Unsichtbare Autor:innen

17. Februar 2025
von Stephan Pabst (Projektleitung), Jana Mende (Forschungsdesign, Auswertung), Karin Wallner (Datenabfragen)

Im Rahmen des HERMES-Forschungsstudienprogramms unterstützt die DNB Forschungsprojekte auf Basis ihrer Daten und Bestände, die mit Methoden des Text- und Data-Minings bearbeitet werden. Die Stipendien richten sich dabei vor allem an junge technikaffine Forschende aller Fachgebiete, die sich bereits mit Methoden und Instrumenten der Digital Humanities beschäftigt und praktische Erfahrungen auf dem Gebiet gesammelt haben. Im folgenden Blogbeitrag stellt Prof. Dr. Stephan Pabst seine Studie vor:

Das Projekt war literaturwissenschaftlich angelegt. Uns interessierte, welche quantitative
Bedeutung anonyme Publikationspraktiken für die Literatur des 20. und 21. Jahrhunderts
haben. Auktoriale Anonymität schien lange Zeit lediglich aus einer quasikriminalistischen
Perspektive von Interesse zu sein: Who’s done it. Das hat sich in gewisser Weise mit der
poststrukturalistischen Literaturtheorie geändert, die mit der Differenz zwischen Anonymität
und Onymität eines Textes Fragen der Legitimität und der Funktion von Autorschaft verband.
Allerdings ist in diesem Theoriezusammenhang die paratextuelle Praxis der Anonymität nie
systematisch untersucht worden. Das änderte sich erst in den vergangenen 20 bis 30 Jahren, in
denen die ersten Untersuchungen zu gender-, epochen- oder gattungsspezifischen Praktiken,
Strategien und Programmatiken der Anonymität erschienen.

Viele dieser Arbeiten beruhen auf impliziten quantitativen Annahmen, die besagen, dass die
Bedeutung von Anonymität im 18. Jahrhundert in der Wissenschaft zu- und in der Literatur
abnimmt, dass die Nennung des Autors in literarischen Paratexten im späten 18. und frühen 19.
Jahrhundert normalisiert wird, dass im 18. und 19. Jahrhundert v.a. Frauen anonym publizieren
oder dass die Bedeutung der Anonymität auch im 19. Jahrhundert v.a. für autobiographische
Schriften hoch bleibt. Wirklich belegt wurden diese implizit quantifizierenden Aussagen
eigentlich nie.

Das – sehr kleine – Pilotprojekt hat sich die Frage gestellt, ob solche Aussagen anhand der
Abfrage von Bibliotheksmetadaten der DNB für das 20. und 21. Jahrhundert belegt werden
können. An sich enthalten diese Daten sehr viel von dem, was dafür notwendig wäre: Titeldaten,
Verfasserdaten, Sachgruppen, GND-Systematiken etc. Es müsste also nicht nur möglich sein,
das Aufkommen anonymer Publikationen zu quantifizieren, sondern diese Daten mit anderen
Informationen zur Gattung, zum Sachgebiet, zur Erscheinungszeit und – im Fall nachträglich
ermittelter Autorschaften – unter Umständen auch mit Informationen zum Geschlecht des
Autors bzw. der Autorin zu verknüpfen.

In einem ersten Anlauf erwiesen sich diese Hoffnungen als etwas zu optimistisch. Die
unterschiedlichen Verzeichnungsrichtlinien sind in sich bereits heterogen, und die
Verzeichnungspraxis ist es um so mehr. Das fehlende Datum des Autornamens kann erstens,
wenn überhaupt, sehr unterschiedlich markiert werden als „anonym“, „Anonymous“, „anonymus“, „Anonyma“, „anonimo“ etc. Wir sind auf über 50 solcher Verzeichnungsvarianten
gestoßen. Zweitens gibt es keine zuverlässige Bezeichnung nachträglich ermittelter
Autorschaften. Der nachträglich ermittelte Autor tritt dann an die Stelle des Verfassers, so dass
sich der ursprünglich anonyme Text in einen onymen verwandelt. Nur in einzelnen Fällen findet
man dann in den „weiteren Anmerkungen“ noch einen Hinweis auf die Nachträglichkeit dieser
Information. Der Unterschied zwischen paratextueller und faktischer Anonymität lässt sich im
Katalog offenkundig nur schlecht systematisch berücksichtigen. Die GND-Gruppe 12.2b
„Anonyme literarische Werke“ schließlich enthält auch Werke, deren Verfasser bekannt sind,
aber nicht alle, die anonym erschienen sind.

Unter diesen Vorbehalten stehen die Abfragen, die etwa mit dem Suchwort „anonym*“ in Titel,
Personenfeld, Kommentarfeld, die 18.840 Treffer ergab. Beschränkt man das auf das Feld
„Person“ sind es noch 8.728 Treffer, bei denen es sich (möglicherweise) um Autoren bzw.
Autorinnen handelt. Schränkt man das durch den Filter „Belletristik“ wiederum auf das Feld
eigentlich literarischer Texte ein, die hier interessierten, kommt man noch auf 1.924 Treffer. In
der Menge dieser belletristischen Titel zeigt sich, dass Anonymität v.a. für pornographische
Literatur eine bedeutende Rolle spielt. Im zeitlichen Verlauf der gesamten anonymen
Publikationen deutet sich wenigstens an, dass die Entstehung von digitalen self-publishing-
Verlagen einen erheblichen Einfluss auf den Anstieg anonymer Publikationen hat. Der Anteil
literarischer Texte (im Sinne der DD-Systematik) am gesamten Aufkommen anonymer
Publikationen liegt bei etwa 25%.

Stephan Pabst

Prof. Dr. Stephan Pabst ist Professor für Neuere und neueste deutsche Literaturwissenschaft an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg.

*Nachweis Beitragsbild auf der Startseite:HERMES, bearbeitet von Friedrich Quaasdorf

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