Nachlasserschließung im Exilarchiv. Ein kurzer Bericht zur Bearbeitung des Nachlasses von Amos Nathan

12. August 2022
von Christian Herbart

Im Jahr 2021 kam mit anderen Neuzugängen der Nachlass von Amos Nathan ins Exilarchiv, mit dessen Erschließung ich betraut wurde.

Amos Nathan wurde 1920 in Liegnitz (Legnica) in eine jüdische Familie geboren. Er wuchs in Berlin auf und besuchte dort die Private Volksschule des Jüdischen Schulvereins, deren Leiterin seine Tante Paula Nathan war. Im August oder September 1933, nach der Machtübergabe an die Nationalsozialisten, immigrierte Amos mit seinen Eltern Laura und Martin und seiner Schwester Hannah nach Palästina (britisches Mandatsgebiet). Dort besuchte er zunächst ein Gymnasium und dann die Technische Universität, das Technion in Haifa. In den Jahren 1942–1946 stand Amos Nathan in Diensten der britischen Armee, unter anderem in Ägypten. Er graduierte als Elektroingenieur am Technion und wurde dort später Dozent. Seine Lehrtätigkeit führte ihn in verschiedene Länder. Amos Nathan starb im Jahr 2008.

Jede Neuerwerbung des Exilarchivs wird zunächst durch die Kolleg*innen der Bestandserhaltung der DNB begutachtet. Es wird geschaut, ob die Papiere Schädlinge oder Schimmelbefall aufweisen und separiert und behandelt werden müssen oder ob sie stark restaurierungsbedürftig sind. Erst danach beginnt die Erschließungsarbeit.

Geöffnete Archivschachtel mit Mappen und Archivalien (Foto: Vanessa Gelardo)

Im Unterschied zu anderen Beständen des Exilarchivs erreichte uns der Nachlass von Amos Nathan in einer Ordnung, die nachgenutzt werden konnte: Die Lebensdokumente und Korrespondenzen waren bereits voneinander separiert. Für die Briefe der einzelnen Korrespondenzpartner*innen waren Archivmappen angelegt, die Unterlagen darin chronologisch sortiert. Zudem waren bereits Informationen wie Lebensdaten, Beruf etc. mitgeliefert. Im Exilarchiv wurde der Nachlass nun noch feiner sortiert, anhand des Erschließungsstandards RNAB (Ressourcenerschließung mit Normdaten in Archiven und Bibliotheken). Parallel dazu wurde ein Gliederungsschema für die Katalogisierung des Bestandes erstellt. Darin wird die Feinordnung visualisiert und es werden Gliederungsgruppen benannt, die beim Katalogisieren übernommen werden und die den Benutzer*innen des DNB-Portals die Orientierung erleichtern (z.B. Gliederungsgruppe „B“ Korrespondenzen mit „B.01“ Briefe an Amos Nathan, „B.02“ Briefe von Amos Nathan etc.).

Vor Beginn der eigentlichen Katalogisierung wurde noch geprüft, ob z.B. für Korrespondenzpartner*innen bereits Datensätze existierten oder ob diese neu anzulegen waren. Die Verankerung von Namen in der GND (Gemeinsame Normdatei) ist für uns besonders wichtig. So können Relationen, z.B. zwischen Personen, dargestellt werden. Im Anschluss an diesen Arbeitsschritt erfolgte die Katalogisierung des Bestandes in Konvoluten. Bei der Katalogisierung werden die Unterlagen genauer beschrieben, es werden vor allem formale Angaben erfasst, wie Entstehungszeit, beteiligte Personen, Entstehungsort und Umfang.

Der Großteil des Bestandes besteht aus – überwiegend deutschsprachiger – Korrespondenz an/von Amos Nathan und Korrespondenz der Familie Nathan-Schiller. Bei der Bearbeitung beeindruckte mich der Informationsgehalt des Bestandes, der den Benutzer*innen deutliche Eindrücke vom Leben der Personen sowie auch von den Entwicklungen im britischen Mandatsgebiet Palästina und in Israel vermitteln kann. Als Beispiele seien genannt: Amos Nathan schreibt im Zeitraum 1934–1950 ca. 330 Briefe an seine Eltern, von unterschiedlichen Stationen seines Wirkens (Haifa, Ägypten, Großbritannien, USA). Und Amos‘ Tante Paula Nathan, die ebenfalls emigriert ist, thematisiert in den Briefen an ihren Bruder Martin die Gründung einer Schule in Jerusalem-Talpiot sowie die Einwanderung von Kindern und Jugendlichen („Alijat Noar“). Dies ist sicher interessant für Benutzer*innen, die zur Exilerfahrung von Kindern und Jugendlichen arbeiten.

Um die Frage und die Antwort vorwegzunehmen: Nein, wir Mitarbeiter*innen im Bereich Erschließung des Exilarchivs lesen die Archivalien nicht durch. Das ist Aufgabe und Privileg der Forschenden. Wir lesen höchstens einige Zeilen, um Zuordnungen vorzunehmen und Einträge in der GND generieren zu können. Oder wir schauen die Materialien etwas genauer an, wenn wir z.B. Blogbeiträge schreiben. Privat las ich vor einiger Zeit den Roman „Eine Geschichte von Liebe und Finsternis“ von Amos Oz, dessen Handlung in Jerusalem zur Zeit des Völkerbund-Mandats und der Gründungsphase des Staates Israel spielt. In diesem Werk beschreibt Oz seine Kindheit und Jugend sowie die Lebensgeschichte seiner Eltern, die ins Mandatsgebiet emigriert waren. Dadurch erschien mir der Roman öfter wie eine Parallele zum Nachlass Nathan. Und an einigen Stellen entdeckte ich auch Verknüpfungen: etwa wenn Nathans Tante sich in einem Brief (23.06.1943) auf ein Buch des Schriftstellers Samuel Agnon bezieht, der im Roman von Oz wiederholt erwähnt wird. Oder wenn seine Schwester Hannah in einem Brief (12.08.1945) über den Krieg reflektiert, der auch den Hintergrund von Oz‘ Roman bildet. Hannah geht auf die Atombomben-Abwürfe in Japan ein und warnt vor der zerstörerischen Wirkung eines weiteren Weltkrieges.

Der Nachlass von Amos Nathan am Standort im Magazin (Foto: Vanessa Gelardo)

Mit dem Ende der Erschließungsarbeiten ist Amos Nathans Nachlass somit nun so aufbereitet, dass Forschende leicht ihren Weg durch den Bestand finden und auch Bezüge zum aktuellen Zeitgeschehen entdecken können. Der Nachlass befindet sich – neben vielen weiteren ungedruckten Zeugnissen zur deutschsprachigen Emigration – am Frankfurter Standort des Exilarchivs. Dort kann er nach Voranmeldung benutzt werden. Den Roman „Eine Geschichte von Liebe und Finsternis“ von Amos Oz möchte ich als Lesetipp nennen, er lässt sich auch als Gründungsgeschichte des Staates Israel lesen.

*Nachweis Beitragsbild auf der Startseite:DNB/Vanessa Gelardo

4 Kommentare zu „Nachlasserschließung im Exilarchiv. Ein kurzer Bericht zur Bearbeitung des Nachlasses von Amos Nathan“

  1. Danièle Terme sagt:

    Ich finde es spannend zu lesen, wie ein Archivist arbeitet und von seiner Arbeit spricht. In dieser Hinsicht finde ich die Benutzung der Ich-Form interessant. Der Bericht ist ganz klar strukturiert und gibt Aufschluss über das Leben und das Werk von Amos Nathan, den ich selbst nicht kannte. Danke für den Lesetipp, und ich melde mich wieder nach der Lektüre…

    1. Christian Herbart sagt:

      Vielen Dank auch Ihnen für Ihren Kommentar und für Ihr Interesse an unserer Arbeit!
      Es freut uns, wenn durch den Bericht das allgemeine Vorgehen bei der Nachlasserschließung wie auch speziell Leben und Werk von Amos Nathan plastisch geworden sind.

      Viel Freude bei der Lektüre des Oz-Romans! Gerne erwarten wir dann Ihre Rückmeldung…

  2. Gabriela Rothmund-Gaul sagt:

    Lese gerade den Roman von Oz und bin beeindruckt von seiner Erzählkraft, die mich tatsächlich stark hineinnimmt in das Leben und die Zeit nach 1945 in Jerusalem. So vielschichtig sind die Verbindungen nach ganz Europa, so vielfältig die Gefühle und Wege der Menschen, die ausgewandert sind. Der Nachlass von Amos Nathan ist mit Sicherheit eine äußerst wertvolle Fundgrube zum weiteren Verständnis und zur Erkenntnis zur Geschichte dieser Region und ihrer Menschen.
    Toll, dass der Nachlass jetzt zur Benutzung bereit steht.

    1. Christian Herbart sagt:

      Vielen Dank für Ihren Kommentar und für Ihr Interesse an unserer Arbeit!
      Das freut und bestärkt uns… und erzeugt bald nach dem Sichtbar-Werden eines Bestands – wie hier von Amos Nathan – eine Resonanz darauf!

      Den Roman von Amos Oz darf man sicherlich als opulent bezeichnen, auch was mögliche Zugänge (autobiografisch, zeitgeschichtlich…) angeht.

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