Auf den Spuren eines Jahrhunderttypografen
Das künstlerische Erbe Jan Tschicholds
Ab Mitte des 20. Jahrhunderts ergänzen vermehrt Nachlässe die Bestände des Deutschen Buch- und Schriftmuseums. So auch der Arbeitsnachlass des Typografen, Buchgestalters und Autors Jan Tschichold, der dem Museum 2006 zunächst als Depositum von den Erben übergeben und knapp zehn Jahre später als Schenkung überlassen wird. Für die Bestände des Museums ein wahrer Schatz der Typografie und Buchgestaltung im 20. Jahrhundert. Die Materialien umfassen knapp 60 Jahre künstlerisches Schaffen und konservieren als Arbeitsnachlass eines Einzigen den mediengeschichtlichen Wandel in der Buchgestaltung: vom kalligrafischen Schriftschreiben über die Arbeit im klassischen Handsatz der 1920er und 30er Jahre und die Anfänge des Fotosatzes bis hin zu den letzten Jahrzehnten der analogen Buchgestaltung. Doch trotz materieller Vielfalt erzählen sie auch etwas über die Lücken in der persönlichen Überlieferungsgeschichte eines Jahrhundertkünstlers
Dimension und Bedeutung eines Lebenswerks
Abertausende Blätter, vom daumennagelgroßen Papierschnipsel bis zum Plakat, knapp 600 kg Material in 176 Kisten. Es ist eine kaum zu beziffernde Menge materieller Hinterlassenschaften –zusammengestellt von einer einzigen Person. Es handelt sich um den Arbeitsnachlass Jan Tschicholds, dem bisher größten Nachlass des Deutschen Buch- und Schriftmuseums. Jan Tschichold prägt wie kein Zweiter die Typografie und Buchgestaltung des 20. Jahrhunderts. Auch als Autor für Fachbücher macht er sich einen Namen, insbesondere im Bereich der Schrift- und Buchgestaltung. Zeitlebens bewahrt Tschichold sein Arbeitsmaterial auf. Die frühesten Objekte lassen sich auf 1917, die spätesten auf sein Todesjahr 1974 datieren: Der Nachlass zeichnet das Leben eines Berufenen nach, eines Workaholic – vom 16-jährigen Jungen bis zum 72 Jahre alten Mann. Die Kisten machen einen künstlerischen Weg nachvollziehbar, nicht zu trennen von der persönlichen Lebensgeschichte der Privatperson Jan Tschichold.
Biografische Stationen eines Jahrhundertgestalters
Jan Tschichold wird 1902 als Sohn eines Schilder- und Firmenmalers in Leipzig geboren. Kurz nach seinem 17. Geburtstag beginnt er ein Studium an der Staatlichen Akademie für graphische Künste und Buchgewerbe in Leipzig. 1923 entstehen erste Arbeiten unter dem Einfluss des Bauhauses, dessen erste große Ausstellung Tschichold in Weimar besucht. 1925 erscheint sein Sonderheft „elementare typographie“ in den Leipziger „Typographischen Mitteilungen“. Tschichold wird zu einem der Wortführer der Neuen Typografie.
Er lebt ab 1926 in München und emigriert 1933 nach Basel, nachdem er im Frühjahr 1933 einige Wochen von den Nationalsozialisten in „Schutzhaft“ genommen wird. Im Laufe der 1930er Jahre distanziert er sich schleichend von der Neuen Typografie und wendet sich einer traditionalistischen Haltung in der Buch- und Schriftgestaltung zu. Bekannt sind aus der späteren Schaffensperiode vor allem die Reformierung des Erscheinungsbildes des Verlages Penguin Books in London und sein bekanntester Schriftentwurf – die Sabon. 1965 wird ihm für seine Verdienste um Buch und Schrift der Gutenberg-Preis der Stadt Leipzig verliehen. Tschichold setzt sich im Tessin zur Ruhe und stirbt am 11. August 1974 in Locarno.1
Material und Arbeitsweise
Tschichold erschafft sich ein Archiv seiner persönlichen Arbeit; vermutlich aus Gründen der Wirtschaftlichkeit.2 Material für die gestalterische Arbeit war teuer, insbesondere in Zeiten von Krise, Krieg und Flucht in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Um Kosten zu sparen, verwertet Tschichold alte Arbeiten vielfach wieder, nutzt alte Entwürfe für neue Aufträge, zerschneidet sie und setzt sie neu zusammen. Auch verworfene Entwürfe, Skizzen und Notizen auf den Rückseiten der Objekte lassen den Arbeitsprozess greifbar werden. Die Rückseiten erzählen auch von der jeweiligen Zeit, in der Tschichold an seinen Entwürfen arbeitet: Prospekte, alte Pläne und Ephemera dienen als Materialquelle und sind heute Sachzeugen über die reine Gestaltungsarbeit Tschicholds hinaus.
Die bewegte Geschichte des Nachlasses
So verkörpert der Nachlass sowohl Überfluss als auch Lücken in der Überlieferungsgeschichte Jan Tschicholds. Viele der Kisten enthalten die gleichen Objekte in mehrfacher Dublette, während andere Arbeitsprojekte des Gestalters – trotz der großen Menge an Materialien – kaum oder gar nicht abgebildet werden. Eine quellenkritische Annäherung ist daher angebracht. Künstlerisches Selbstverständnis, eigene Positionsveränderung des Bestandsbildners, Flucht und Umzüge, wirtschaftliche Zwänge und nachträgliche Eingriffe Dritter verändern die Überlieferungsgeschichte schon im Entstehungsprozess einer Sammlung, ehe diese ins Museum gelangt. Arbeiten aus seiner Münchner Zeit verkauft Tschichold bereits ab den 1930er Jahren in den internationalen Kunsthandel und an Museen im Ausland, um sich seinen Neustart im Schweizer Exil finanziell abzusichern. Andere Arbeiten lässt er wahrscheinlich im Zuge seiner Flucht aus Deutschland in München zurück. Unterlagen aus seinen eigenen Lehrtätigkeiten sind kaum erhalten, vermutlich, weil die Lehre für Tschichold selbst keine größere Relevanz hat – für ihn Mittel zum Zweck. Seine privaten Briefwechsel werden nach seinem Tod an das Getty Research Institute in Los Angeles verkauft.
Der Weg ins Museum und in die digitale Welt
Nach Tschicholds Tod verwaltet zunächst seine Ehefrau Edith, ab Ende der 1980er Jahre vor allem seine Schwiegertochter den Nachlass. Zu Lebzeiten trifft Tschichold keine Aussage darüber, was mit seinem materiellen Erbe nach seinem Tod passieren soll. Nach Aussage der Familie hatte die Sammlung für Tschichold keine größere emotionale Bedeutung: Tschichold habe grundsätzlich selten zurückgeschaut auf seine gestalterische Vergangenheit. Die Materialien lagerten unsortiert auf dem Dachboden seines Wohnhauses im Tessin. Doch schon in den ersten Jahren nach Tschicholds Tod sind seine Arbeitsunterlagen stark nachgefragt, was wegen der fehlenden Struktur einen erheblichen Arbeitsaufwand für die Familie bedeutet. Dass der Nachlass dauerhaft an eine Institution weitergegeben werden soll, zeichnet sich deshalb bereits in den 1980er Jahren ab.
Mehrere Versuche, in Basler Museen eine Heimat für den Nachlass zu finden, scheitern. Den Arbeitsnachlass über Antiquare zu veräußern und damit in Einzelteile zerfallen zu lassen, kommt für die Familie nicht in Frage. Über die Planung einer Ausstellung anlässlich Tschicholds 100. Geburtstag im Jahr 2002 entsteht erstmalig Kontakt zwischen der Familie Tschichold und dem Deutschen Buch- und Schriftmuseum. Die vielen Ausstellungen und Veranstaltungen zum Jubiläum in Leipzig bewegen die Familie schließlich dazu, den Nachlass in dessen Geburtsstadt zurückzuführen. Die Familie bietet dem Museum den 176 Kisten umfassenden Nachlass zunächst als Depositum an, im Jahr 2015 folgt die Schenkung.
Virtuell den Nachlass entdecken
Schließlich wird im Museum der Nachlass Tschicholds seit 2021 auch digital abgebildet. So ist es nicht zuletzt den Nachfahren zu verdanken, dass das künstlerische Erbe Tschicholds, dessen materielle Vielfalt und verschlungenen Wege durch das vergangene Jahrhundert nun weltweit zeit- und ortsunabhängig erforschbar sind. Alle Daten sind über den Katalog der Deutschen Nationalbibliothek hier recherchierbar.

Virtuelle Ausstellung und Publikation
Zum Bestand veröffentlichte das Deutsche Buch- und Schriftmuseum die virtuelle Ausstellung Klein. Aus dem Nachlass des Typografen Jan Tschichold. Sie wirft einen Blick auf die eher alltäglichen Dinge aus dem Nachlass, die oft schnell vergessen und viel seltener aufbewahrt werden.
Weiterhin zeigte das Museum 2019 die Ausstellung Jan Tschichold – Ein Jahrhunderttypograf?. Parallel dazu erschien die gleichnamige Publikation im Wallstein-Verlag.
Dieser Beitrag ist ein Kapitel aus der Publikation „Tiefenbohrung. Eine andere Provenienzgeschichte“. Infos zum Gesamtprojekt zur Provenienzgeschichte des Deutschen Buch- und Schriftmuseums sind hier zu finden: dnb.de/tiefenbohrung
Linda Wößner
Linda Wößner war wissenschaftliche Projektmitarbeiterin im DFG-Forschungsprojekt zur Digitalisierung des Nachlasses von Jan Tschichold (2019 - 2021).
- Stephanie Jacobs, Patrick Rössler: Jan Tschichold – ein Jahrhunderttypograf?: Blicke in den Nachlass. Göttingen: Wallstein, 2019, S.380ff. ↩︎
- Persönliches Gespräch: Lilo Tschichold-Link ↩︎