Tetiana Pylypchuk über „Antitext“ und Zensur

4. Juli 2025
Das Interview führteChristine Hartmann

Mit „Antitext“ zeigt das Deutsche Buch- und Schriftmuseum der Deutschen Nationalbibliothek vom 1. bis 31. Juli 2025 eine Ausstellung des Literaturmuseums Charkiw (Ukraine). Die Ausstellung thematisiert die Konsequenzen von Zensur und Verbot literarischer Texte für die kulturelle Identität einer Gesellschaft. Zu den Inhalten und dem Konzept der Ausstellung haben wir mit Tetiana Pylypchuk gesprochen.

Wie entstand die Idee zur Ausstellung „Antitext“?

Die Idee für die Ausstellung entstand aus der Notwendigkeit heraus, der Welt zu erklären, dass die tragischen Ereignisse, die seit 2014 in der Ukraine stattfinden, kein lokaler Konflikt und kein Bürgerkrieg sind. Es handelt sich um einen bewaffneten Angriff Russlands auf die Ukraine: einen Angriff der ehemaligen Metropole auf Gebiete, die sie als ihr Eigentum betrachtete (und immer noch betrachtet). Eines der Merkmale der Kolonialisierung ist die Kontrolle über die Repräsentation der Gemeinschaft. Und Russland hat über mehrere Jahrhunderte hinweg große Anstrengungen unternommen, um die Repräsentation der Ukraine zu kontrollieren, vor allem durch die Kultur (und Literatur).

Unsere Ausstellung ist mehr als nur eine Ausstellung über die Zensur in der Sowjetunion. Es ist eine Ausstellung über die Mechanismen, die Russland eingesetzt hat und weiter einsetzt, um den kulturellen Raum in der Ukraine zu kontrollieren. Diese Ausstellung handelt auch davon, wie sich die Unkenntnis über die Texte der eigenen Kultur auf eine Gemeinschaft auswirken kann. Wie unabhängig kann ein Land sein, dessen Kultur von einem anderen Staat kontrolliert oder von dessen Interessenpolitik gelenkt wird? Als Teil der Sowjetunion hatte die Ukraine keine Möglichkeit, ihre Kultur (bis auf die Folklore) und damit ihre Gemeinschaft frei zu entwickeln, sie hatte keine Möglichkeit, sich zu äußern. Nach der Erlangung der Unabhängigkeit im Jahr 1991 brauchten wir Zeit, um unsere eigene Stimme wiederzufinden und der Welt unsere eigenen Geschichten zu erzählen. Dabei spielte die Erforschung der ukrainischen Kultur und Identität eine wichtige Rolle. Für mich wurde die Ukraine nach der Revolution der Würde  2014 tatsächlich unabhängig – diese Revolution bekräftigte das Recht der Einwohner der Ukraine auf ihr eigenes Land. Deshalb hat Russland 2014 den Krieg begonnen, weil es nun endgültig feststellte, dass es die Kontrolle über uns verloren hatte.

Іn der Sowjetunion im Kulturbereich wurde die russische Dominanz (Leitkultur) kultiviert, die nationale Kulturen nur im Rahmen von Folklore zuließ. Diese Politik ist heute weiter Staatspolitik in Russland. Die Grundlage unserer Museumssammlung bilden Materialien, die in der Sowjetunion verboten waren: Die sowjetischen Behörden vernichteten sie, aber die Ukrainer konnten einen Teil verstecken und damit für die Zukunft bewahren,  um sie zu bewahren. Als das Museumsteam Anfang 2022 die Sammlung für die Evakuierung vorbereitete, dachten wir darüber nach, dass all diese Museumsgegenstände länger versteckt waren, als wir, die Ukrainer, sie benutzt hatten. Wie hat sich das auf uns als Gemeinschaft, auf unser kulturelles Gedächtnis ausgewirkt? Und wir dachten, dass es wichtig ist, die Geschichten der verbotenen Gegenstände zu erzählen, da diese Geschichten die Gründe für den aktuellen Krieg Russlands gegen die Ukraine – der auch ein Krieg gegen die ukrainische Kultur ist – beleuchten können.

Das erste Mal packten wir die Museumsgegenstände schon 2014 für den Abtransport, aber damals konnte sich Charkiw vor Zerstörungen und Besetzung schützen. Unsere Stadt liegt 40 km von der Grenze zu Russland entfernt und wird seit dreieinhalb Jahren praktisch täglich von der russischen Armee bombardiert, sodass es gefährlich ist, die Museumssammlung hier zu lassen. Deshalb sind wir heute erneut gezwungen, unser kulturelles Erbe zu verstecken.

Tetiana Pylypchuk. Foto: Eddie van Wessel

Wie erfolgten die Recherchen?

Das Literaturmuseum in Charkiw wurde 1988 gegründet, als die Welt enorme politische und kulturelle Umwälzungen erlebte. In der Sowjetunion war das die Zeit von Glasnost und Perestroika. Damals erlangten viele osteuropäische Länder ihre Unabhängigkeit, die Berliner Mauer fiel. Und dann tauchten in unserem Informationsraum viele Informationen über in der Sowjetunion zensierte Materialien auf. Unser Museum konzentrierte sich sofort auf die Sammlung von Materialien, die sich mit verbotener Literatur befassten. Wir verfügen über eine schöne Sammlung von Museumsstücken aus den 1920er Jahren (auch bekannt als „Erschossene Renaissance“, weil die meisten Schriftsteller und Künstler dieser Periode später hingerichtet wurden), der ukrainischen Widerstandsbewegung der 1960er bis 1980er Jahre und der Samizdat-Bewegung (ukrainisch – Samwydaw-Bewegung) der späten 1980er bis frühen 1990er Jahre. Seit der Gründung des Museums erforschen wir diese Materialien. Wir begannen mit Recherchen: Wir arbeiteten mit Familienarchiven von Schriftstellern, ehemaligen Archiven der Geheimdienste, Spezialarchiven usw. Anhand der gefundenen Materialien rekonstruierten wir unsere eigene Version der Literaturgeschichte, untersuchten die Mechanismen der Schaffung von Kultur unter totalitären Bedingungen und boten unsere Interpretationen der Vergangenheit an.

Für die Ausstellung „Antitext“ haben wir die repräsentativsten Geschichten ausgewählt. Jede Geschichte ist viel komplexer als ihre propagandistische Version. Und Museumsausstellungen neigen in der Regel zu einer transparenten Darstellung. Wir haben versucht, unsere Botschaft verständlich zu machen, ohne dabei die Komplexität der ukrainisch-russischen Geschichte aus den Augen zu verlieren. Deshalb gibt es in der Ausstellung neben Schwarz und Weiß auch Grau – die Farbe der zweideutigen Entscheidungen, wenn beispielsweise Schriftsteller unter dem Druck des Systems zustimmten, ihre Freunde zu denunzieren (und diese Denunziationen werden nun von Forschern zur Rekonstruktion der Geschichte verwendet), oder Beispiele für Selbstzensur, Konformismus usw. Diese Beispiele sind in der Ausstellung zu sehen.

Einblick in die Ausstellung. Foto: DNB / Carl Götz

Wie geht das Literaturmuseum Charkiw mit diesen „Anti-Texten“ um? Werden sie gesammelt und erschlossen bzw. welchen Auftrag hat das Museum in diesem Kontext?

Leider kann das Museum derzeit nicht direkt mit den Museumsstücken arbeiten, weil unsere Sammlung evakuiert wurde und uns damit nicht für die Arbeit zur Verfügung steht. Aber jedes Museum bewahrt nicht Gegenstände, sondern Erfahrungen und Bedeutungen, die in diesen Gegenständen stecken. Unser Museum arbeitet aktiv mit zeitgenössischen Künstlern zusammen, um durch die Kunst zu verstehen, wie die Erfahrungen der Vergangenheit in unsere Gegenwart integriert werden können, was uns als Gesellschaft helfen wird zu bestehen, wie wir unsere tragischen Erfahrungen reflektieren und in einer Erinnerung festhalten können, die in Museen bewahrt wird. So diskutieren wir heute viel darüber, ob wir eine neue „Erschossene Renaissance“ erleben. Dieses Thema kam auf, nachdem das Tagebuch des im Frühjahr 2022 von den Russen erschossenen Kinderbuchautors Volodymyr Vakulenko in unser Museum gelangt war. Volodymyr blieb in Izyum (Region Charkiw) unter Besatzung, da er wegen seines kranken Sohnes nicht evakuiert werden konnte. Bis zur Aufdeckung der Verbrechen in Butscha, bis zu den Fotos der Massengräber in Izyum (wo auch die Leiche von Volodymyr unter der Nummer 319 gefunden wurde), konnten sich die Ukrainer nicht einmal vorstellen, dass so etwas in der heutigen Welt möglich ist – Menschen nur wegen ihrer nationalen Zugehörigkeit zu erschießen. Für uns ist es wichtig, dass all diese Fälle international juristisch aufgeklärt werden. Wir Ukrainer leben in einer inklusiven Gesellschaft, nicht ohne Probleme, aber insgesamt sind wir in der Lage, andere zu verstehen und zu akzeptieren, wenn diese anderen keine Bedrohung darstellen. Aber im aktuellen Kontext des Krieges ist jedoch der Begriff „Feind” relevant geworden.  Unser Feind ist sehr hinterhältig, Russland nutzt die Kultur als Propagandainstrument, daher wird der Krieg auch im Informationsbereich geführt. Ukrainische Museen stehen ständig vor der Frage, wie sie den aktuellen Krieg reflektieren können, ohne dass in der Zukunft Erfahrungsdefizite entstehen (der deutschen Gesellschaft sollte das verständlich sein). Wir befinden uns derzeit in einer Situation, in der wir einerseits die Komplexität der Realität erkennen können, andererseits aber, wenn nach der Bombardierung eines Parks am helllichten Tag unsere Freiwillige, die 18-jährige Künstlerin Veronika Kozhushko, ums Leben kommt, die Welt schwarz-weiß erscheint und die Logik einfache Antworten gibt: Man darf keine Menschen töten, die keine Gefahr darstellen. Denn die Ukraine war vor dieser Invasion keine militärische Bedrohung für Russland und konnte es auch nicht sein. Nach dem Tod von Veronika (Nika) hat unser Museum den Preis „Generation Nika” für junge ukrainische Künstler ins Leben gerufen. Das ist unsere Art, an die tragischen Ereignisse zu erinnern.

Wie ist die aktuelle Lage für das Literaturmuseum und für Autor*innen in der Ukraine allgemein?

Obwohl unsere Sammlung evakuiert wurde, bleibt das Museum in Charkiw. Für uns ist es wichtig, Teil der Stadt zu sein und mit unserem Land ein Leben zu führen. Wir organisieren Ausstellungen mit zeitgenössischen Künstlern, die ebenfalls in der Stadt geblieben sind, und veranstalten verschiedene Events an sicheren Orten (hauptsächlich in Kellern). So haben wir gerade die Dialogplattform „Stadt an der Frontlinie“ ins Leben gerufen, auf der wir für Charkiw wichtige Themen diskutieren – wie sich die Stadt im Kontext des Krieges verändert, wie inklusiv unsere Stadt ist, die Körperlichkeit des Krieges, Dekolonialisierungsprozesse und vieles mehr. Das Museum kann sich seine Zukunft nicht ohne die Zukunft der Stadt vorstellen.

Am 1. März dieses Jahres wurde unser Museumsgebäude durch eine Explosionswelle beschädigt. Derzeit versuchen wir, die Schäden zu beseitigen. Parallel dazu starten wir das Projekt „Laboratorium der Träume”: Wir wollen untersuchen, wie unser kulturelles Erbe uns beeinflusst und wie wir als Museum mit den schweren Erfahrungen der Gegenwart umgehen können.  

Was die Schriftsteller betrifft, so entsteht heute viel Poesie. Das ist verständlich, da Poesie mit starken Emotionen und unmittelbaren Reflexionen arbeitet. In turbulenten Zeiten werden immer Gedichte geschrieben. Es gibt auch eine Kriegsveteranenliteratur – ein Versuch derjenigen, die heute kämpfen, ihre einzigartigen Erfahrungen zu verarbeiten. Die Ukrainer haben angefangen, viel mehr Bücher zu kaufen. Mehr, als sie lesen können. Gefragt sind ukrainische Klassiker, Bücher zur ukrainischen Geschichte und Übersetzungen ausländischer Werke ins Ukrainische. Ich glaube, das ist ein unbewusster Wunsch, die Darstellung des eigenen Landes unter Kontrolle zu bringen. In Charkiw werden neue Buchhandlungen eröffnet, es finden Literaturfestivals statt (wie im ganzen Land), viele Menschen besuchen literarische Veranstaltungen. Kultur wird als wichtiger Bestandteil des Lebens wahrgenommen, nicht nur als Unterhaltung, sondern als Grundlage psychologischer und sozialer Konstrukte, von denen die Sicherheit abhängt. Deshalb ist seit Beginn des Krieges eine neue Welle des kulturellen Aufschwungs zu beobachten – in den großen Städten sind Theater und Ausstellungen überfüllt, wir erleben einen Boom sowohl im Theater als auch in der Musik und der bildenden Kunst. Für die Ukraine ist Kultur ein sehr wichtiger Bestandteil des sozialen und persönlichen Lebens. Denn einerseits geht es in diesem Krieg auch um das Recht auf ukrainische Identität, also auf eine eigene, eigenständige Kultur. Andererseits ist genau diese Kultur im weitesten Sinne die Quelle des unglaublichen militärischen und zivilen Widerstands, den wir heute in der Ukraine beobachten.

Einblick in die Ausstellung. Foto: DNB / Carl Götz

Die Ausstellung ist bereits weit gereist und wird weiterreisen. Welche Stationen hatte sie bereits und welche weiteren sind geplant?

Die ukrainische Version der Ausstellung wurde erstmals in Lviv im Museum „Tyurma na Lontskoho“ (ehemaliges Gefängnis für politische Häftlinge der Sowjetunion) gezeigt. Die Ausstellung war auch in Iwano-Frankiwsk und Charkiw zu sehen. Trotz der Vertrautheit der Ukrainer mit diesem Thema war es uns wichtig, es im Kontext des groß angelegten Angriffs Russlands zu beleuchten. Da die Mittel für diese Ausstellung von deutschen Gemeinden gesammelt wurden (der langjährige Freund unseres Museums, der deutsche Schriftsteller Michael Zeller, half dabei), erschien es uns wichtig, sie auch in Deutschland zu zeigen. Denn auch in der deutschen Kultur gibt es zahlreiche Antitexte, und unsere Erfahrungen sind nachvollziehbar. Wir haben viel gemeinsam zu erforschen.

Die Ausstellung war in Köln (Deutsch-Ukrainisches Festival Immer wieder Aufbruch), in Graz (an der Universität Graz, Österreich,  im Rahmen der Jahreskonferenz und Generalversammlung der Österreichischen Slawistenvereinigung im vergangenen Jahr), in Berlin (im Ausstellungsraum Hotel Continental – Art Space in Exile im Jahr 2024) sowie in diesem Jahr an der Humboldt-Universität zu Berlin.

Es ist auch geplant, die Ausstellung in Greifswald in der Bibliothek der Universität Greifswald zu zeigen. Wir haben noch eine Reihe von Kontakten zu deutschen Universitäten und sind sehr daran interessiert, unsere Zusammenarbeit mit Institutionen auszubauen. Insbesondere um deutsche Organisationen und Wissenschaftler für die Erforschung der ukrainischen Literatur zu gewinnen, die unserer Meinung nach ein wichtiger Bestandteil der europäischen Kultur war und ist. Wir würden uns daher sehr freuen, deutsche Initiativen zu unterstützen und gemeinsame ukrainisch-deutsche Projekte zu realisieren.

Wir sind allen Institutionen sehr dankbar, die Interesse und Solidarität mit der Ukraine zeigen und uns helfen, Antitext einem deutschen Publikum vorzustellen. Bei dieser Gelegenheit danken wir herzlich der Deutschen Nationalbibliothek und dem Deutschen Buch- und Schriftmuseum in Leipzig für die Möglichkeit, unsere Geschichte hier zu zeigen.

Tetyana Pylypchuk

Tetyana Pylypchuk ist Direktorin des Literaturmuseums Charkiw. Sie erforscht die ukrainische Literatur der 1920–1930er Jahre sowie aktuelle Formen der Literaturvermittlung. Seit 1993 ist sie im Museumsbereich tätig, kuratierte zahlreiche Ausstellungen und Veranstaltungen und schult seit 2013 Museumskurator*innen. Seit 2017 arbeitet sie am Aufbau einer modernen Museumsinfrastruktur.

*Nachweis Beitragsbild auf der Startseite:Foto: Eddie van Wessel

Schreibe einen Kommentar

Kommentare werden erst veröffentlicht, nachdem sie von uns geprüft wurden.
Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.

Über uns

Die Deutsche Nationalbibliothek ist die zentrale Archivbibliothek Deutschlands.

Wir sammeln, dokumentieren und archivieren alle Medienwerke, die seit 1913 in und über Deutschland oder in deutscher Sprache veröffentlicht werden.

Ob Bücher, Zeitschriften, CDs, Schallplatten, Karten oder Online-Publikationen – wir sammeln ohne Wertung, im Original und lückenlos.

Mehr auf dnb.de

Schlagwörter

Blog-Newsletter

In regelmäßigen Abständen erhalten Sie von uns ausgewählte Beiträge per E-Mail.

Mit dem Bestellen unseres Blog-Newsletters erkennen Sie unsere Datenschutzerklärung an.

  • ISSN 2751-3238