Zurück in die Zukunft: Schriftgestaltung um 1800
Die Schriftgestalterin und -forscherin Petra Rüth (Berlin) ist häufig im Museumslesesaal anzutreffen. Hier entdeckte sie etwas Besonderes: den ersten variablen Font der Geschichte. Im Interview erzählt sie von der Entdeckung und ihren Forschungen zur Schriftgeschichte und Christian Gottlob Roßberg.
Seit längerer Zeit bist du immer mal im Museumslesesaal zu Gast. Was ist dein Forschungsinteresse? Was hat das mit der Sammlung des Buch- und Schriftmuseums zu tun?
Ich komme sehr gerne in den Museumslesesaal. Vor allem, um den älteren Bestand einzusehen und ganz besonders die Schreibmeisterbücher der Frühen Neuzeit. Ich habe Type Design studiert, das findet überwiegend im digitalen Umfeld statt. Als Schriftgestalterin habe ich aber ein besonderes Interesse an geschriebener Schrift. In meiner Forschung konzentriere ich mich auf Schriften des 16. bis 18. Jahrhunderts; das zentrale Thema ist für mich das Zusammenspiel von Fraktur, Kanzlei und Kurrent.
Dabei geht es mir besonders um die mittlere Gruppe der Kanzleischriften – ich möchte wissen, wo diese Schrift zu verorten ist. Die Schreibmeisterbücher ordnen die Buchstabenformen meist systematisch, manchmal sind sie de-konstruiert und/oder in Einzelschritte gegliedert. Damit kann man Veränderungen grundlegend nachvollziehen. Neben diesen charakteristischen Seiten findet man üppig verzierte Mustertexte, die den angedachten Einsatz der jeweiligen Schrift demonstrieren und das Schriftbild im Gesamteindruck zeigen.
Gibt es eine Entdeckung in unserem Bestand, die dich besonders beeindruckt oder überrascht hat?
Es gibt hier zahlreiche schöne alte Bücher … besonders die Handschriften empfinde ich als unvergleichlich kostbar und oft meisterhaft ausgeführt. Die signifikanteste Entdeckung war allerdings ein gedrucktes Buch, bzw. eine kleine Reihe aus zwei großformatigen Tafelbänden. Sie sind im Kupferstich vervielfältigt und begleiten drei Textbände im typografischen Satz. Christian Gottlob Roßberg aus Dresden hat sie 1793 veröffentlicht.
In seiner „Systematischen Anweisung zum Schön- und Geschwindschreiben“ hat er eine komplette Schriftfamilie mathematisch konstruiert, jeder einzelne Buchstabe wird aufgeschlüsselt. Die detaillierten technischen Zeichnungen haben mich vom allerersten Moment an beeindruckt. Ich wollte unbedingt verstehen, was das alles bedeutet – und wusste dabei nicht, auf was ich mich einlassen würde! Diese überraschende Entdeckung hat sich im Laufe der letzten Jahre zu meinem Forschungsprojekt entwickelt.
Was sind deine Pläne mit dem Projekt? Könnte man diese Buchstaben-Matrix von Roßberg nicht auch gut ins Digitale übertragen?
Die Überführung ins Digitale ist ein logischer Schritt, der in der heutigen Zeit eigentlich selbstverständlich ist. Und den bin ich auch konsequent angegangen: Für meine Diplomarbeit habe ich die Roßbergsche Fraktur als Prototyp gebaut – damals noch mit AutoCAD, was aber sehr statisch war. Während meiner Arbeit daran habe ich erkannt, wie systematisch und umfassend sein Ansatz tatsächlich ist.
Daher habe ich mir für mein Forschungsprojekt die Programmiersprache Python beigebracht, und seine komplette Schriftfamilie aus den vier Schnitten Fraktur, Kanzlei, Kurrent-Kanzlei und Kurrent umgesetzt. Basierend auf seinem mathematischen Konzept wird die Skelettlinie der Buchstaben exakt konstruiert. Anschließend generiert eine simulierte Federspitze die Außenkontur der Buchstaben, die dann interpoliert werden kann. Letztendlich wird Roßbergs Matrix mittels neuester Technologie zur Blaupause für einen Variable Font – den ersten Variable Font in der Geschichte.
Mehr zum Projekt von Petra Rüth erfahrt ihr auf ihrer Projektseite.
Christine Hartmann
Christine Hartmann ist verantwortlich für Ausstellungen und Öffentlichkeitsarbeit im Deutschen Buch- und Schriftmuseum der Deutschen Nationalbibliothek.