Der NS-Einfluss auf den ersten Erweiterungsbau

8. Juni 2023
von Lena Catherine Geiger

Bereits als die Bauarbeiten des Hauptgebäudes der Deutschen Bücherei im Jahr 1914 begannen, war den Beteiligten bewusst, dass es sich nicht um ein abgeschlossenes Bauprojekt handeln wird. Denn schon in zwei Jahrzehnten würde das Gebäude nicht mehr ausreichend Kapazität für den sowohl stetig steigenden Bücherzuwachs als auch die zunehmende Besucher*innenzahl bieten. Oskar Pusch, Architekt der Deutschen Bücherei, legte ein Baukonzept vor, das für 200 Jahre Fortbestand haben sollte. So musste bei einem jährlichen Bücherzuwachs von 50.000 Bänden bis spätestens 1936/37 ein weiterer Gebäudetrakt mit zusätzlichen Lesesaalplätzen, Verwaltungs- und Magazinräumen errichtet werden. Diese Magazinräume sollten Platz für ein Bücherwachstum von 15 Jahren bieten. Um einen einheitlichen architektonischen Stil des Haupt- und Erweiterungsbaus zu gewährleisten, wurden wie 1914 Karl-Julius Bär und Oskar Pusch für das Bauvorhaben beauftragt. Zu diesem Zeitpunkt ahnten Bär und Pusch ebenso wie der damalige DB-Direktor Heinrich Uhlendahl noch nicht, dass ihr Bauprojekt nicht nach ihren Vorstellungen ausgeführt werden würde.

Die bauliche Entwicklung der Deutschen Bücherei, Detail: Idealentwurf für 200 Jahre im Voraus von Oskar Pusch, Grundrissplan, um 1914. Aus: Schottke, 1995, S. 7
Erster Spatenstich für den Erweiterungsbau 1934, Fotografie, 1934. Aus: Flachowsky, 2018, S. 666, Abb. 38

Als das Budget auf eine Million Reichsmark veranschlagt wurde, schreckten die Geldgeber davor zurück und forderten eine Reduzierung der Kosten. Das Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda beschloss daraufhin, 600.000 RM aus den Mitteln der „Spende zur Förderung der nationalen Arbeit“ bereitzustellen. Enttäuscht über die Kürzung des Budgets sowie den Beschluss, „einen bescheiden gehaltenen Erweiterungsbau“ mit entsprechenden Kompromissen im Bau auszuführen, fügte sich Uhlendahl dem Entscheid. Mit einem dreifachen ‚Sieg-Heil‘ und dem ‚Horst-Wessel-Lied‘ wurde der Spatenstich für den ersten Erweiterungsbau am 24. Mai 1934 begleitet. An der Ostseite des Hauptlesesaals angeschlossen, führt der neue Trakt in Winkelform zum Ostflügel des vorderen Hauptgebäudes und umschließt so einen Innenhof. Statt den im originalen Bauplan verzeichneten zwei Geschossen wurde in Höhe des Fußbodens des geplanten zweiten Stocks ein Behelfsdach eingezogen. Diese kostenbedingte Teilausführung hatte zur Folge, dass sowohl die Magazinräume nur noch für 10 Jahre ausreichten als auch die Erscheinung des Gebäudekomplexes unstimmig und vor allem unsymmetrisch wirkte. Um dies auszugleichen, plante das Landesbauamt Leipzig einen zweiten Erweiterungsbau an der Westseite des Hauptlesesaals für das Jahr 1944. Die Aufstockung des Ostflügels sollte 1955 folgen und weitere 10 Jahre später die des Westflügels. Durch den Lauf der Geschichte kam es jedoch erst zwischen 1959 und 1963 zu diesem Bauvorhaben.

Die bauliche Entwicklung der Deutschen Bücherei, Detail: der erste und zweite Erweiterungsbau, Grundrissplan, 1934-36 u. 1959-63. Aus: Schottke, 1995, S. 107, Abb. 140
Der erste Erweiterungsbau von Nordosten, Fotografie, 1937. Aus: Deutsche Bücherei, 1938

Der erste Erweiterungsbau war vornehmlich den Nützlichkeitszwecken einer Bibliothek untergeordnet, allerdings beabsichtigte man auch die Einrichtung eines Luft- und Gasschutzraumes. 60% der Flächen wurden für die Büchermagazine genutzt, in denen 750.000 Bücher archiviert werden konnten. Von den Nationalsozialisten unerwünschte oder verbotene Literatur war in gesicherten Räumen verwahrt, den so genannten Giftkammern. Auf den übrigen Flächen befanden sich unter anderem Garderoben, Toiletten, Verwaltungsräume, Arbeitszimmer sowie ein Vorlesungssaal neben dem Kleinen Lesesaal, den Uhlendahl „einmal aus Stiftungsmitteln mit Bildern“ verzieren zu können hoffte. Durchaus schmückten für eine kurze Zeit zwei Wandgemälde die Stirnwände, die aber weder vom Reichsministerium genehmigt waren noch eine akzeptable künstlerische Qualität besaßen. Schlussendlich hielt man es für nötig, diese zu übermalen, bevor der neue Lesesaal für die Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurde. Hingegen befanden sich in den Arbeits- und Verwaltungsräumen ebenso wie auf den Gängen Werke neuer deutscher Grafik von den Künstlern Rudolf Schiestl und Georg Sluyterman von Langeweyde. Deren Bilder sind bis heute für ihre propagandistischen Inhalte im Geist des Nationalsozialismus bekannt. Um welche Bilder es sich konkret handelte und wo sie sich heute befinden, ist nicht bekannt. Vielleicht gehörte hierzu der Linolschnitt Ritter, Tod und Teufel, der großen Anklang im Nationalsozialismus fand. Weitere Bilder von Langeweyde in der DB könnten auch Der Führer spricht, Des Deutschen Volkes Lied IX oder Ordensburg Vogelsang gewesen sein.

Der Kleine Lesesaal war einst in den Farben Weiß, Schwarz, Silbermetall und Dunkelgrün gehalten, so waren zum Beispiel die ursprünglichen Regale nicht wie heute weiß, sondern schwarz lackiert. Diese schlichte Farbgebung ebenso wie die Stahlrohrmöbel, z.B. der von Mart Stam designte Freischwinger, entsprachen dem damaligen künstlerischen Zeitgeist der Neuen Sachlichkeit. Wie der Hauptlesesaal war auch der Kleine Lesesaal mit einem Handapparat ausgestattet. Er enthielt 8.000 Bände über Familien-, Sitten- und Rassenkunde, mit denen das nationalsozialistische Gedankengut in den Vordergrund rückte. Danach hat sich das Themenspektrum des Naturwissenschaftlichen Lesesaals, wie er heute heißt, allerdings gründlich gewandelt. Lediglich die zwei Wandgemälde unter den weiß getünchten Stellen an den Stirnwänden würden noch an die ideologische Instrumentalisierung des Lesesaals in der Zeit des Nationalsozialismus erinnern, wären sie im April 1962 auf Wunsch des Architekten der DB Oskar Pusch freigelegt worden. Aber dies ist eine andere Begebenheit in der Historie der Deutschen Bücherei.

Das Wandgemälde mit dem langen Arm

Mit entsetzten Gesichtern und Kopfschütteln blickten die Mitglieder des Geschäftsführenden Ausschusses zu den Wänden im Kleinen Lesesaal hinauf, als sie im Dezember 1935 durch den teilweise fertigstellten ersten Erweiterungsbau geführt wurden. Was sie dort vorfanden, waren großflächige Wandgemälde, die ohne das Wissen des Reichsministeriums für Volksaufklärung und Propaganda angefertigt wurden. Bei der Betrachtung empfand man die künstlerische Ausführung als minderwertig und damit in ihrer Qualität als ungenügend für eine erstrangige Institution wie die Deutsche Bücherei. Dies konnten weder die nationalsozialistichen Bildinhalte noch die auf die Nutzung des Lesesaals für Familien-, Sitten- und Rassenkunde bezogenen Bildtitel Volksgemeinschaft und Familie einst und jetzt ausgleichen. Vermutlich hatte Heinrich Uhlendahl, Direktor der DB, die Bilder beim Maler und SA-Mann Clemens Kaufmann in Auftrag gegeben, er dürfte aber ähnlich monumentale und qualitativ hochwertige Bilder wie jene im Großen Lesesaal erwartet haben. Für Uhlendahl als Auftraggeber spricht, dass er den Wunsch geäußert hatte, den neuen Lesesaal „einmal aus Stiftungsmitteln mit Bildern“ verzieren lassen zu können. Bereits nach kurzer Zeit gelangte der eklatante Vorfall nach außen und und verbreitete sich auch über die Stadt- und Staatsgrenzen hinaus. So gab es während eines Rundgangs mit ausländischen Akademiker*innen schmunzelnde Gesichtsausdrücke, als jemand fragte, ob ihnen auch die neuen Wandbilder und vor allem „das mit dem langen Arm“ gezeigt werden würde. Diese Szene war in Volksgemeinschaft auf der linken Stirnseite in der rechten Gruppierung abgebildet. Bibliothekar Otto Drope wich der Frage aus, indem er sich über die Bilder unwissend gab und behauptete, dass der Lesesaal noch nicht seiner Bestimmung übergeben sei. Zudem erreichten die Landesstelle Sachsen des Propagandaministeriums diverse Beschwerden über das unzureichende Konterfei Hitlers, das sich in der Mitte des Bilds Volksgemeinschaft befand. Schließlich fühlte sich das Ministerium zum Handeln und zur Frage gedrängt, wie mit den Wandgemälden umgegangen werden soll.

Clemens Kaufmann, Volksgemeinschaft, Wandmalerei, 1935/36. Leipzig, Deutsche Bücherei, Kleiner Lesesaal/Naturwissenschaftlicher Lesesaal. Aus: Flachowsky, 2018, S. 668, Abb. 39
Clemens Kaufmann, Familie einst und jetzt, Wandmalerei, 1935/36. Leipzig, Deutsche Bücherei, Kleiner Lesesaal/Naturwissenschaftlicher Lesesaal. Felix Pfeifer, Bronzehochbild des ‚Führers‘, Bronzerelief, 1935/36. Leipzig, Deutsche Bücherei, Kleiner Lesesaal/Naturwissenschaftlicher Lesesaal. Aus: Flachowsky, 2018, S. 668, Abb. 40

Daraufhin veranlasste Joseph Goebbels eine künstlerische Expertise. Ein erstes Gutachten des Landesleiters der Reichskammer der bildenden Künste Sachsen befand die Bilder in ihrer Gesamtstimmung und schlichten Farbgebung für angemessen. Auch die gestalterische Darstellung des ‚Führers‘ gebe keinen Grund zur Entfernung der Bilder. Wenig überzeugt von dieser Bewertung, schickte das Reichsministerium einen weiteren Gutachter, Heinz Wismann, Leiter der Schrifttumsabteilung und Stellvertretender Präsident der Reichsschrifttumskammer, in die DB. Er empfahl, die Wandgemälde zu entfernen und durch neue, bessere Darstellungen zu ersetzen.

Um den in seiner Berufsehre angegriffenen Kaufmann nicht erneut zu brüskieren, unterbreitete Uhlendahl ihm den Vorschlag, seine Bilder an einem anderen Ort mit geringeren ästhetischen Anforderungen als in der DB anzubringen. Stattdessen wagte Kaufmann einen weiteren Versuch, indem er dem Reichsministerium neue Entwürfe vorlegte. Von diesen ebenso wenig begeistert, entschied Goebbels, dass die Wandgemälde ein für alle Mal zu entfernen seien. Die Überlegung, einen anderen Künstler zu engagieren, wurde sowohl kosten- als auch zeitbedingt verworfen. Anstelle der Wandgemälde sollten deswegen Linien und Ornamente die weißen Wände zieren. Schlussendlich wurde aber auch dieses Vorhaben aufgegeben, da Uhlendahl dadurch eine weitere Verzögerung der Eröffnung befürchtete. Somit hatte die Wandgemälde-Angelegenheit schließlich nach einem dreiviertel Jahr ein Ende gefunden. Schon bald waren die skandalösen Bilder unter den weiß getünchten Stellen in Vergessenheit geraten, an die sich lediglich der Architekt der DB Oskar Pusch 1962 in einem Gespräch mit Curt Fleischhack, dem Nachfolger Uhlendahls, erinnerte. Puschs Bitte, die weiße Farbe zu entfernen, um die darunterliegenden Bilder zu retten, wurde von Fleischhack mit Hinweis auf die nationalsozialistische Bildsymbolik abgelehnt.

Felix Pfeifer, Bronzeplakette des ‚Führers‘, Bronzemedaillon, um 1935. Aus: Schottke, 1995, S. 109, Abb. 143

Als einziger künstlerischer Schmuck im Kleinen Lesesaal war nun das Relief mit Adolf Hitlers Profilbild auf einer Bronzeplatte vorgesehen, das sich zwischen den damals dunkel gebeizten Bücherregalen unter der großen Uhr befand. Die Anbringung des Hitler-Reliefs wurde im April 1935 vom Propagandaministerium verfügt und vom ehemaligen Vorsteher des Börsenvereins in Leipzig, Artur Meiner, gestiftet. Für die Modellierung war der Leipziger Bildhauer und Medailleur Felix Pfeifer zuständig. Von ihm stammen auch die Reliefmedaillons des Deutschen Kaisers und des Königs von Sachsen in der Eingangshalle ebenso wie das Mädchen mit Frosch am Marmorbrunnen am linken Treppenaufgang für das seine Tochter Modell stand. Auch in Leipzig befinden sich heute noch Werke Pfeifers, so die Brunnenfigur Genesung vor dem AOK-Gebäude.

Durch die Anbringung des Bronzereliefs Hitlers wurde seine Person im Lesesaal anwesend und forderte gleichzeitig zur seiner zeremoniellen Verehrung auf. Zusätzlich war es ein Sinnbild der repressiven Kontrolle des Regimes über den Raum und seine Anwesenden. Während also die Betrachtenden zu Hitlers Porträt hinaufblicken, sah er zu ihnen hinunter. Dies entsprach zwar einer verordneten Praxis während des Nationalsozialismus, doch beschränkte sich diese eher auf Arbeits- und Verwaltungsräume, weshalb der öffentliche Bibliothekslesesaal der DB in diesem Rahmen eher einen Sonderfall bildet. Nachdem das Dritte Reich zugrunde ging, wurde auch das Hitler-Relief in der DB wie alle anderen nationalsozialistischen Symbole deutschlandweit entfernt.

Abbildungen aus:

Schottke, Susanne: Die Deutsche Bücherei in Leipzig und ihr Architekt Oskar Pusch, Bd. 1, Leipzig 1995

Flachowsky, Sören: „Zeughaus für die Zeugen der Schwerter des Geistes“. Die Deutsche Bücherei in Leipzig 1912-1945, Göttingen 2018

Deutsche Bücherei (Hg.): 19.-25. Jahresbericht über die Verwaltung der Deutschen Bücherei, 1. April bis 31. März 1938, Leipzig 1938

Im Kontext seiner Kooperation mit der Wissenschaft hat das Deutsche Buch- und Schriftmuseum im Wintersemester 2022/23 einen Lehrauftrag an der Universität Leipzig durchgeführt, das sich unter dem Aspekt der Gestaltung, Funktionen und Ästhetiken des Speicherns mit der spannenden 111-jährigen Geschichte der DNB beschäftigt. Es ist eine in der Strategie der DNB fest verankerte Lehrkooperation, deren Ergebnisse zugleich Auskunft geben über 111 Jahre Bibliotheksgeschichte.

*Nachweis Beitragsbild auf der Startseite:Aus: Deutsche Bücherei (Hg.): 19.-25. Jahresbericht über die Verwaltung der Deutschen Bücherei, Leipzig 1938

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  • ISSN 2751-3238