Zu Gast bei der berühmten Dr. Ruth
Wer kennt sie nicht? Mit eigenen Sendungen in Radio und TV und mehr als 100.000 Followern auf Twitter ist Dr. Ruth K. Westheimer nicht nur in den USA ein Superstar.
Begonnen hat ihr Leben ganz anders. Am 4. Juni 1928 wurde sie als Karola Ruth Siegel als einziges Kind von Irma und Julius Siegel im fränkischen Wiesenfeld geboren, aufgewachsen ist sie in Frankfurt am Main. Die Verfolgung, Entrechtung und Vernichtung der Jüdinnen und Juden im Nationalsozialismus beendete das Leben der Familie Siegel in Deutschland. Mit einem Kindertransport schickten ihre Eltern Karola von Frankfurt am Main in die Schweiz. Sie retteten ihrer einzigen Tochter damit das Leben. Sie selbst blieben mit der Großmutter zurück – sie überlebten den Holocaust nicht.
Karola fand Aufnahme im Kinderheim „Wartheim“ in Heiden in der Schweiz. Zur dauerhaften Heimat wurde die Schweiz für sie nicht, denn nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurden die in der Schweiz aufgenommenen jugendlichen Flüchtlinge angehalten, weiterzuziehen. Karola ging nach Israel, wo eine aufregende Zeit begann. In diese Zeit fällt
ihr Namenswechsel von Karola zu ihrem zweiten Vornamen Ruth. Das K für Karola führt sie seither als Mittelnamen — es sei ihre Vergangenheit, erzählte sie uns in einem Interview. Sie schloss sich der Untergrundorganisation Hagana an, erlernte den Umgang mit Waffen und wurde bei einer Granatenexplosion schwer verletzt.
Auch Israel wurde ihr nicht zum dauerhaften Zufluchtsort. Wieder zog sie weiter, dieses Mal nach Paris, wo sich ihr an der Sorbonne eine neue Welt eröffnete. 1956 wanderte sie schließlich in die USA aus. Dort studierte sie Soziologie, promovierte und lehrte an der Universität in New York. Zunehmend beschäftigte sich Ruth K. Westheimer mit Fragen nach Moral, Ethik und Sexualität. Sie bildete sich zur Sexualtherapeutin weiter und wurde schließlich als Dr. Ruth berühmt.
Ruth K. Westheimer ist Autorin einer Vielzahl von Publikationen, die insbesondere Themen der Sexualität behandeln. Mit ihren Büchern und Sendungen hat sie im prüden Amerika der 1980er Jahre viel Aufsehen erregt und eine große Zuhörer- und Leserschaft interessiert. Ihre Vergangenheit war vielen Leser*innen unbekannt, obwohl Ruth K. Westheimer nie ein Geheimnis daraus gemacht hat. 1976 erschien „Die Geschichte der Karola Siegel“ und 1987 veröffentlichte sie ihre Autobiografie „All in a Lifetime“. 2014 kam das Theaterstück „Becoming Dr. Ruth“ auf die Bühnen, 2019 der Film „Ask Dr. Ruth“ in die Kinos. Und sogar eine Tulpe wurde nach ihr benannt, im Fort Tryon Park in New York, ganz in der Nähe von Dr. Ruth Wohnung, kann man die kleine Pflanze bewundern.
Das Deutsche Exilarchiv hatte das große Glück mit Dr. Ruth K. Westheimer zusammenarbeiten zu dürfen. Sie war eine von sechs Persönlichkeiten, die in der Ausstellung „Kinderemigration aus Frankfurt“ vorgestellt wurde. Dr. Ruth K. Westheimer hat die Arbeit an der Ausstellung tatkräftig unterstützt – mit Exponaten aus ihrem persönlichen Besitz, mit Interviews und Gesprächen und mit einer Onlineveranstaltung. Zweimal durften wir bei ihr in New York in ihrer Wohnung zu Gast sein, unvergessliche Stunden.
Sie hat uns teilhaben lassen an ihren Erinnerungen an die Zeit in Frankfurt vor 1933, an ihre glückliche Kindheit, aus der sie bis heute schöpft. Sie hat uns Einblicke gewährt in die schwere Zeit des Kindertransports, den Abschied von den Eltern, ihr Leben im Kinderheim in der Schweiz, das lange Hoffen auf ein Wiedersehen. Sie hat uns ihre Erinnerungsstücke gezeigt, ihr Tagebuch, die letzten Briefe der Eltern, einen Waschlappen, den die Eltern ihr als letztes Stück in den Koffer legten und den sie bis heute hütet.
Und sie hat uns erklärt, was diese Dinge für sie bedeuten. Ausleihen konnte sie die Originale nicht, eine Trennung von diesen Stücken ist ihr nicht möglich. Stattdessen hat sie in Videos die Bedeutung der Stücke erklärt und ein Grußwort zur Ausstellungseröffnung geschickt.
Sie hat vor einer großen Anzahl von begeisterten Gästen im Interview mit Sylvia Asmus über ihr Leben gesprochen und sie hat uns ihr Wohnviertel Washington Heights in New York beschrieben. Die Freiheitsstatue hat bis heute eine ganz besondere Bedeutung für sie, wie sie in diesem Video erklärt.
Wir sagen danke, Dr. Ruth!
111-Geschichten-Redaktion
Zum 111. Jubiläum haben wir, die Beschäftigten der Deutschen Nationalbibliothek, in Erinnerungen und Archiven gestöbert. Von März bis November präsentieren wir hier 111 Geschichten aus der Deutschen Nationalbibliothek.