Von Karteikarten, -kästen und Kartenkatalogen
Die moderne Informationsgesellschaft erfordert eine innovative und anpassungsfähige Wissensarchitektur für Bibliotheken. Eine Bibliothek, die dieser Anforderung gerecht wird, ist die Deutsche Nationalbibliothek in Leipzig: Die DNB beherbergt an diesem Standort über 31 Millionen Medieneinheiten – darunter Bücher, Zeitschriften, Zeitungen, Karten und Musikalien. Um diese große Menge an Information zu organisieren, setzt die Bibliothek auf eine Kombination aus traditionellen und modernen Wissensarchitekturen.
Die Idee von Wissensarchitekturen oder Räumen des Wissens bezieht sich auf die Art und Weise, wie Wissen organisiert, strukturiert und präsentiert wird. Ein Zettelkasten oder eine Sammlung von Karteikarten kann als ein Beispiel für eine solche Wissensarchitektur betrachtet werden, da dieser ein System zur Organisation und Strukturierung von Informationen bietet: einzelne Karten können in Kartenkatalogen zusammengefasst werden. Diese Form des Bibliothekskatalogs ist der Schlüssel zum Entdecken und Finden von Informationen innerhalb einer Bibliothek – sie bildet das funktionelle Rückgrat einer jeden Bücherei.
Im Laufe der Geschichte haben sich diese Kataloge in verschiedenen Formen entwickelt – von Büchern und Mikrofiche bis hin zu Online-Katalogen. Eine der bekanntesten Katalogarten ist der Zettel- oder auch Kartenkatalog.
Dieser enthält die vollständigen bibliografischen Informationen zu den in ihn aufgenommenen Werken – Autor:in, Titel, Erscheinungsort, Verlag und Erscheinungsdatum. Jedes einzelne Objekt in den Sammlungen der Bibliothek könnte mehrere Karten im Katalog haben, um den Bibliotheksnutzer:innen mehrere Möglichkeiten zum Auffinden zu geben. Der Kartenkatalog bietet eine einfach wie effizient zu handhabende Zugriffsmöglichkeit auf diese Basisinformationen und war ein Wendepunkt in der nutzungsorientierten Bibliothekskatalogisierung.
Ein prominentes Beispiel, welches Forschungsgeschichte geschrieben hat, ist der Zettelkasten des Soziologen Niklas Luhmann. Sein System basierte darauf, dass er auf jedem Zettel eine Idee, ein Konzept oder eine Information notierte und diese dann in Kategorien sortierte. Der Zettelkasten ermöglichte es ihm, Ideen zu organisieren und zu vernetzen, um so neue Erkenntnisse zu gewinnen. Er gilt als Pionier der Wissensarchitektur durch Zettelkästen.
Luhmanns Wissensarchitektur geht jedoch weit über einen bloßen Zettelkasten hinaus, denn dieser wird als eine Art „Zeitgedächtnis, ein alter ego oder ein Kommunikationspartner“ betrachtet, der die theoretischen Verflechtungen und Dimensionen seiner Überlegungen erst sichtbar macht. Der Zettelkasten wird nicht nur als technisches Medium oder geistiges Ordnungsprinzip betrachtet, sondern als ein interaktiver und hoch individualisierter Partner in Luhmanns Theoriearbeit.
Auch der Mnemosyne Atlas von Aby Warburg kann als ein Beispiel für eine Wissensarchitektur betrachtet werden. Hierbei handelt es sich um einen mit Ideogrammen bestückten „Zettelkasten“, der Pathosformeln – zur Bildformel erstarrte affektgeladene Körperhaltungen, Gesten und Bewegungen – sammelt und in verschiedenen Kontexten als Bildzitat auftauchen lässt und hierbei neue Bedeutungen annehmen kann.
Die Karteikästen in Bibliotheken und Archiven bilden ebenfalls eine Wissensarchitektur, die neben ihrer ideellen Tragweite auch einen physischen Raum ausbildet, der einer Kapsel gleicht. Die Karteikarten bilden eine Einheit, die wie hier durch eine physische Hülle – den Kasten – und Nadeln zusammengehalten werden.
Thematisch werden Informationen zu Werken zusammengefasst, die gemäß dem Auftrag der DNB planvoll gesammelt werden. Aufgrund dessen beinhalten die Kapseln zu einem nicht geringen Teil Texte, die für einzelne Forschungsfragen nicht relevant erscheinen und außerhalb des Wissenskanons stehen, jedoch in ihrer Gesamtheit ein Kulturarchiv bilden.
Aus kulturwissenschaftlicher Perspektive können solche Wissensarchitekturen auch als Teil des kollektiven Gedächtnisses betrachtet werden, wie es von Aleida und Jan Assmann beschrieben wurde. Das kulturelle Gedächtnis nimmt durch die Reproduktion gemeinschaftlicher Werte eine essenzielle Funktion ein, die durch eine Objektivierung der Normen der Gruppe in Bilder, Schriften und Gegenstände erfolgen kann. Die Prozesse des kulturellen Gedächtnisses dienen somit der Stabilisierung und Reproduktion von Gruppenidentitäten. Wissensarchitekturen – wie Zettelkästen und Karteikästen – können als Teil dieses kulturellen Gedächtnisses betrachtet werden, da sie eine Art von Wissensspeicher darstellen, der zur Stabilisierung und Reproduktion von Wissen und Identität beitragen kann.
In Anlehnung an diese Theorien könnte ein Anwendungsbeispiel für Wissensarchitekturen bzw. Zettelkästen und Karteikarten wie folgt formuliert werden:
Angenommen, Sie möchten ein System für die Organisation und Archivierung Ihres Wissens aufbauen, um ein besseres Verständnis für ein bestimmtes Thema zu entwickeln und dieses Wissen für zukünftige Projekte oder Aufgaben nutzen. Sie könnten ein digitales System erstellen – eine Art Datenbank oder Online-Katalog bzw. OPAC –, in dem Sie Informationen zu bestimmten Themenbereichen sammeln und diese Informationen in Kategorien unterteilen. Oder aber ein physisches System von Zettelkästen und Karteikarten verwenden, um die Verbindung zwischen verschiedenen Informationen und Themenbereichen zu fördern. Jeder Zettel oder jede Karteikarte könnte ein spezifisches Konzept oder Thema repräsentieren, mit Verknüpfungen zu anderen Karten, die mit diesem Thema verbunden sind. Dies würde dazu beitragen, das Verständnis für komplexe Themen zu vertiefen und die Zusammenhänge zwischen verschiedenen Aspekten des Wissens zu visualisieren – eine Art interaktive Gedächtnislandschaft entsteht.
Das Ziel der Anwendung dieser Theorien in der Wissensarchitektur wäre es, eine Kultur des Wissensmanagements zu schaffen, in der Informationen nicht nur gesammelt, sondern auch strukturiert und organisiert werden, um ein umfassendes Verständnis für ein bestimmtes Thema zu entwickeln und dieses Wissen für zukünftige Projekte oder Aufgaben zu nutzen.
Die Deutsche Nationalbibliothek in Leipzig zeigt in der Anwendung beider Systeme, wie eine vielseitige Wissensarchitektur aus traditionellen und modernen Methoden dazu beitragen kann, eine große Menge an Information zu organisieren und zugänglich zu machen. Die Bibliothek hat es geschafft, ihre Medienbestände auf effiziente Weise zu speichern und zu organisieren und gleichzeitig die Bedürfnisse ihrer Nutzer:innen im Blick zu behalten.
Stefanie Stolle studiert seit 2018 Kunstgeschichte an der Universität Leipzig. Ihre Forschungsinteressen liegen an den Schnittstellen der Kunstgeschichte zu den Digital Humanities und der Raumforschung mit einem besonderen Augenmerk auf Forensic Architecture, Bilderzählungen und Narrativik.
Im Kontext seiner Kooperation mit der Wissenschaft hat das Deutsche Buch- und Schriftmuseum im Wintersemester 2022/23 einen Lehrauftrag an der Universität Leipzig durchgeführt, das sich unter dem Aspekt der Gestaltung, Funktionen und Ästhetiken des Speicherns mit der spannenden 111-jährigen Geschichte der DNB beschäftigt. Es ist eine in der Strategie der DNB fest verankerte Lehrkooperation, deren Ergebnisse zugleich Auskunft geben über 111 Jahre Bibliotheksgeschichte.
Lieber Herr Voigt,
im Kontext einer Kooperationen mit der Wissenschaft hat das DBSM im Wintersemester 2022/23 einen Lehrauftrag an der Universität Leipzig durchgeführt, das sich unter dem Aspekt der Gestaltung, Funktionen und Ästhetiken des Speicherns mit der spannenden 111-jährigen Geschichte der DNB beschäftigt. Daher: kein „Lehrstuhl-Marketing“, sondern eine in der Strategie der DNB fest verankerte Lehrkooperation, deren Ergebnisse zugleich Auskunft geben über 111 Jahre Bibliotheksgeschichte.
Was hat das laufende Masterseminar – in eigener Zählung Nr. 3 – mit der „Geschichte der Deutschen Nationalbibliothek“ zu tun?
Die Karteikästen-Geschichte selbst ist sehr interessant, auch ohne Lehrstuhl-Marketing.