75 Jahre Allgemeine Erklärung der Menschenrechte

10. Dezember 2023
von Marc Wurich

Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte durch die Vereinten Nationen am 10. Dezember 1948 war vor allem eine unmittelbare Reaktion auf die Ereignisse der vorangegangenen Jahre, auf Faschismus, Weltkrieg und Holocaust. Unter anderem in der Präambel weist die Deklaration selbst auf diesen Ursprung hin:

[D]a die Nichtanerkennung und Verachtung der Menschenrechte zu Akten der Barbarei geführt haben, die das Gewissen der Menschheit mit Empörung erfüllen, und da verkündet worden ist, dass einer Welt, in der die Menschen Rede- und Glaubensfreiheit und Freiheit von Furcht und Not genießen, das höchste Streben des Menschen gilt, […] verkündet die Generalversammlung diese Allgemeine Erklärung der Menschenrechte als das von allen Völkern und Nationen zu erreichende gemeinsame Ideal…

Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, Präambel

Bereits 1946 richteten die Vereinten Nationen die UN-Menschenrechtskommission ein, deren erste große Aufgabe darin bestand, einen internationalen Menschenrechtskodex zu erarbeiten. Im Januar 1947 nahm die Fachkommission unter der Leitung von Eleanor Roosevelt ihre Arbeit auf. Ein erster Entwurf, den die Kommission im Sommer desselben Jahres veröffentlichte, veranlasste den Publizisten August Siemsen zu einem kritischen Kommentar in der durch ihn herausgegebenen Exilzeitschrift La otra Alemania/Das andere Deutschland. In der Ausgabe vom 15. Juli 1947 stellt er angesichts der politischen Weltlage trotz allem guten Willen der Verantwortlichen unverbrüchliche Kontinuitäten fest und stellt die Grundsatzfrage:

Wo ist die Macht, wo auch nur der Wille, um in der heutigen Welt die Rechte des Menschen durchzuführen? Triumphiert nicht vielmehr trotz aller schönen Worte und Erklärungen die Verleugnung und Verhöhnung aller Menschenrechte, wie sie vom Faschismus und Nationalsozialismus proklamiert und geübt wurden? […] Was soll eine Erklärung der Menschenrechte, wenn das allererste und allerprimitivste Recht zu leben, durch Aufrüstung und Atombombe mehr bedroht ist als jemals zuvor?

August Siemsen

In den letzten Jahren der Weimarer Republik war August Siemsen ab 1930 Reichstagsabgeordneter für die SPD, von 1931 bis 1933 gehörte er der linkssozialistischen SAPD an. Nachdem er im Februar 1933 den Dringenden Appell des Internationalen Sozialistischen Kampfbundes (ISK) unterzeichnet hatte, der zu einem Parteienbündnis gegen Hitler aufrief, ging er noch im selben Jahr ins Schweizer Exil. 1936 emigrierte er weiter nach Argentinien. In Buenos Aires redigierte er ab 1938 die Zeitschrift La Otra Alemania/Das Andere Deutschland, die in den 1940er Jahren eine Auflage von 4.000 Exemplaren erreichte. 1952 kehrte Siemsen zunächst in die Bundesrepublik zurück, siedelte im November 1955 schließlich in die DDR über, wo er der SED beitrat. 1958 starb er in Berlin.

Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte wurde am 10. Dezember 1948 in Paris von den Mitgliedern der Vereinten Nationen mit 48 Ja-Stimmen, 0 Gegenstimmen und 8 Enthaltungen verabschiedet. Heute gilt sie als ein historischer Meilenstein. Zum ersten Mal wurden grundlegende Menschenrechte allgemein anerkannt. In 30 Artikeln formuliert die Erklärung gleichwertige, unteilbare, unveräußerliche und universelle Menschenrechte. Obwohl sie juristisch nicht verbindlich ist, bildet sie seit nun 75 Jahren die Grundlage für internationale Verträge sowie nationale Verfassungen und Gesetze, aus denen sich die rechtlichen Sorgfaltspflichten von Staaten zu Wahrung, Schutz und Förderung der Menschenrechte ableiten.

Gleichwohl bedeutet die Tatsache, dass die Erklärung seit 1948 in der Welt ist und durch sie alle Menschen als Träger*innen der in ihr formulierten Rechte gelten, nicht, dass heute auch alle Menschenrechte umgesetzt sind. Kriege und Konflikte, politische Gewalt, Rassismus und Fremdenfeindlichkeit, Diskriminierung von Minderheiten und Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern, Zensur und Unterdrückung der Meinungsfreiheit, Armut und Not auf der ganzen Welt zeugen tagtäglich von ihrer defizitären und weiterhin ausstehenden Umsetzung – auch 75 Jahre nach ihrer Proklamation. Es gilt auch heute, was August Siemsen bereits in seinem Beitrag von 1947 konstatierte:

Jeder kleinste reale Schritt zur Verwirklichung der Menschenrechte, zur Befreiung des Menschen von Hunger und Not, von Ausbeutung und Missbrauch, von Krieg und Kriegsgefahr ist mehr wert als die schönsten Radioreden und die feierlichsten Erklärungen, solange sie nur Worte bleiben.

August Siemsen

Auch die Geschichte des Deutschen Exilarchivs 1933–1945 reicht bis in die frühen Nachkriegsjahre zurück. Seine Entstehung verdankt sich den selben Impulsen und Absichten, die auch der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte zugrunde lagen. Gemeinsam mit exilierten Publizist*innen und Schriftsteller*innen beschloss der erste Direktor der neu gegründeten Deutschen Bibliothek in Frankfurt am Main, Hanns Wilhelm Eppelsheimer, die Einrichtung einer „Bibliothek der Emigrationsliteratur”. Seit seiner Gründung 1949 ist das Deutsche Exilarchiv als Abteilung der Deutschen Nationalbibliothek ein Ort der Auseinandersetzung mit den Themen Flucht und Exil – und damit auch mit den unmittelbaren Folgen von Unrechtserfahrungen und Verletzungen unveräußerlicher und universeller Menschenrechte.  August Siemsen unterstützte das neue gegründete Exilarchiv 1950 übrigens mit der Übersendung von Exemplaren seiner Zeitschrift La Otra Alemania/Das Andere Deutschland zur Aufnahme in die Sammlung.

Anlässlich des 75. Jahrestages der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte durch die Vereinten Nationen am 10. Dezember präsentiert das Exilarchiv die Aktion „Mein Name ist Mensch“ als Intervention in seiner Dauerausstellung „Exil. Erfahrung und Zeugnis“. Die Plakate zeigen die 30 Artikel der UN-Resolution mit visuellen Interpretationen des Grafikers Jochen Stankowski. Die Ausstellung erfolgt im Rahmen der „Kampagne gegen Intoleranz / für Demokratie“ des Stuttgarter Vereins Die AnStifter und läuft vom 8. Dezember 2023 bis zum 18. Februar 2024. Sie kann während der regulären Öffnungszeiten der DNB in Frankfurt bei freiem Eintritt besucht werden.

*Nachweis Beitragsbild auf der Startseite:DNB/Jesko Bender

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