Was bleibt?
Vor- und Nachlässe im Deutschen Buch- und Schriftmuseum
Die Vor- und Nachlässe[1] bilden schon von ihrer Konzeption her einen besonderen Sammlungsteil im Deutschen Buch- und Schriftmuseum (DBSM), da sie nicht an einer bestimmten Mediengattung orientiert sind, sondern an einer Person als Schöpferin – wenn nicht aller enthaltenen Stücke, so doch zumindest der Sammlung als zusammengestelltes Ensemble. Dementsprechend stellen sie sich als kleine Museen in nuce dar, sowohl was die Vielfalt der möglichen Objekte angeht als auch in Bezug auf die verschiedenen Ordnungsprinzipien, die von Nachlasserin zu Nachlasser variieren und bei Übernahme durch das DBSM in der Regel nicht aufgelöst werden.
Erste Nachlässe
Auch wenn sie heute auf reges öffentliches Interesse bei Forschern und Designern treffen, sind Vor- und Nachlässe erst seit verhältnismäßig kurzer Zeit regelmäßig unter den Zugängen vertreten und in ihrer Besonderheit wertgeschätzt. Während von Nachlässen im Buchgewerbemuseum der Vorkriegszeit nichts bekannt ist, steht für die Nachkriegszeit fest, dass Vor- und Nachlässe öfters nach Mediengattungen auf die einzelnen Sammlungen aufgeteilt wurden, so bspw. in den 1970ern das v.a. auf Holzschnitt konzentrierte Werk des später ausgereisten DDR-Grafikers Johannes Lebek (1901–1985). Erst ab Mitte der 1990er ist ein veränderter Umgang sichtbar.
Der früheste heute nachvollziehbare Zugang ist Anfang der 1950er Jahre der Nachlass des Leipziger Grafikers und Schriftgestalters Walter Tiemann (1876–1951), einer der bedeutendsten deutschen Buchkünstler des frühen 20. Jahrhunderts, der u.a. die erste Privatpresse der deutschen Buchkunstbewegung (die Janus-Presse) begründete und später als Direktor der Königlichen Akademie für Grafik und Buchgewerbe (heute HGB Leipzig) vorstand. Der Haushalt wurde von seiner Schwester aufgelöst und der Nachlass zunächst an die HGB übergeben, von wo er an das Museum gelangte.
Ebenfalls aus der Frühzeit des wiederaufgebauten Museums stammt der Nachlass seines langjährigen Direktors Hans-Heinrich Bockwitz (1884–1954), der besonders zur Papiergeschichte wertvolle Forschungsbeiträge lieferte.
Sammlungszugänge in der DDR
In den 1960er Jahren kommt zum einen der Nachlass des böhmischen Grafikers Karl Stratil (1894–1963) durch dessen Witwe ins Haus. Stratil trat in der Zwischenkriegszeit v.a. durch Buchillustrationen und durch seine enge Zusammenarbeit mit Reclam hervor. Wie damals üblich, wird der Bestand gemäß den Mediengattungen auf verschiedene Sammlungen verstreut und liegt heute nur noch in einem Teilnachlass geschlossen vor, obwohl dieser ab 2012 durch Erwerbungen von den Töchtern wieder erweitert wurde. Zum anderen übergibt ab 1965 der Leipziger Grafiker Erich Gruner (1881–1966), bekannt besonders durch seine Arbeiten für die Leipziger Messe (z.B. das Signet des doppelten Messe-M), seine Arbeiten als Vorlass. 1978 werden diese von der Familie durch weitere Stücke aus dem Nachlass ergänzt.
1984 folgt der Nachlass des Leipziger Buchgestalters Egon Pruggmayer (1905–1983), der zahlreiche Arbeiten für den Insel Verlag, aber auch für Reclam, Felix Meiner u.a., ausführte. Pruggmayers Nachlass sollte eigentlich an seine Lebensgefährtin nach München gehen, wird jedoch an der Grenze konfisziert, von der Firma Wendt erworben und an das Museum weiterverkauft. Die Lebensgefährtin erhält in den frühen 1990er Jahren persönliche Briefe aus dem Nachlass zurück und überlässt den restlichen Bestand der DNB.
Vor- und Nachlässe ab 1990
Erst ab Mitte der 1990er Jahre ist, wohl unter einer veränderten Einstellung zu Nachlässen als besonderem Sammlungstyp, ein stärkerer Zugang zu verzeichnen. Am Anfang dieser Tendenz steht der Nachlass von Albert Kapr (1918–1995), des wohl bedeutendsten Schriftgestalters der DDR, der 1955 das Institut für Buchgestaltung an der HGB begründete, dort lange Jahre als Rektor amtierte und zudem als künstlerischer Leiter im VEB Typoart Dresden wirkte. Hinzu kommen 1995/96 Materialien der Buchbinderin und HGB-Dozentin Elisabeth Altmann (1919–1996), die kurz vor und nach ihrem Tode erworben werden, sowie 1998 einige exemplarische Materialien zum Buchbindergewerbe, in Form von Lebensdokumenten von Franz Walther (1888–1962).
Seit dem Jahr 2000 befindet sich der Nachlass des Leipziger Grafikers und Buchgestalters Karl-Heinz Birkner (1919–1995), bekannt durch Illustrationen für zahlreiche Zeitschriften sowie Wir kochen gut, das meistverkaufte Kochbuch der DDR, im Museum. Als Leihgabe der Birkner-Stiftung, welche auch die Erschließung dieses und anderer Nachlässe besorgte, stellt er zwischen den ansonsten erworbenen Nachlässen im Museum einen Sonderfall dar.
Der Grafiker, Typograf und Medailleur Axel Bertram (1936–2019) übergibt ab 2001 seine Werke und Lebensdokumente Stück für Stück als Vorlass der DNB, wo sie auf seinen Wunsch als Archiv Axel Bertram geführt werden. Bertram war einer der produktivsten Illustratoren der DDR, arbeitete für zahlreiche Zeitschriften, gestaltete eine Reihe von Münzen für die Staatsbank der DDR und stand als Vizepräsident dem Verband Bildender Künstler der DDR vor.
Auf den Teil-Nachlass der Kinderbuch-Illustratorin und Malerin Lieselotte Schwarz (1930–2003) folgt 2004 als Schenkung der Nachlass des Buch- und Schriftgestalters Hans Peter Willberg (1930–2003), u.a. Gründer des Forum Typografie, Geschäftsführer der Stiftung Buchkunst und Entwickler der DIN-Schriftklassifikation. Als vielleicht bedeutendster Typograf der alten Bundesrepublik trat er nach der Wende in Dialog mit Albert Kapr. Mit diesen Ergänzungen erweiterten sich die Museumsbestände zu einem zunehmend gesamtdeutschen Profil. Die Sammlung wird über die Jahre von seiner Frau Brigitte Willberg (1934–2020) ergänzt und enthält auch ein kleineres Konvolut zu ihrem Wirken als Grafikerin.
Diese Erweiterung des bisherigen Spektrums wird 2006 noch akzentuiert durch den Erwerb des Nachlasses des Typografen Jan Tschichold (1902–1974), der in Leipzig studierte, in München lehrte und vor den Nazis in die Schweiz emigrierte. Die bahnbrechende Wirkung seiner Neuen Typografie brachte die Bauhaus-Moderne in den Mainstream der Schriftgestaltung. Aus seiner späteren Hinwendung zu klassischen Formen ging die berühmte Sabon hervor. Tschichold wirkte auch in England, zwar kurz, jedoch mit den Penguin Composition Rules mit nachhaltigem Einfluss (siehe das Kapitel in diesem Buch).
Das Feld der Illustration wird 2007 dann durch die ersten Teile des Vorlasses von Hans Ticha (*1940) erweitert, dem 2020 der größte Teil seines bei ihm erhaltenen grafischen Werks folgt. Ticha, der mit seinem glatten, geometrischen, oft mit Pop-Art verglichenen Stil ein Einzelgänger in der DDR-Kunst war, illustrierte zahlreiche Bücher und Zeitschriften. 2009 kann das Museum zudem den Nachlass des Leipziger Illustrators Hans-Joachim Walch (1927–1991) gewinnen, der über viele Jahre als Herstellungs- und künstlerischer Leiter für den Insel Verlag tätig war; 2011 dann einen „Splitternachlass“ der Illustratorin und Malerin Rosemarie Kaufmann-Heinze (1948–1998).
Ebenfalls 2011 kommen Unterlagen und Arbeitsmaterialien von Walter Schiller (1920–2008) ins Haus, der in enger Zusammenarbeit mit Kapr an der HGB zu Buchgestaltung und Typografie gewirkt hat und u.a. an zahlreichen Schönsten Büchern der DDR mitwirkte. 2013 folgen die Illustrationsvorlagen aus dem Nachlass des Grafikers und Malers Robert Diedrichs (1923–1995), der nach Studium in Dresden v.a. in Karl-Marx-Stadt wirkte; 2014 dann Drucke, Illustrationsvorlagen und Holzstöcke der Grafikerin und Dozentin Christa Jahr (*1941). Als weiterer „Splitternachlass“ gelangen 2015 über dessen Tochter Arbeiten zum Maler und Kunstgewerbelehrer Paul Kreher (1895–1969) ins Haus.
Seit 2016 wird der Bestand an DDR-Illustration durch zwei Vorlässe bereichert: zum einen mit Egbert Herfurth (*1944), der mit zahllosen Buchillustrationen (bspw. zu Franz Fühmann) und Plakatgestaltungen in und außerhalb Deutschlands bekannt geworden ist; zum anderen mit Gert Wunderlich (*1933), der ebenso über Jahrzehnte mit Buchillustrationen, Plakaten und Schriftgestaltung in Erscheinung trat, u.a. als häufiger Juror für die Schönsten Bücher der DDR und Wegbereiter der Maxima, einer der häufigsten DDR-Schriften. Im selben Jahr wird vom Grafiker und Maler Felix M. Furtwängler (*1954) nach Auflösung seines Berliner Ateliers ein Konvolut seiner Arbeiten erworben.
2017 folgen Teile der Nachlässe der Schriftgestalterin Irmgard Horlbeck-Kappler (1925–2016), die lange Jahre an der HGB Kalligraphie unterrichtete, sowie ihres Mannes, des Malers und Grafikers Günter Horlbeck (1927–2016), ebenfalls Professor an der HGB – in beiden Fällen weitergegeben vom Freistaat Sachsen, dem testamentarisch bestimmten Erben. Dazu kommt der illustratorische Nachlass von Volker Wendt (1945–2016), ebenfalls als künstlerischer Mitarbeiter der HGB verbunden. Außerdem finden kleinere Teile des Nachlasses des Grafikers Horst Hussel (1934–2017), der zahlreiche Bücher und Zeitschriften der DDR illustrierte, über dessen Tochter ihren Weg in die Bestände.
Von geringem Umfang, aber mit besonderem Bezug zum Museum ist der Splitternachlass des Buchwissenschaftlers und Grafikers Fritz Funke (1920–2018), der 30 Jahre lang Direktor des Buch- und Schriftmuseums war. Im Jahr 2018 folgen Dokumente und Arbeiten des Grafikers Rudolf Uhlisch (1926–2017), übergeben von seinem Sohn. Auch Uhlisch war mit Buchgestaltung befasst, jedoch auch vielfach als Gebrauchsgrafiker tätig, u.a. für die Raumgestaltung auf der Leipziger Messe.
Die jüngsten Ergänzungen schließlich bilden seit 2019 ein Konvolut der sächsischen Buchbinder-Familie Röllig mit verschiedenen Lebens- und Geschäftsdokumenten, überwiegend aus dem 19. und frühen 20. Jahrhundert, sowie der Nachlass der Schriftgestalterin Hildegard Korger (1935–2018), die ebenfalls lange Jahre an der HGB lehrte und mit ihren kalligraphischen Arbeiten auf mehreren Kunstausstellungen der DDR vertreten war. Hier sind auch zum ersten Mal in größerem Maße elektronische Aufzeichnungen präsent.
Dieser Beitrag ist ein Kapitel aus der Publikation „Tiefenbohrung. Eine andere Provenienzgeschichte“. Infos zum Gesamtprojekt zur Provenienzgeschichte des Deutschen Buch- und Schriftmuseums sind hier zu finden: dnb.de/tiefenbohrung.
Benjamin Sasse
Benjamin Sasse ist Sammlungsleiter für die Vor- und Nachlässe und geschlossene Sammlungen im Deutschen Buch- und Schriftmuseum. Hans Tichas Zeichnungen kennt er seit seiner Kindheit. Aus Hans Falladas „Geschichten aus der Murkelei“ mit Illustrationen Tichas hat ihm seine Mutter besonders gern vorgelesen.
[1] Wobei Vorlass hier die bereits vor dem Tod übergebene Zusammenstellung eigener Lebensdokumente und Arbeitsmaterialien meint, also einen „Nachlass vor der Zeit.“