Grundsteine der DNB – Geschichte und Bedeutung

30. März 2023
von Anna Anita Hofer
Außenansicht der Deutschen Nationalbibliothek Leipzig: Oskar Puschs Hauptfassade trifft auf Gabriele Glöcklers Glasfront; Foto: Adobe Stock (bobmachee)

Von Oskar Puschs monumentaler Hauptfassade mit ihrer golddurchwirkten Portalzone bis hin zur funkelnden Glasfront des sogenannten „liegenden Buches“ nach Gabriele Glöckler umfasst der Gebäudekomplex der Deutschen Nationalbibliothek (DNB) mittlerweile fünf Bauten, die alle mit der Legung eines Grundsteins ihren Anfang genommen haben. Dabei weist gerade der erste Grundstein des Gründungsbaus eine Besonderheit gegenüber den anderen auf. Bevor jedoch auf diese eingegangen werden kann, lohnt es sich, einen Blick auf die Geschichte und Symbolik der Grundsteinlegung zu werfen. Seit wann gibt es diesen Brauch? Wie wird er vollzogen? Und was verbirgt sich eigentlich im Inneren der Steine?

„Legung des ersten Steines“

Es existieren etliche Gebräuche, Zeremonien und Feierlichkeiten, welche die Errichtung eines neuen Gebäudes begleiten: Sei es der Festakt des Ersten Spatenstichs, also der offizielle Beginn der Erdarbeiten, oder das Richtfest, mit dem die Fertigstellung des Dachstuhls begossen wird. Allen voran steht die Grundsteinlegung, der wohl älteste Brauch in diesem Prozess, welcher nicht (oder nur in den seltensten Fällen) mit dem tatsächlichen Baubeginn zusammenfällt, sondern noch vor diesem Zeitpunkt die Legung eines symbolischen Grundsteins zelebriert, auf dem das Bauwerk errichtet werden soll.

Dieser Brauch ist weltweit in kulturell unterschiedlichsten Ausprägungen anzutreffen und lässt sich bis in prähistorische Zeiten zurückführen, wo er in Form von vergrabenen bzw. eingemauerten Bauopfergaben den Grund und Boden weihen und den Bestand des Gebäudes generieren sollte. Die zum Teil lebenden Opfergaben wurden nicht vom Grundstein selbst abgelöst, sondern existierten parallel zu ihm weiter und verwebten sich im Laufe der Jahrhunderte mit anderen Riten (wie bspw. der Verehrung des Hausgeistes).

Jedoch lässt sich ihre symbolische Bedeutung in der „Legung des ersten Steines“ wiederfinden, von der bereits im Alten wie im Neuen Testament die Rede ist. Bei der Grundsteinlegung handelt es sich demnach um eine Weihehandlung, welche insbesondere bei sakralen und (halb-)öffentlichen Gebäuden, wie Rathäusern oder Bibliotheken, groß gefeiert wird. Der Höhepunkt der Zeremonie liegt bis heute in der Festigung des Steines durch einen kunstvoll gearbeiteten Maurerhammer, mit dem zu laut vorgetragenen Weihe- oder Segenssprüchen drei symbolische Schläge auf den Stein ausgeführt werden. Zuvor wird dieser entsprechend präpariert: Eine Gravur verweist u. a. auf das Baujahr und den Namen des Gründers bzw. Architekten.

Beigaben

Darüber hinaus wird der Stein ausgehöhlt, um in ihm weihevolle Beigaben für den Bestand, sowie zeitdokumentarische Objekte im Falle einer Zerstörung des Gebäudes für die Nachwelt einzuschließen: Sogenannte Grundsteineinlagen, welche sich anfangs auf die Gründungswerkzeuge und kostbare Steintafeln beschränkten und im Laufe der Jahrhunderte um Baupläne und Urkunden, Bildwerke, Schaumünzen, Geld und Zeitdokumente erweitert wurden. Die Einlage von Lebensmitteln und toten Tieren war zu Beginn dieses uralten Brauches ebenfalls üblich und kann als Überbleibsel der Bauopfergaben aus prähistorischer Zeit betrachtet werden.

Statt die Einlagen lose in den ausgehöhlten Stein zu legen, werden sie mittlerweile in einem speziell dafür angefertigten Behältnis verstaut, welcher dann im Stein platziert wird.  Dabei handelt es sich meist um eine verlötete Blech- oder Kupferkapsel, eine Kassette oder Urne, die im deutschsprachigen Raum seit den 1930er Jahren als Zeitkapsel bekannt ist.

Ein „wandernder“ Grundstein

Drei Schaumünzen, eine Fotografie, die Baupläne und mehrere Denkschriften – all das und noch einiges mehr ist in der Zeitkapsel des Grundsteins vom Gründungsbau der DNB zu finden. Anders als bei den vier Erweiterungsbauten sind hier die Einlagen genauestens im „Ersten Bericht über die Verwaltung der Deutschen Bücherei des Fördervereins der Deutschen Buchhändler zu Leipzig im Jahre 1913“ von Dr. Gustav Wahl aufgeführt.

Die Besonderheit liegt jedoch nicht in der Dokumentation des Inhalts, sondern im Standortwechsel des Steines. Die Grundsteinlegung erfolgte am 19. Oktober 1913, jedoch nicht auf dem Gelände der Straße des 18. Oktobers, sondern am ursprünglich geplanten Standort der Deutschen Bücherei: auf einem versteckt liegenden Bauplatz hinter dem Johannisfriedhof, an der Karl-Siegismund-Straße. Die Weihestunde fand im Rahmen einer großen Festveranstaltung statt, in Anwesenheit des Königs Friedrich August von Sachsen sowie zahlreicher Vertreter des öffentlichen und kulturellen Lebens. Der Leipziger Oberbürgermeister Dr. Rudolf Dittrich führte die drei symbolischen Hammerschläge auf den Grundstein aus, einem mächtigen Quader aus Beuchaer Granit – welcher durch sein imposantes Äußeres scheinbar unverrückbar die Wurzel des gigantischen Bauprojektes verkörpert.

Doch nur ein halbes Jahr später wurde der Stein aufgrund des Bauplatzwechsels zur Straße des 18. Oktober, ohne viel Aufhebens und bar jeder Festivität, buchstäblich entwurzelt. Eine Seltenheit zwar, die aber kurz zuvor auch dem Grundstein des Leipziger Völkerschlachtdenkmals widerfahren ist.

Seit dem 21. Juni 1914 befindet sich der Quader nun im Sockelgeschoss der Deutschen Nationalbibliothek, beinahe versteckt in die Wand eingelassen und nachträglich mit einer Inschrift versehen: 1914-1916.

Der erste und letzte Grundstein der DNB

Gebäudekomplex der Deutschen Nationalbibliothek Leipzig;
Foto: Eric Kemnitz

Futuristisch, funktionell oder traditionell – im Gebäudekomplex der Deutschen Nationalbibliothek treffen die unterschiedlichsten Architekturstile aufeinander. Fünf Bauten, die zwar miteinander verbunden sind, jedoch alle einen eigenen Charakter besitzen. Ob sich dieser auch in ihren Grundsteinen wiederfinden lässt? Schließlich bilden sie das symbolische Fundament eines jeden Bauwerks – weshalb in diesem Artikel der Frage nachgegangen wird, inwieweit sich die Gebäude der DNB über ihren jeweiligen Grundstein selbst thematisieren, und zwar anhand des Aussehens, der Inszenierung, der Inschrift und des Inhalts des Steins.

Im Fokus der selbstreferenziellen Analyse stehen die Grundsteine des ersten und des aktuell letzten Baus, da diese sich besonders deutlich voneinander abheben.

Hauptfassade des Gründungsbaus der Deutschen Nationalbibliothek Leipzig, mit Sockelgeschoss aus Beuchaer Granit;
Foto: Peter Kühne

Den Anfang macht Oskar Puschs Gründungsbau in einem Stil von Historismus und Frühmoderne, welcher von 1914 bis 1916 entstand. Seine Grundsteinlegung fand am 19. Oktober 1913 an der Karl-Siegismund-Straße statt, dem ursprünglich geplanten Standort der Deutschen Bücherei. Der Stein wurde jedoch aufgrund des Bauplatzwechsels zur Straße des 18. Oktober verlegt, wo er seit dem 21. Juni 1914 im Sockelgeschoss des Gründungsbaus zu finden ist.

Ein mächtiger Quader aus bräunlich grauem Granit, dessen grob gehauene Oberfläche mit einer schlichten Gravur versehen ist: den Baujahren „1914-1916“. In seinem wuchtigen wie eleganten Körper lässt sich unverkennbar Puschs monumentale Hauptfassade wiederfinden – mehr noch: Der Stein scheint Teil dessen zu sein, da er in seiner Größe, Form, Farbe und Beschaffenheit an die rustikale Außenverkleidung des Sockelgeschosses erinnert. Seine Positionierung innerhalb dieses Geschosses wirkt hingegen weniger imposant.

Auf Augenhöhe eingelassen in eine bleich gekachelte Wand scheint der Koloss regelrecht vor einem zu schweben – gewiss unübersehbar, jedoch insgesamt ein wenig verloren und irgendwie fehl am Platz. Könnte diese Inszenierung ein möglicher Verweis auf seine frühere Entwurzelung sein? Immerhin sollte der massive Granitblock bei der ersten Grundsteinlegung Teil des Fundamentes werden, von dem er in seiner zurückgenommenen Position nun weit entfernt ist.

Als zurückgenommen könnte man auch die knappe Inschrift beschreiben, welche sich rein auf die Baujahre bezieht und weder Architekt noch Bauleiter preisgibt. Doch was hier an Informationen fehlt, lässt sich durch die Grundsteineinlagen im Inneren vervollständigen. Jeder Grundstein enthält eine Zeitkapsel, deren Inhalt bis zur möglichen Zerstörung des Gebäudes meist unbekannt bleibt. In seltenen Fällen aber wurden die Beigaben dokumentiert, was auch bei diesem Stein zutrifft. Die in ihm eingeschlossenen Dokumente, Fotografien und Schaumünzen geben nicht nur Auskunft über die Intention des Bauprojektes, dessen Planung und Ausführung sowie die Mitwirkenden und Stifter, sondern spiegeln auch das turbulente Zeitgeschehen rund um den Gründungsbau wieder. Dabei kann das Heftprogramm zur Feier der ersten Grundsteinlegung wohl als der am meisten selbstreferenzielle Gegenstand dieser Einlagen betrachtet werden, da hier der Stein auf sich selbst Bezug nimmt.

Der Grundstein im vierten Erweiterungsbau

Ganz anders verhält es sich bei Analyse Nummer 2.

Im harten Kontrast zu Oskar Puschs traditionellem Gründungsbau steht die vierte und aktuell jüngste Erweiterung der DNB. Das sogenannte „Liegende Buch“, ein futuristisch aussehender Neubau mit geschwungener Glasfront, welchen Architektin Gabriele Glöckler von 2007 bis 2011 errichten ließ.

Die Grundsteinlegung fand am 4. Dezember 2007 statt, wobei von einem Stein hier nicht die Rede sein kann. Denn was am Schluss eines langen, dunklen und sich  zunehmend verengenden Korridors im Untergeschoss zum Vorschein kommt, ist nichts anderes als die Zeitkapsel selbst. Eine zylinderförmige Kupferkapsel, welche hinter Glas auf einem weißen Sockel thront und von mehreren Spots angestrahlt wird – was den Eindruck erweckt, als gehe man buchstäblich auf das Licht am Ende des Tunnels zu.

Doch statt einer Erleuchtung kommen beim Anblick der Kapsel eher Fragezeichen auf: Wozu diese sakral anmutende Inszenierung? Und wo steht überhaupt geschrieben, dass es sich hier um den Grundstein handelt? Auf dem blanken Kupfer ist keine Inschrift und im Vorraum keine Infotafel zu sehen, die Auskunft über das Objekt geben könnte. Darüber hinaus steht die Kapsel vollkommen frei, statt eingemauert Teil des Gebäudes zu sein – was die eigentliche Aufgabe eines Grundsteins ad absurdum führt. Denn auch wenn Grundsteine vorrangig symbolisch gelegt werden, gehören sie üblicherweise zum Fundament oder zu einer tragenden Wand.

In diesem Fall lässt jedoch nichts auf die Zugehörigkeit zum 4. Erweiterungsbau schließen. Weder ist die Kapsel in das Gebäude integriert, noch lassen sich von ihr wichtige Eckdaten ablesen, was ihr eine gewisse Anonymität verleiht. Hinzu kommt der Mangel an Informationen über die Grundsteineinlagen, weshalb sich nur schwer irgendwelche selbstreferenziellen Bezüge herstellen lassen.

Vielleicht ist die Inszenierung nicht als sakral sondern museal zu verstehen und demnach eine kleine Anspielung auf die Funktion des 4. Erweiterungsbaus als Buch- und Schriftmuseum. Sicher lassen sich auch in der Reduzierung des Grundsteins auf sein Innerstes als Zeitkapsel, und der damit einhergehenden minimalistischen Form, die klaren Linien des modernen Glasbaus wiederfinden – welcher mit seiner Durchsichtigkeit ebenso das Innerste nach Außen trägt. Schlussendlich bleibt dieser Grundstein jedoch vor allem eins: ein Rätsel.

Anna Anita Hofer studiert Kunstgeschichte im Master an der Universität Leipzig, mit Schwerpunkt auf der Selbstreferenzialität in der modernen wie altmeisterlichen Malerei.

Im Kontext seiner Kooperation mit der Wissenschaft hat das Deutsche Buch- und Schriftmuseum im Wintersemester 2022/23 einen Lehrauftrag an der Universität Leipzig durchgeführt, das sich unter dem Aspekt der Gestaltung, Funktionen und Ästhetiken des Speicherns mit der spannenden 111-jährigen Geschichte der DNB beschäftigt. Es ist eine in der Strategie der DNB fest verankerte Lehrkooperation, deren Ergebnisse zugleich Auskunft geben über 111 Jahre Bibliotheksgeschichte.

*Nachweis Beitragsbild auf der Startseite:DNB

Ein Kommentar zu „Grundsteine der DNB – Geschichte und Bedeutung“

  1. Lisa M. sagt:

    Vielen Dank für den spannenden Beitrag! Warum entschied man sich denn dafür, den Grundstein des Gründungsbaus auf Augenhöhe einzubauen, statt ihn wieder als Fundament zu verwenden?

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  • ISSN 2751-3238