Bestrickende Katalogisierung

4. Oktober 2023
von Jörg Räuber
Historischer Zettelkasten aus Holz mit dem passenden Sicherungsstab.
Katalogkasten des Verleger- und Institutionenkataloges mit Sicherungsstab. Foto: DNB, Jörg Räuber

Ältere Menschen erinnern sich noch, dass die bibliografische Datenbank einer Bibliothek vor dem Einzug der elektronischen Datenverarbeitung in den Alltag aus Zettelkatalogen und Karteien bestand. Lange Reihen von Schränken beherbergten Katalogkästen, die wiederum für jeden Nachweis eines Medienwerkes einen eigenen Katalogzettel enthielten. Damit niemand etwas in den jeweils gut eintausend geordneten Einträgen pro Kasten durcheinanderbringen oder gar Katalogzettel unbefugt entnehmen konnte (auch solches frevelhaftes Verhalten gab es), wurden die am unteren Rand mit einem Loch versehenen Zettel mit einer längs durch den Katalogkasten geschobenen Stange fixiert. Zumeist, aber nicht immer, war diese Stange wiederum gesichert und konnte nur mit einem speziellen Schlüssel gelöst werden.

An dem hölzernen Zettelkasten befindet sich ein Griff und ein Schloss aus Metall.
Front eines Katalogkastens mit gesichertem Stab und passendem Schlüssel. Foto: DNB, Jörg Räuber

Die damalige Deutsche Bücherei führte drei so genannte Hauptkataloge, die den gesamten Bestand repräsentierten: Der Alphabetische Katalog und der Sachkatalog waren öffentlich, sie standen allen Benutzenden zum Recherchieren zur Verfügung. Anhand der auf den Katalogzetteln aufgetragenen Signatur konnten die Werke mittels in einen Briefkasten einzuwerfenden Leihschein bestellt werden. Diese Briefkästen wurden stündlich vom Signierdienst geleert und sortiert. Das stündliche Leeren hat sich bis heute begrifflich erhalten, wenn in der Bestandsverwaltung die turnusmäßigen Portionen aus dem Drucker quellender Bestellungen als „Leerungen“ bezeichnet und gezählt werden.

Der dritte Hauptkatalog, der Verleger- und Institutionenkatalog, war nicht öffentlich zugänglich. Er wurde von der Abteilung Erwerbung in unmittelbarer Nähe zur inventarisierenden Zugangsstelle geführt und diente hier zunächst der schnellen Dublettenkontrolle. Im „VK“ wurden alle Titel nach Verlagen, Firmen, Institutionen, Organisationen usw. geordnet. Auf den Leitkarten zu jeder Körperschaft wurden alle Änderungen wie Verlagsübernahmen, Namenswechsel oder Beendigung der verlegerischen Tätigkeit notiert. Damit war (und ist) dieser Katalog auch ein einmaliges und gut gehütetes Abbild der deutschsprachigen Verlagslandschaft über das 20. Jahrhundert.

Die räumliche Not führte dazu, dass der ältere Teil des Kataloges – wie in allen Katalogen gab es auch hier 1974 den Wechsel vom alten Regelwerk „Preußische Instruktionen“ zu den neuen „Regeln für die alphabetische Katalogisierung (RAK)“ – auf dem Gang im heutigen 1. Obergeschoss im Ostteil des Gebäudes aufgestellt wurde. Damit lag der Katalog an einem zumindest halb öffentlichen Weg, denn nahezu täglich strömten Studierende der Fachschule für Wissenschaftliches Bibliothekswesen zum Hörsaal – und von dort zurück in die Cafeteria oder in die Seminarräume der Fachschule. Diese befand sich im heutigen Erdgeschoss, wo sich heute ein Videokonferenzraum, Arbeitsräume unter anderem des Magazineingangs sowie der Leitstand befinden.

Ein Modetrend in den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts waren grobmaschige Strickwaren. Dafür waren entsprechend dicke Stricknadeln nötig, die wiederum in der DDR schwer aufzutreiben waren. Hier kommt nun unser guter alter Zettelkatalog ins Spiel, der in einigen Modellen zur Sicherung der Katalogzettel einen einfachen, ca. 35 Zentimeter langen Holzstab hatte. Den konnte man ganz einfach herausziehen – und er eignete sich offensichtlich ganz wunderbar für die Strickarbeiten. Und so verschwanden nach und nach immer mehr dieser Holzstäbe und der Katalog blieb mit seinen ungesicherten Zetteln zurück.
Es erwies sich als Pech für eine der Studierenden, dass sie bei einem solchen Diebstahl ertappt wurde. Sie hatte damit auch ihre vorgesehene Übernahme in ein Praktikum und eine anschließende Anstellung in der Deutschen Bücherei verwirkt, hat aber gewiss in einer anderen Bibliothek eine berufliche Zukunft gefunden.

111-Geschichten-Redaktion

Zum 111. Jubiläum haben wir, die Beschäftigten der Deutschen Nationalbibliothek, in Erinnerungen und Archiven gestöbert. Von März bis November präsentieren wir hier 111 Geschichten aus der Deutschen Nationalbibliothek.

*Nachweis Beitragsbild auf der Startseite:Jörg Räuber

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  • ISSN 2751-3238