Sammeln als politischer Akt

30. März 2022
von Helke Rausch

Die Sammlung Exilliteratur der Deutschen Bibliothek und ihre Öffentlichkeit 1965

Die Deutsche Bibliothek in Frankfurt am Main, westdeutscher Vorläufer der heutigen Deutschen Nationalbibliothek, war 1947 gerade erst offiziell gegründet worden, da begann im Sommer 1948 schon ein zusätzliches Projekt. Man unternahm erste Schritte, um im eigenen, noch sehr bescheidenen Haus eine separate, zunächst vor allem aus belletristischer Literatur gespeiste Bibliothek der Emigrationsliteratur aufzubauen. Das war langfristig gesehen der Grundstein für das heutige Deutsche Exilarchiv 1933–1945 der Deutschen Nationalbibliothek in Frankfurt am Main. Die Sammlung Exilliteratur (seit 1950) ist inzwischen mehrfach gesetzlich verankert worden, zuerst 1969 für die westliche Deutsche Bibliothek als Abteilung Exilliteratur und dann erneut 2006 für die gesamtdeutsche Nationalbibliothek unter Einschluss der seit 1947 angelegten Sammlung Exilliteratur der Deutschen Bücherei Leipzig. Seither ist das Deutsche Exilarchiv massiv weitergewachsen und um Autografen, Nachlässe, Exponate aus dem Leben von Exilierten und zuletzt 2018 um eine eigene Dauerausstellung bedeutend erweitert worden.1

Im Mai 1965 öffnete die Deutsche Bibliothek in Frankfurt am Main mit der Ausstellung Exil-Literatur 1933–1945 erstmals einen Teil der Bestände aus ihrem Exilarchiv einem breiteren Publikum.2 Diese Eröffnung gilt oft als Aufgalopp in eine Erfolgsgeschichte der Exilliteratursammlung und als Auftakt zu einer inzwischen stattlichen Serie an Ausstellungen des Exilarchivs. Das Konzept, die Publikationen vom Nationalsozialismus verfolgter Schriftsteller*innen und Publizist*innen zusammenzutragen, nahm seit den 1970er- und 80er-Jahren auch immer besser an Fahrt auf, weil sich eine westdeutsche und internationale Exilforschung entwickelte, die sich für die Sammlung interessierte.3 Dass das Frankfurter Exilarchiv in Öffentlichkeit und Wissenschaft seither und heute so sichtbar ist, sollte allerdings nicht dazu verleiten, dahinter eine ungestörte Aufstiegsgeschichte seit 1948 zu vermuten, in der Bestände eben sukzessive angehäuft und einem zugewandten Publikum präsentiert worden wären. Stattdessen scheinen die Anfänge der Bibliothek der Emigrationsliteratur auf eine Weise, die sie sehr eng mit der Gesellschaftsgeschichte der frühen Bundesrepublik verknüpft, unvorhersehbarer und zäher.

Aus zeitgeschichtlicher Sicht sollen daher weder die Bestände des Exilarchivs an sich noch seine Konsolidierungsphase seit den 1970er-Jahren betrachtet werden. Die folgenden Überlegungen konzentrieren sich stattdessen erst auf das diskursive Klima im Jahr der ersten öffentlichen Ausstellung 1965 und später dann auch kurz auf die Jahre zuvor seit Sammlungsbeginn 1948. Den Betrachtungsrahmen so festzulegen, nimmt nicht nur, die zeitgenössische Perspektive der Frankfurter Bibliotheksleitung ernst. Es öffnet sich so auch der Blick dafür, dass die Dinge nicht ganz so offensichtlich lagen, wie es eine einigermaßen glatte Geschichte vom Aufwuchs der Exilliteratursammlung in der Deutschen Bibliothek nahelegen könnte. Sucht man nämlich das Jahr 1965 auf seine unmittelbarsten öffentlichen Resonanzräume für die ausgestellte Exilliteratur ab, wird deutlich: Die Rezeptionshürden für dieses neue Projekt einer öffentlichen Schau von Exilpublikationen lagen zunächst hoch. Welche Potenziale der Gründungsphase vor 1965 dem Unternehmen voranhalfen, zeigt anschließend der kurze Blick auf die Sammlungsursprünge vor 1965.

Frankfurter Ambitionen 1965

Ihre programmatischen Ambitionen im Blick auf die Sammlung und die Ausstellung formulierten der Leiter des Exilarchivs seit 1958 Werner Berthold und der Direktor der Deutschen Bibliothek Kurt Köster besonders prägnant. Beide beschrieben sie als eine regelrechte Zäsur im professionellen Selbstverständnis der Frankfurter Bibliothekar*innen und der gesamten Deutschen Bibliothek in Frankfurt am Main seit Kriegsende. Generell, so Berthold und Köster, gelte in der Frankfurter Deutschen Bibliothek als „Nationalbibliothek“ das „Prinzip konsequenter Objektivität“, demzufolge „Publikationen aller politischen Richtungen (…) unterschiedslos gesammelt, (…) objektiv erschlossen und ohne Einschränkung jedermann zur Verfügung gestellt“ würden.4 Gemeint war hier zunächst einmal der unter den Bedingungen des alliierten Besatzungsregimes vereinbarte generelle Sammelauftrag der Deutschen Bibliothek. Sie sollte deutsche Publikationen verzeichnen und aufnehmen, die nach und seit dem 8. Mai 1945 im Nachkriegsdeutschland erschienen und damit im von den Alliierten mit abgesteckten Meinungsspektrum. Exilliteratur zu sammeln und auszustellen hieß nun aber für Berthold und Köster mehr, als hinter die sonst geltende Zeitmarke zurückzugehen und den Sammlungsbeginn der Emigrantenbibliothek auf 1933 auszudehnen:

„… in diesem speziellen Fall … – angesichts der Literatur des Widerstands gegen Hitler – [tritt] der Bibliothekar einmal aus seiner Reserve [heraus], um sowohl die Forschung als auch die breitere Öffentlichkeit seines Landes zu intensiverer Auseinandersetzung mit den von ihm verwalteten Beständen aufzufordern. Es kann ihm nicht gleichgültig bleiben, dass die von ihm zusammengetragene Exil-Literatur vielleicht nur ein geringes Interesse bei seinen Landsleuten findet. Bliebe er passiv, so vernachlässigte er unseres Erachtens seine staatsbürgerliche Pflicht, bei einer gerade sich ihm bietenden Möglichkeit zur demokratischen Bewusstseinsbildung beizutragen.“5

Diese Erklärung war bemerkenswert. Denn die Ausstellungsmacher Köster und Berthold sahen sich regelrecht als Aktivisten in Sachen „Staatsbürgertum“ und „demokratischer Bewusstseinsbildung“. Es ging ihnen bei der Sammlung Exilliteratur und der ersten großen Ausstellung von 1965 um eine kultur- und gesellschaftspolitische Intervention. Der deutschen und internationalen Öffentlichkeit die Exilliteratur-Bestände vor Augen zu führen, hieß für sie, die „Literatur des Widerstands gegen Hitler“ als bislang verschütteten Wissensvorrat in Stellung zu bringen, als immer noch verkanntes Arsenal „demokratischen“ Denkens jenseits der und gegen die Diktatur.6 Ihr volles demokratisches Potenzial konnte die deutsche Nachkriegsgesellschaft folglich erst entfalten, wenn sie den vom NS Diffamierten hier in Gestalt der Exilliterat*innen und -schriftsteller*innen wieder Stimme gab und aushielt, dass sie sich damit einen unübersichtlichen Meinungspluralismus einhandelte, den sie als Demokratie öffentlich aufbereiten sollte.

Der auffällig engagierte Ton, mit dem Köster und Berthold diese Erwartungen an die Exilliteratursammlung und ihre Ausstellung von 1965 vortrugen, zielte also nicht nur auf das, was die Deutsche Bibliothek intern als Archiv deutschsprachiger Publikationen leistete. Stattdessen definierten Berthold und Köster energisch wie selten die Rolle der Bibliothek als Archiv in der Gesellschaft und politischen Öffentlichkeit ihrer Tage.

Die folgenden Überlegungen nehmen diese zeitgenössische Ambition ernst. Sie folgen daher Kösters und Bertholds Blick weg von der Binnenentwicklung der Deutschen Bibliothek in Richtung auf die gesellschaftspolitischen Außenräume, die sie mit der Exilliteratursammlung und ihrer öffentlichen Ausstellung betraten. War die Frankfurter und breitere westdeutsche Öffentlichkeit 1965 also bereit dafür, sich von der Deutschen Bibliothek und ihrer Ausstellung der Exil-Literatur 1965 mit dem Exil konfrontieren zu lassen?

Öffentliche Resonanzräume: zwei Diskursmomente in Frankfurt am Main 1965

Hier drängen sich Momentaufnahmen aus dem Frankfurter und westdeutschen Jahr 1965 auf, die ein angespanntes, ambivalentes öffentliches Gesprächsklima erkennen lassen. Anders als von Berthold und Köster anvisiert, hatte sich die Frankfurter Ausstellung ihrer Exilsammlung 1965 in einem flirrenden, vielstimmigen öffentlichen Diskussionszusammenhang zu behaupten. Ihr langfristiger Erfolg als Sammlung war hier noch lange nicht vorgezeichnet, Zuspruch jedenfalls nicht automatisch zu erwarten. An zwei Stellen, die symptomatisch erscheinen für das politische Diskursklima im Ausstellungsjahr 1965 in Frankfurt am Main und der Bundesrepublik lässt sich das besonders deutlich greifen.

Während die Exilliteraturausstellung im Mai 1965 in der Deutschen Bibliothek eröffnet wurde, gab es einen Frankfurter Diskursmoment ganz anderer Art. Am Frankfurter Landgericht im Bürgerhaus Gallus stand zeitgleich ein Verfahren drei Monate vor dem Abschluss, dass die gesamte westdeutsche und wohl auch internationale Öffentlichkeit bis dahin seit fast zwei Jahren ständig beschäftigt hatte: Im ersten Frankfurter Ausschwitz-Prozess nämlich sagten seit 1963 bis zu seinem Ende im August 1965 in einer bis dahin präzedenzlosen öffentlichen Szene mehr als 180 Prozesstage lang über 350 Zeugen aus 19 Ländern aus. Über 200 ehemalige Insassen des KZ Auschwitz berichteten vom Konzentrations- und Vernichtungslager, in dem zwischen 1940 und 1945 965.000 Juden und deutlich über 100.000 weitere Opfer ermordet worden waren.7 Einerseits konfrontierten ihre Schilderungen die westdeutsche Öffentlichkeit in bis dahin ungekannter Intensität und in allen verstörenden Details mit ihrer jüngsten Gewaltgeschichte. Andererseits schlugen sich im Frankfurter Verfahren noch 1965 einmal mehr die absichtsvollen Unzulänglichkeiten der deutschen Nachkriegsjustiz und des zeitgenössischen Strafrechts nieder: Nur knapp 20 Täter, meist Gestapomitglieder, KZ-Ärzte und Lagerkommandanten, konnten überhaupt angeklagt werden. Auch endeten die Verhandlungen mit vergleichsweise milden Verurteilungen zu sechs lebenslangen und vielen deutlich kürzeren Zuchthausstrafen. Denn den Angeklagten spielten Verjährungsfristen ebenso in die Hände wie es ihnen gelang, sich auf einen entlastenden „Befehlsnotstand“ zurückzuziehen, ohne sich für Verbrechen gegen die Menschlichkeit verantworten zu müssen.8

Der Prozess war demnach alles andere als ein Indiz dafür, dass die westdeutsche Nachkriegsgesellschaft damit zurande gekommen war, den Holocaust auch nur juristisch aufzuarbeiten. Es musste mehr als fraglich erscheinen, woher vor diesem Hintergrund das öffentliche Interesse am Exil und seinen Publikationen kommen sollte. Denn wenn auch auf ganz andere Weise als die Prozesse hielten doch auch die Exilautor*innen und -schriftsteller*innen dem westdeutschen Publikum die Brutalität einer Diktatur vor Augen, in die die meisten Betrachtenden biografisch verstrickt waren.

Ein zweites Schlaglicht auf die Diskurskultur von 1965 in Frankfurt am Main und Westdeutschland blendet noch stärker auf die öffentliche Rede über das Exil: Im Oktober 1965 erhielt die jüdische Schriftstellerin Nelly Sachs, vom deutschen Fernsehen live übertragen, den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Das Ereignis spielte sich in der Paulskirche nicht nur räumlich in der Nähe der Deutschen Bibliothek ab. Mit dem Börsenverein des Deutschen Buchhandels beziehungsweise seinem Stiftungsrat stand zugleich auch der wichtigste Mitbegründer der Deutschen Bibliothek für diese Verleihung ein. Sachs war spät, erst im Mai 1940, von Berlin nach Stockholm geflohen und dauerhaft im Exil geblieben, wie die meisten emigrierten Intellektuellen.9 Die Jury fand, dass Sachs nicht in erster Linie das jüdische Martyrium im Holocaust bezeugte, sondern in ihrer Lyrik vor allem eine „erlösende Macht (…) der Verständigung“ entfaltete und – „ohne Widerspruch Deutsches und Jüdisches“ – miteinander „versöhnte.“ Wie genau die Exilantin angesichts des Holocaust für widerspruchlose Versöhnung einstehen konnte, blieb jenseits solcher sakralisierender Zuschreibungen ganz offen. Ein Stück weit nahm Nelly Sachs in ihrer Dankesrede diese Erwartung an und warb für die „Eroberung des Friedens“ durch Sprache und Literatur. Zugleich zeigte sie sich allerdings, sichtlich mehr als die Laudatoren, weiterhin „von Ängsten und Zweifeln geplagt“, wenn sie auf die „Opfer“ des NS-Terrors blickte.10 Die Versöhnungsaufgabe, die man der Jüdin umstandslos zuordnete, als sei sie schon erledigt, behielt bei Sachs mit ihrem Verweis auf den Genozid an den Juden ein erdrückendes Gegengewicht, das durch die Preisverleihung allein nicht aufzuheben war.

Und viel sprach dafür, dass die „Versöhnung“, für die man Sachs vereinnahmte, jedenfalls 1965 Projekt blieb. Von der alltäglichen Lebenserfahrung der meisten Jüdinnen und Juden in Deutschland und Frankfurt am Main Mitte der 1960er-Jahre schien sie noch einigermaßen weit entfernt. Denn immer noch trafen selbst rückkehrwillige Jüdinnen und Juden im Nachkriegsdeutschland auf eine im besten Falle befangen-verkrampften, im schlechteren auf eine verstockte, ablehnende westdeutsche Mehrheitsgesellschaft, die von den Verklärungen in der Paulskirche unbeeindruckt schien.11

Langzeitpotenziale und Wirkungsgrenzen der frühen Frankfurter Emigrantenbibliothek

Warum die Exilliteratursammlung der Frankfurter Deutschen Bibliothek und ihre Ausstellung von 1965 langfristig dennoch stärker verfangen konnte, hing dann von vielem ab, was jenseits des Jahres 1965 lag. Gemeint sind damit nicht nur die neuen gesellschaftspolitischen Dynamiken der späten 1960er- und dann der 1970er-Jahre und die allmählich revitalisierte Exilforschung.12 Gemeint ist auch die Entstehung der Emigrantenbibliothek seit 1948: Ihr besonderes Potenzial, das sie auch über die schwierigen Rezeptionsbedingungen des Ausstellungsjahres 1965 hinwegtragen konnte, lag im speziellen Frankfurter Weg zur Ausstellung: Es war der enge Schulterschluss der Bibliotheksleitung mit den Exilierten selber, die das Projekt trug. Nur wenige Jahre nach Kriegsende war der Gründungsdirektor der Deutschen Bibliothek Hanns W. Eppelsheimer, der die Idee einer separaten Sammlung von Exilschriften seit Sommer 1948 verfolgte, vor allem beim Schutzverband Deutscher Schriftsteller in der Schweiz auf Zustimmung gestoßen. In dessen Vorstand begrüßte etwa der jüdische Sozialist Walter Max Fabian neben vielen anderen das Sammlungsprojekt so nachdrücklich, dass kritischere Stimmen übertönt wurden.13

Zum einen glückte die Nähe zu den Exilierten besonders. So kam dem Projekt sehr zugute, dass sich der exilierte Publizist Wilhelm Sternfeld auf Eppelsheimers Seite stellte, der in Londoner Exilkreisen bestens vernetzt war und unter anderem das P.E.N.-Zentrum deutschsprachiger Autoren im Ausland mitprägte. Über 10 Jahre hinweg trug Sternfeld für die Frankfurter Sammlung Schriften, Viten und Profile der Exilierten zusammen und veröffentlichte 1962 eine umfangreiche Biobibliografie der Exilierten.14 Der damalige Leiter der Bibliothek des Deutschen Literaturarchivs in Marbach Paul Raabe glaubte in Sternfelds Veröffentlichung dann auch eine ganz eigene Frankfurter Ambition hinter der Exilliteratursammlung zu erkennen: Es ging hier nicht nur darum, so Raabe, zu Unrecht von den Nationalsozialisten marginalisiertes Schrifttum wieder demonstrativ in den Kulturvorrat Nachkriegsdeutschlands einzuspeisen. Die nach 1933 Zwangsexilierten sollten vielmehr im Licht des Frankfurter Exilarchivs und seiner Veröffentlichungen doppelt sichtbar werden: als Kollektiv der Entrechteten, aber mehr noch als gewichtige und ganz diverse intellektuelle Persönlichkeiten, die über das Kriegsende hinaus dauerhaft bedeutsam blieben. Die Frankfurter hielt Raabe daher für Pioniere.15 Genauso profitierte die Emigrantenbibliothek auch vom tatkräftigen Zuspruch des in Schweden exilierten Hamburger Juden und Literaturwissenschaftlers Walter A. Berendsohn. Zu diesem Zeitpunkt einer der renommiertesten Experten des literarischen Exils16 veräußerte Berendsohn 1953 seine Sammlung von etwa 160 Bänden Exilliteratur an die Frankfurter und stockte sie später noch um etwa 2000 handschriftliche Dokumente auf.17

Zum anderen allerdings gab es selbst im Falle von Berendsohn, mehr als es den Frankfurtern zeitgenössisch bewusst schien, deutliche Hinweise auf die engen Grenzen, in denen das Exil jenseits der Frankfurter Sammlungsinitiative im breiteren gesellschaftlichen Klima der jungen Bundesrepublik gewürdigt wurde. Zwar erhielt Berendsohn im gleichen Jahr 1953, in dem er die Frankfurter Sammlungsanfänge mit ermöglichte, seinen Grad als außerplanmäßiger Professor zurück, den die Nationalsozialisten ihm bereits 1933 aberkannt hatten – ebenso wie sie alle jüdischen oder politisch unerwünschten Forschenden diffamiert und aus ihren Positionen vertrieben hatten.18 Faktisch hielt man Berendsohn allerdings noch Jahrzehnte davon ab, seine akademische Arbeit vor Ort wiederaufzunehmen. Die Universität Hamburg rehabilitierte ihn erst ein Jahr vor seinem Tod in Schweden 1984.19 Damit blieb einem der wichtigsten Mitinitiatoren der Frankfurter Exilbibliothek die öffentliche Anerkennung in Westdeutschland noch fast 30 Jahre nach Kriegsende weitgehend versagt. Berendsohn blieb ein Fanal der auch in anderen Fällen missglückten Remigration.20

Selbst in der Binnengeschichte der Exilarchiv-Sammlung der Deutschen Bibliothek vor und nach 1965 waren demnach Momente zu erkennen, in denen die schwierigen Rezeptionsbedingungen des Exils und seiner Literatur in der Bundesrepublik deutlich durchschienen. Zum Selbstläufer machten die Emigrantenbibliothek und die späteren Ausstellungen der Exilliteratursammlung nicht einmal die vergleichsweise günstigen Gründungsprozesse.

Das Exilarchiv um 1965 als politischer Ort

Sammlungstechnisch konnte das Frankfurter Projekt der Emigrantenbibliothek in den 1950er-Jahren dennoch Fahrt aufnehmen. Der Aufruf des Schutzverbandes hatte unter einer ganzen Reihe von Exilierten einen Spendenrücklauf erzeugt, und seitdem die Deutsche Bibliothek 1952 als Stiftung öffentlichen Rechts finanziell gesicherter dastand, konnte sie auch zumindest in bescheidenem Umfang Exilliteratur ankaufen.21 Ab 1958 vertrat vor allem Werner Berthold die Sammlung. Er setzte alles daran, sie zum öffentlichen Aushängeschild der Deutschen Bibliothek zu machen und mit einem eindeutigen gesellschaftspolitischen Tenor zu versehen. Mit einem in der ersten Zeit eher übersichtlichen öffentlichen Echo: Zwar sollte die Ausstellung Exil-Literatur 1933–1945, die Ende Mai 1965 eröffnet werden konnte, bis 1970 an über 20 deutschen und ausländischen Ausstellungsorten gastieren.22 Noch berichteten die Medien darüber allerdings verhalten. Ihre öffentliche Rezeption blieb im Jahr ihrer Eröffnung 1965 zunächst hinter der Resonanz zurück, die spätere Ausstellungen des Exilarchivs erreichen sollten und damit auch hinter dem Ziel Bertholds und Kösters, die „demokratische Bewusstseinsbildung“ im Blick auf das deutsche Exil zu schärfen.

Im Licht der noch ganz anders gelagerten Diskurse über den NS und das Exil, die 1965 die Frankfurter und westdeutsche Öffentlichkeit okkupierten, wird deutlich, wie beschwerlich sich die ersten Schritte des Frankfurter Exilarchivs in die öffentliche Diskussion ihrer Tage gestalten mussten. Zeitgeschichtlich gesehen ist dies allemal bemerkenswert: Es zeigt sich in der Momentaufnahme von 1965 einmal mehr, wie sehr die Deutsche Bibliothek und besonders ihre Sammlung von Exilliteratur unmittelbar teilhatte an den Konjunkturen öffentlicher Diskurse über den NS und das Exil in der Bundesrepublik.

Dr. Helke Rausch ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Historischen Seminar der Universität Freiburg in der Abteilung Neuere und Neueste Geschichte. Sie beschäftigt sich im Rahmen eines zweijährigen Forschungsprojektes im Auftrag der Deutschen Nationalbibliothek mit der Geschichte der Deutschen Bibliothek Frankfurt am Main 1946 bis 1990.

Anmerkungen

  1. Im Gesetz über die Deutsche Bibliothek vom 31.03.1969 ist dies ebenso verankert wie im Gesetz über die Deutsche Nationalbibliothek vom 22.06.2006. Vgl. zum Exilarchiv v. a. Sylvia Asmus (Hg.), Exil. Erfahrung und Zeugnis / Exile. Experience and Testimony. Deutsches Exilarchiv 1933–1945 der Deutschen Nationalbibliothek, Göttingen 2019; Sylvia Asmus, Von der Emigrantenbibliothek zum Deutschen Exilarchiv, in: Claus-Dieter Krohn, Lutz Winckler (Hgg.), Bibliotheken und Sammlungen im Exil, München 2011, S. 166–178; zur Dauerausstellung vgl. <https://exilarchiv.dnb.de/DEA/Web/DE/Home/home.html>
  2. Werner Berthold (Hg.), Exil-Literatur 1933–1945: Ausstellung der Deutschen Bibliothek, Frankfurt a. M., Mai bis August 1965. Ausstellungskatalog, Frankfurt am Main 1965 (Sonderveröffentlichungen der Deutschen Bibliothek 1), 2. Auflage 1966, 3. erw. u. verb. Auflage 1967.
  3. Brita Eckert (Hg.), 35 Jahre Exilliteratur 1933–1945 in der Deutschen Bibliothek Frankfurt am Main: ein Beitrag zur Geschichte der Exilforschung in der Bundesrepublik Deutschland, Frankfurt am Main 1984. (Sonderveröffentlichungen der Deutschen Bibliothek 13), Sylvia Asmus, Brita Eckert, Vermittelte Erinnerung: zur Geschichte des Deutschen Exilarchivs und seiner Ausstellungen, in: Claus-Dieter Krohn, Lutz Winckler (Hgg.), Gedächtnis des Exils: Formen der Erinnerung, München 2010, S. 35–46.
  4. Kurt Köster, Werner Berthold, Die Sammlung von Exil-Literatur als Aufgabe einer Nationalbibliothek: Dargest. am Beispiel der Abteilung „Exil-Literatur 1933–1945“ der Deutschen Bibliothek in Frankfurt, in: M. Nadav, J. Rothschild (Hgg.) Essays and Studies in Librarianship, Jerusalem 1975, S. 134–145, S. 144. Der Text stammt den Autoren zufolge von 1970. Vgl. auch Werner Berthold, Sammlung und Erschließung deutscher politischer Exil-Literatur, in: Helmut Esters. Herbert Steiner (Hgg.), Widerstand, Verfolgung und Emigration 1933–1945, Bad Godesberg 1967, S. 37–58.
  5. Köster, Berthold, Sammlung von Exil-Literatur, S. 144–45.
  6. Köster, Berthold, ebd.
  7. Raphael Gross, Werner Renz (Hgg.), Der Frankfurter Auschwitz-Prozess (1963–1965) Kommentierte Quellenedition Frankfurt am Main, New York 2013; Jörg Osterloh, Katharina Rauschenberger (Hgg.), Der Holocaust. Neue Studien zu Tathergängen, Reaktionen und Aufarbeitungen, 2017; Tonbandmitschnitte des Auschwitz-Prozesses (1963–1965) <https://www.auschwitz-prozess.de/>.
  8. Norbert Frei, Vergangenheitspolitik. Die Anfänge der Bundesrepublik und die NS-Vergangenheit, 3. Aufl., München 2003; Werner Renz, Der 1. Frankfurter Auschwitz-Prozess 1963–1965 und die deutsche Öffentlichkeit. Anmerkungen zur Entmythologisierung eines NSG-Verfahrens, in: Jörg Osterloh, Clemens Vollnhals, NS-Prozesse und deutsche Öffentlichkeit. Besatzungszeit, frühe Bundesrepublik und DDR, Göttingen 2011, S. 349–62.
  9. Thomas Sparr, Sachs, Nelly, in: Andreas Kilcher (Hg.), Deutsch-jüdische Literatur, 2. Auflage, Stuttgart, Weimar 2012, S. 437–38.
  10. Nelly Sachs. Ansprachen anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels, Frankfurt am Main, in der Paulskirche am 17. Oktober 1965, hg. vom Börsenverein des Deutschen Buchhandels e. V., Frankfurt a. M. 1965.
  11. Werner Bergmann, „Wir haben Sie nicht gerufen“. Reaktionen auf jüdische Remigranten in der Bevölkerung und Öffentlichkeit der frühen Bundesrepublik, in: Irmela von der Lühe, Axel Schildt; Stefanie Schüler-Springorum, Einleitung, in: diess. (Hgg.). „Auch in Deutschland waren wir nicht wirklich zu Hause.“ Jüdische Remigration nach 1945, Göttingen 2008, S. 19–39.
  12. Claus-Dieter Krohn und Lutz Winckler (Hgg.), Exilforschungen im historischen Prozess, München 2012.
  13. Werner Berthold, Die Sondersammlung Exil-Literatur 1933–1945, in: Kurt Köster (Hg.), Die Deutsche Bibliothek 1945–1965, Frankfurt a. M. 1966, S. 136–48.
  14. Wilhelm Sternfeld, Eva Tiedemann (Hgg.), Deutsche Exil-Literatur 1933–1945: eine Bio-Bibliographie, Heidelberg 1962.
  15. Paul Raabe über Sternfeld, Deutsche Exil-Literatur, in: Zeitschrift für Bibliothekswesen und Bibliographie 12.2 (1965), S. 109–112.
  16. Walter A. Berendsohn, Die humanistische Front, Teil 1. Von 1933 bis zum Kriegsausbruch 1939, Zürich 1946 und Repr. 1978; Teil 2. Vom Kriegsausbruch 1939 bis Ende 1946, Worms 1976.
  17. Frank Wende, Die Emigrantenbibliothek, in: Hanns W. Eppelsheimer. 1890–1972. Bibliothekar, Literaturwissenschaftler, Homme de Lettres, Frankfurt a. M. 1990, S. 44–50.
  18. Claus-Dieter Krohn, Emigration 1933–1945/1950, in: Europäische Geschichte Online (EGO), hg. vom Institut für Europäische Geschichte (IEG), Mainz 2011-05-31, URL: <http://www.ieg-ego.eu/krohnc-2011-de> URN: <urn:nbn:de:0159-2011050975>.
  19. Doerte Bischoff, Die jüdische Emigration und der Beginn einer (trans-)nationalen Exilforschung: Walter A. Berendsohn, in: Auch an der Universität – Über den Beginn von Entrechtung und Vertreibung vor 80 Jahren, Hamburg 2014, S. 53–76.
  20. Monika Boll, Raphael Gross (Hgg.), „Ich staune, dass Sie in dieser Luft atmen können.“ Jüdische Intellektuelle in Deutschland nach 1945, Frankfurt a. M. 2013.
  21. Berthold, Exil-Literatur, S. 79; Mitteilung des Schutzverbandes deutscher Schriftsteller in der Schweiz an Mitglieder und Freunde, Zürich, November 1949; photografisch abgedruckt in: Eckert, 35 Jahre Exilliteratur 1933–45 in der Deutschen Bibliothek, S. 2–4.
  22. Werner Berthold (Hg.), Exil-Literatur 1933–1945: Ausstellung der Deutschen Bibliothek, Frankfurt a. M., Mai bis August 1965. Ausstellungskatalog, Frankfurt 1965 (Sonderveröffentlichungen der Deutschen Bibliothek 1), 2. Auflage 1966, 3. erw. u. verb. Auflage 1967. 
*Nachweis Beitragsbild auf der Startseite:DNB

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