Visionen „zur Bibliothek der Zukunft“
„No barriers, no censorship!“ oder: „Lesen, schnarchen, Kaffee trinken“
Im Kontext des 111. Geburtstags, den die Deutsche Nationalbibliothek 2023 feiern konnte, haben wir unsere Besucher*innen in unseren beiden Häusern, aber auch auf der DNB-Aktionsfläche der Buchmessen in Leipzig und Frankfurt am Main gefragt, was sie sich von uns Bibliotheken wünschen, welche Visionen sie von der Bibliothek der Zukunft haben, welche Dienstleistungen, Services, Komforts, Angebote, Interaktionen und spielerischen Formate, welche Art Unterhaltung, Austausch und Räume sie bei uns vermissen… Denn unsere Nutzer*innen und Besucher*innen sind die Profis in diesen Fragen!
Und wir sind reich beschenkt worden – mit Anregungen und Ideen, mit Lob und nützlicher Kritik. Natürlich sind die 126 Visionenzettel, die uns erreicht haben/die wir einsammeln konnten, alles andere als statistikfest – die Stichprobe ist zu klein, das Fragesetting zu allgemein gehalten. Aber die Antworten geben interessante Einblicke in die Erwartungshaltung unserer Besucher*innen, vielleicht gerade weil die Umfrage die Strenge einer standardisierten Befragung vermissen lässt.
Visionen im Gespräch
Neben der Abfrage auf den bunten Visionenzetteln, die an den Wänden der Aktionsfläche angeschlagen auch so manche bildliche Vision enthalten, sind wir auf den Buchmessen auch in verschiedenen Gesprächsformaten mit unserem Publikum über das Thema „Zukunft der Bibliothek“ ins Gespräch gekommen: In zwei quicklebendigen und sehr gut besuchten Diskussionsrunden zum Thema konnten wir uns mit den Messebesucher*innen austauschen. Hier stand für uns das Zuhören und Lernen im Zentrum. Profis aus anderen Bibliotheken und Profis in Sachen Lesen, Schreiben und Bücherliebe kamen miteinander ins Gespräch, und wir haben moderiert und die Ohren gespitzt.
Das Themenpanorama sowohl der Gesprächsrunden als auch der „Eingaben“ erstreckte sich vom „Ort Bibliothek“ – dem Wohnzimmer der Städte“ – über Gaming Labs und Datennetze bis hin zum digitalen Zugang zu „allem“ und dem Thema Demokratie – einem Thema, an dem auch die DNB gerade intensiv arbeitet. Und die einfachen Wünsche: „Erzählt mehr von Euch“ und „mehr mehr mehr – zeigen, nicht verstecken!“.
Kernthemen
Welche Themengebiete und Begriffe auf den Visionenzetteln im Einzelnen angesprochen wurden, stellt die Visualisierung dar:
Exemplarisch seien drei Themen herausgegriffen, die für unsere Arbeit besonders fruchtbar erscheinen: Ideen zum Dienstleistungsspektrum, zum Ort und zur gesellschaftlichen Verantwortung.
Dienstleistung:
Zentral scheint den Adressat*innen vor allem der Bildungsaspekt zu sein: Die Vermittlung von Medienkompetenz und der freie Zugang zu Daten und Objekten stehen ebenso auf den Wunschlisten wie der Ruf nach mehr digitalem Aufbruch („Aufbrechen alter Muster“). Aber auch Leihgeräte, Gaming Labs und freundliches Personal werden genannt – der Ort ist immer noch ein Ort von Menschen für Menschen (Bibliotheksarbeit als „Arbeit am Menschen“). Und kostenlos sollte der Zugang zu Bibliotheken unbedingt sein – aus sozialen, aber auch aus … Gründen. Und schließlich spielt Kreativität eine große Rolle: Zusammen etwas auf die Beine stellen, „Geschichten“ anbieten – und damit sind nur Lesungen für Kinder gemeint, sondern auch spannende kuratierte Angebote, die die Bestände aus überraschenden Perspektiven neu zu entdecken erlauben – egal ob digital oder analog. Nicht der einzelne Medientitel, sondern die vernetzten Themen sind der „Honig“ der Bibliotheken: „ein Eintritt in die Welt“ .
Ort:
Die Bibliothek ist Treffpunkt – nicht nur zwischen Mensch und Wissen, sondern zwischen Mensch und Mensch. Der Austausch mit Anderen, die Unterhaltung haben eine große Bedeutung: Die Bibliothek soll ein Ort sein, der „Menschen zusammenbringt“. Daher spielt die Raumatmosphäre eine wichtige Rolle: Wohlfühlen ist kein Luxus, sondern zentrales Merkmal einer funktionierenden Schreib-, Lern-, Lese- (und Lebens-)umgebung. Die „magische Seite des Ortes“ Bibliothek hat ihr Pendant in Design und Möblierung, in Licht und Farben.
Hier kommen „Hängesessel“ und „Geräuschkulissen“ ins Gespräch, in denen „Entspannung“ gefunden werden kann. Die Forderung nach Diversität zielt auf Barrierefreiheit, aber auch auf eine Modularisierung von Raumbedarfen und Aufenthaltsbedürfnissen. Die Bibliothek soll, so schreibt es uns jemand ins Pflichtenheft, ein „Treffpunkt für Träumer [sein], die die Welt zum Positiven weiterentwickeln“ – und sei es auch „tanzend“. Besonders schöne Visionen sind auch: Die Bibliothek als „Ort für alle, aber nicht für alles“, als „Eintritt in die Welt“ oder – ganz einfach: „Lesen, schnarchen, Kaffee trinken“.
Gesellschaftliche Verantwortung:
Unsere Besucher*innen sprechen sich auch dafür aus, die Bibliothek als Ort der Aushandlung gesellschaftlicher Fragestellungen zu verstehen. In Zeiten gesellschaftlicher Spannungen und dem Erstarken extremistischer, rassistischer und menschenverachtender Tendenzen hat die Bibliothek als „Ort der Demokratie“ eine besondere Verantwortung für die Gesellschaft.
Oft fällt der Begriff „Öffnung“ auch für gesellschaftliche Randgruppen. „Kultur und Bildung als Fundamente unserer Demokratie“ müssen allen zugänglich sein: „A library for everyone! No barriers, no censorship!“. Dabei gilt es „Verantwortung“ zu übernehmen „nicht nur für die Vergangenheit, sondern auch für die Zukunft“. Ein besonders eindrücklicher und eindringlicher Appell: „Nicht mehr fliehen müssen, sondern ankommen.“
Die Grenzen verwischen
Dies sind nur einige der Themen, die unsere Besucher*innen uns mitgegeben haben. Auch wenn wir natürlich nicht jeden Faden, jede Idee und Anregung aufnehmen möchten, können, sollten, so weisen die Stimmen – in zum Teil beeindruckend poetischer Kraft – doch auf für die Deutsche Nationalbibliothek zentrale Themen hin, die sich auch in unseren strategischen Überlegungen spiegeln. Dass bei den Visionen unserer Besucher*innen die starren Grenzen zwischen wissenschaftlicher Bibliothek, Universalbibliothek und Öffentlicher Bibliothek zum Teil verwischt sind, liegt dabei durchaus im Trend der Diskussionen um den Platz und die Wirksamkeit der Bibliothek in der Gesellschaft, die sich auch im soziologischen Konzept des „Dritten Ortes“ niederschlägt.
Besonders aber freut sich die Deutsche Nationalbibliothek über einen Satz: „Ihr seid so toll, dass ich meine Vision vorübergehend vergessen habe.“