesem Grund werden für die sogenannte Computerbraille noch zwei weitere Punkte pro Zeichen hinzugefügt, es ergibt sich eine Anordnung von zwei mal vier Punkten.

Eine andere Möglichkeit, den Schriftumfang zu verringern, sind die Braille-Kurzschrift und Braille-Stenografie. Hier sind den einzelnen Punktekombinationen keine einzelnen Buchstaben, sondern ganze Silben oder gar Worte zugeordnet. Für Musiker*innen, die Noten lesen möchten, gibt es die Braillenotenschrift, die sogar ebenfalls von Louis Braille entwickelt wurde.

Schätzungen zufolge beherrschen nur rund 20% aller Blinden die Brailleschrift. Blinde und sehbehinderte Kinder lernen sie in der Schule, aber viele Menschen erblinden erst im höheren Alter und schaffen es nicht mehr, die Schrift zu erlernen.

Zwei übereinanderliegende Zeitschriften in Brailleschrift
Die zwei Pflichtexemplare einer Zeitschrift in Brailleschrift. Foto: Noelle Lesinski CC BY-SA 4.0

Im Gesetz über die Deutsche Nationalbibliothek heißt es: Medienwerke sind alle Darstellungen in Schrift, Bild und Ton […] (§ 3 Abs. 1 DNBG), somit gehören Blindenschriften natürlich ebenso zur Sammlung der DNB wie ihre Verwandten in Schwarzschrift – allerdings in viel kleinerem Umfang, denn die überwiegende Mehrheit der Neuerscheinungen ist für Sehende konzipiert und nur wenige Verlage veröffentlichen Medienwerke in Blindenschrift.

Abbildung einer Robbe aus Punkten
Braille-Bild einer Robbe. Foto: Noelle Lesinski CC BY-SA 4.0

Oft beinhalten diese Bücher und Zeitschriften nicht nur Text, sondern auch Bilder. Reliefs aus Punkten, Linien und verschiedenen Materialien machen diese für die Leser*innen fühlbar.

„Die schlimmste Kreuzung“

Seit 1998 findet jedes Jahr am 06.06. der Sehbehindertentag statt, der vom Deutschen Blinden- und Sehbehindertenverband (DBSV) initiiert wurde. Dieses Jahr findet er unter dem Motto „Die schlimmste Kreuzung“ statt.

So schildert der DBSV auf seiner Website, dass Kreuzungen im Straßenverkehr ein häufiger Schauplatz für Verkehrsunfälle sind – blinde und sehbehinderte Menschen seien aber besonders gefährdet, da an vielen Ampeln ein akustisches Signal oder spezielle Gehwegplatten mit Noppen oder Streifen fehlen.

Mit dem diesjährigen Sehbehindertentag startet der DBSV eine Kampagne, die mehr Aufmerksamkeit auf diese Problematik ziehen soll. So werden zum einen informative Materialien zur Verfügung gestellt, zum anderen sollen in verschiedenen Orten jeweils die schlimmsten Kreuzungen für blinde und sehbehinderte Menschen „ausgezeichnet“ werden.

Wenn Sie sich nun noch weiter informieren möchten, gibt es an beiden Standorten der DNB Möglichkeiten: das Frankfurter Dialogmuseum lässt seine Besucher*innen in einer geführten, lichtlosen Ausstellung die Erfahrungen sehbehinderter Menschen nachempfinden. In Leipzig gibt es das Deutsche Zentrum für barrierefreies Lesen (dzb lesen), das sowohl Braillebücher und –zeitschriften sowie Hörbücher für blinde und sehbehinderte Menschen produziert und als Bibliothek verleiht.

Noelle Lesinski

Noelle Lesinski ist als Fachangestellte für Medien- und Informationsdienste im Medieneingang der Deutschen Nationalbibliothek am Standort Leipzig tätig.

*Nachweis Beitragsbild auf der Startseite:DNB / Noelle Lesinski CC BY-SA 4.0

Ein Kommentar zu „Mit den Händen lesen“

  1. Elke Jost-Zell sagt:

    Vielen Dank für diesen wertvollen Beitrag über einen wichtigen Bestandteil der Sammlungen der DNB!

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  • ISSN 2751-3238