Phönix oder Greif

17. Dezember 2024
von Bettina Rüdiger, Emily Löffler

Wertvolle Bestände aus der Leipziger Stadtbibliothek kommen ins Museum

Im Deutschen Buch- und Schriftmuseum und im Hauptbestand der Deutschen Nationalbibliothek befinden sich eine ganze Reihe von Bänden, die ursprünglich in der Leipziger Stadtbibliothek bewahrt wurden. Die seit 1667 bestehende Bürgerbibliothek erhält in ihrer Geschichte viele Stiftungen und Schenkungen, bevor sie in den 1950er Jahren ihren Status als wissenschaftliche Bibliothek verliert und ihren wertvollen Altbestand an verschiedene Bibliotheken abgeben muss. Nach vielen Verlusten im Zweiten Weltkrieg ist das ein weiterer schmerzhafter Einschnitt, der erst nach der Wiedervereinigung mit vertraglichen Regelungen gelindert wird.

Leipzig 1952: Die Trümmer des Zweiten Weltkrieges sind noch längst nicht beseitigt. Das Deutsche Buch- und Schriftmuseum hat sich 1950 aus seinem schwer zerstörten Gebäude am Gerichtsweg unter den rettenden Schirm der nahezu unzerstörten Deutschen Bücherei geflüchtet. Die großen Bestandsverluste zu ersetzen ist ein zentrales Anliegen der 1952 frisch gekürten Abteilung des Hauses am Deutschen Platz.

Eine Gelegenheit bietet sich im selben Jahr. Die traditionsreiche Leipziger Stadtbibliothek verliert bereits im Jahr 1951 ihren Status als wissenschaftliche Bibliothek. Per Dekret des sächsischen Staates wird deren von bürgerlichen Stiftungen und Schenkungen geprägte Bestandsgeschichte auf den Prüfstand gestellt und für anachronistisch erklärt.[1] Der nach dem Totalverlust des Gebäudes 1944 verbliebene, immer noch wertvolle Altbestand geht zu großen Teilen an die Universitätsbibliothek Leipzig. Um den nicht unbedeutenden Rest entbrennt ein Konkurrenzkampf zwischen dem Deutschen Buch- und Schriftmuseum und der Deutschen Bücherei auf der einen und dem Leipziger Kunstgewerbemuseum auf der anderen Seite.

Der Ratsbeschluss Nr. 713/A 1 der Stadt Leipzig macht im November 1952 die Umwandlung der Stadtbibliothek in eine Allgemeine Öffentliche Bibliothek endgültig offiziell. Zugleich besiegelt er die bereits beschlossene Eingliederung ihrer historischen Buchbestände in andere wissenschaftliche Institutionen.[2] Am 29. Mai 1953 erfolgt die weitgehend formlose Übergabe von Fachliteratur und Musterdrucken aus dem Bestand der Stadtbibliothek an das Museum auf Grundlage einer bereits im Februar eingereichten Liste von gewünschten Büchern. Kleinere Konvolute kommen später dazu, so dass 265 Werke in 510 Bänden auf diese Weise bis 1954 ins Museum gelangen.

Ein weiterer Ratsbeschluss vom 4. Juni 1962 regelt die Überführung der Sammlung künstlerischer Bucheinbände des 20. Jahrhunderts aus der Stadtbibliothek ans Museum, diesmal mit dem Status der Dauerleihgabe. Auch die Deutsche Bücherei erhält Bände aus der Stadtbibliothek, mit denen sie Kriegsverluste ausgleicht, sowie eine Archivaliensammlung zu Hermann Marggraff (1809-1864). Im selben Jahr findet mit der Übergabe einer wertvollen Inkunabel an die Deutsche Bücherei die Zerschlagung einer bedeutenden Altbestandsbibliothek ihren Abschluss. Propagandistischer Anlass ist das fünfzigjährige Bestehen der Deutschen Bücherei. Die Mentelinbibel im Lederschnitteinband hat letztlich wenig mit dem Bestand der Deutschen Bücherei zu tun und landet im Tresor des Buchmuseums.

Jahre nach der Wiedervereinigung geraten diese Vorgänge unter geänderten Vorzeichen wieder in den Fokus. Die Leipziger Stadtbibliothek stellt entsprechend dem Einigungsvertrag einen Restitutionsantrag für ihre Altbestände, der bis 2002 unbearbeitet bleibt.[3] Juristische Fragen werden neu gestellt: War die Bestandszerstreuung rechtens? Wem gehören die Bücher eigentlich? Die separate Restitution der Sammlung Marggraff wird sogar vorbereitet, jedoch verbleibt das Konvolut am Ende – vertraglich abgesichert – im Museum. Der Klärungsprozess zu den Büchern findet erst 2021 seinen Abschluss, als die Deutsche Nationalbibliothek und die Leipziger Städtischen Bibliotheken einen Depositalvertrag über alle abgegebenen Bestände unterzeichnen.

Eine der Vertragsbedingungen ist eine umfassende Bestandsrevision. Erste Blicke in die Bände zeigen, dass mit dem Abschluss des Vertrages längst nicht alle Eigentumsfragen geklärt sind. Viele der Bücher hat die Stadtbibliothek – zum Ausgleich ihrer Kriegsverluste – erst in den Jahren ab 1944 beschafft. Unter diesen Erwerbungen findet sich auch NS-Raubgut aus jüdischem Besitz. So enthalten 14 Zeitschriftenbände aus der Stadtbibliothek das Exlibris des jüdischen Bibliophilen Raoul Jellinek-Mercedes (1883-1939), der 1939 aufgrund des von der Gestapo ausgeübten Verfolgungsdrucks durch Suizid starb. Seine heute weit verstreute Bibliothek ist Gegenstand mehrerer laufender Restitutionsverfahren in Deutschland und Österreich.

Nach Kriegsende übernimmt die Stadtbibliothek wiederum Teile anderer aufgelöster Altbestandsbibliotheken. Die berühmte Bibliotheca Afrana beispielsweise wird schon 1948 per Dekret des Ministeriums für Volksbildung der Landesverwaltung Sachsen zu großen Teilen anderen Bibliotheken zugeführt. Da die Schule nicht in der bisherigen Weise bestehen bleiben solle, werde die Bibliothek in der Form nicht mehr gebraucht, so die zeitgenössische Erklärung. Von vielen Bänden fehlt bis heute jede Spur. Auch aus während der Bodenreform enteigneten Schlossbibliotheken kommen in jenen Jahren Bücher zur Verteilung. Noch ist die Stadtbibliothek, die bis 1951 zu den wichtigen Altbestandsbibliotheken in Sachsen zählt, Nutznießerin dieser Translokationen – doch nur drei Jahre später teilt sie das gleiche Schicksal.

Die Werke, die sich heute im Museum befinden, sind häufig Zeugen mehrfachen Unrechts, das – aus heutiger Sicht – den besitzenden Personen und Körperschaften geschah. Das Museum dokumentiert im Zuge der Revision diese Provenienzen, arbeitet in enger Kooperation mit der Stadtbibliothek die Fälle auf, recherchiert eventuelle Berechtigte und setzt gegebenenfalls Restitutionsverfahren in Gang.

Dieser Beitrag ist ein Kapitel aus der Publikation „Tiefenbohrung. Eine andere Provenienzgeschichte“. Infos zum Gesamtprojekt zur Provenienzgeschichte des Deutschen Buch- und Schriftmuseums sind hier zu finden: dnb.de/tiefenbohrung.

Bettina Rüdiger

Bettina Rüdiger ist Sammlungsleiterin für das Buch vor 1900 und Leiterin der Fachbibliothek im Deutschen Buch- und Schriftmuseum.

Emily Löffler

Dr. Emily Löffler ist in der Deutschen Nationalbibliothek für die Provenienzforschung verantwortlich.


[1] Erste Durchführungsbestimmung der „Verordnung über die Umgestaltung des Hochschulwesens“ vom 3. März 1951, zitiert nach Mannschatz, Hans-Christian Mannschatz, Wie viele Leben hat eine Bibliothek? In: Leipziger, Eure Bücher! Leipzig 2009, S. 84-104

[2] Ebenda

[3] Die Leipziger Stadtbibliothek – eine unendliche Geschichte. Leipzig 2002, S. 17

*Nachweis Beitragsbild auf der Startseite:Foto: DNB, Laura Stein

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